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Verjährung von Urlaubsansprüchen – Beginn Verjährung erst nach Hinweis durch Arbeitgeber

Europäischer Gerichtshof – Az.: C-120/21 – Urteil vom 22.09.2022

„Vorlage zur Vorabentscheidung ‒ Sozialpolitik ‒ Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer ‒ Arbeitszeitgestaltung ‒ Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ‒ Richtlinie 2003/88/EG ‒ Art. 7 ‒ Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ‒ Finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses ‒ Dreijährige Verjährungsfrist ‒ Beginn ‒ Angemessene Unterrichtung des Arbeitnehmers“

In der Rechtssache C‑120/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. September 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Februar 2021, in dem Verfahren

……………

Lesen Sie auch unseren Beitrag: Urlaubsanspruch bei Verjährung – Das sagt das EuGH.

Urteil

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TO, einer Arbeitnehmerin, und ihrem Arbeitgeber LB über eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Richtlinie 2003/88 heißt es:

„(4) Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.

(5)       Alle Arbeitnehmer sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. …“

Art. 7 („Jahresurlaub“) dieser Richtlinie lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2)      Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

Deutsches Recht

Die allgemeinen Vorschriften über die Verjährung von Ansprüchen zwischen Privaten sind in Buch 1 („Allgemeiner Teil“) Abschnitt 5 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (im Folgenden: BGB) geregelt. Abschnitt 5 enthält die §§ 194, 195 und 199 BGB. In ihnen werden Gegenstand, Frist bzw. Beginn der regelmäßigen Verjährungsfrist festgelegt.

§ 194 Abs. 1 BGB bestimmt:

„Das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (Anspruch), unterliegt der Verjährung.

…“

§ 195 BGB sieht vor:

„Die regelmäßige Verjährungsfrist beträgt drei Jahre.

…“

§ 199 Abs. 1 BGB lautet wie folgt:

„Die regelmäßige Verjährungsfrist beginnt, soweit nicht ein anderer Verjährungsbeginn bestimmt ist, mit dem Schluss des Jahres, in dem

1.      der Anspruch entstanden ist und

2.      der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.“

Nach § 204 BGB wird die Verjährung durch Erhebung einer Klage gehemmt.

§ 1 („Urlaubsanspruch“) des Mindesturlaubsgesetzes für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: BUrlG) lautet:

„Jeder Arbeitnehmer hat in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub.

…“

§ 7 Abs. 3 und 4 BUrlG bestimmt:

„(3) Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeitnehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entstehender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalenderjahr zu übertragen.

(4) Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

TO war vom 1. November 1996 bis zum 31. Juli 2017 bei LB beschäftigt.

Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte TO von LB für die von ihr zwischen 2013 und 2017 nicht genommenen 101 Tage bezahlten Jahresurlaubs eine finanzielle Vergütung.

Urlaubsanspruch bei Verjährung – Das sagt das EuGH
(Symbolfoto: TippaPatt/Shutterstock.com)

LB lehnte es ab, TO den Jahresurlaub abzugelten. Der von TO am 6. Februar 2018 erhobenen Klage wurde im ersten Rechtszug teilweise stattgegeben. Demnach wurde TO eine Abgeltung für drei im Jahr 2017 nicht genommene Tage bezahlten Jahresurlaubs gewährt. Hinsichtlich der Ansprüche, die sich auf die für die Jahre 2013 bis 2016 nicht genommenen Tage bezahlten Jahresurlaubs beziehen, wurde die Klage hingegen abgewiesen.

Gegen diese Entscheidung legte TO Berufung beim Landesarbeitsgericht Düsseldorf (Deutschland) ein. Dieses entschied, dass TO für den im Zeitraum von 2013 bis 2016 nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub Anspruch auf Abgeltung von 76 weiteren Tagen habe. LB habe nicht dazu beigetragen, dass TO ihren Urlaub für diese Jahre zur gebotenen Zeit habe nehmen können, so dass ihre Ansprüche nicht erloschen und auch nicht nach den allgemeinen Verjährungsvorschriften der §§ 194 ff. BGB verjährt seien.

Gegen diese Entscheidung legte LB Revision beim Bundesarbeitsgericht (Deutschland) ein. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, nach § 7 Abs. 3 BUrlG seien die Ansprüche von TO für die Jahre 2013 bis 2016 nicht erloschen, weil LB TO nicht in die Lage versetzt habe, ihren bezahlten Jahresurlaub tatsächlich zur gebotenen Zeit zu nehmen. Unter Heranziehung des Urteils vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874), wonach der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dazu auffordern müsse, seinen Urlaub zu nehmen, und ihn über das mögliche Erlöschen seines Anspruchs informieren müsse, sei dem Abgeltungsbegehren von TO daher grundsätzlich stattzugeben.

Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass LB eine Einrede der Verjährung nach § 194 BGB erhoben hat. Nach § 195 und § 199 BGB verjähren die Ansprüche eines Gläubigers drei Jahre nach dem Schluss des Jahres, in dem sein Anspruch entstanden ist.

Müsste das Bundesarbeitsgericht diese allgemeine Verjährungsregel anwenden, hätte dies zur Folge, dass der Arbeitgeber, der insofern seinen Pflichten nicht nachgekommen sei, als er den Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt habe, seinen bezahlten Urlaub tatsächlich zu nehmen, sich seiner Pflichten entzöge und dass er von dieser Situation finanziell profitieren würde.

Das vorlegende Gericht führt aus, dem Urteil vom 16. Juli 2020, Caixabank und Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (C‑224/19 und C‑259/19, EU:C:2020:578), lasse sich entnehmen, dass das Unionsrecht der Anwendung von Verjährungsfristen nicht entgegenstehe, soweit sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machten oder übermäßig erschwerten.

Da eine nationale Regelung, der zufolge die Übertragung der vom Arbeitnehmer erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub einer Beschränkung unterliegen könne oder diese Ansprüche erlöschen könnten, zum einen ein Verhalten billige, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führe, und zum anderen dem Ziel des Schutzes der Gesundheit des Arbeitnehmers zuwiderlaufe, zweifelt das vorlegende Gericht an der Vereinbarkeit der in den §§ 194 ff. BGB vorgesehenen Verjährungsregel mit dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten Anspruch.

Unter diesen Umständen hat das Bundesarbeitsgericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stehen Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Anwendung einer nationalen Regelung wie § 194 Abs. 1 in Verbindung mit § 195 BGB entgegen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub einer regelmäßigen Verjährungsfrist von drei Jahren unterliegt, deren Lauf unter den in § 199 Abs. 1 BGB genannten Voraussetzungen mit dem Schluss des Urlaubsjahres beginnt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben?

Zur Vorlagefrage

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer für einen Bezugszeitraum erworben hat, nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, deren Lauf mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem dieser Anspruch entstanden ist, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen.

Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind. Nach Art. 7 Abs. 2 darf der Mindestjahresurlaub außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.

Wie sich schon aus dem Wortlaut von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ist es damit Sache der Mitgliedstaaten, in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Voraussetzungen für die Wahrnehmung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen und dabei die konkreten Umstände zu bezeichnen, unter denen die Arbeitnehmer diesen Anspruch geltend machen können (Urteil vom 6. November 2018, Kreuziger, C‑619/16, EU:C:2018:872, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Dies hat der Gerichtshof dahin präzisiert, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 grundsätzlich einer nationalen Regelung, die für die Wahrnehmung des mit dieser Richtlinie ausdrücklich verliehenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub Modalitäten vorsieht, die sogar den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums umfassen, unter der Voraussetzung nicht entgegensteht, dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch wahrzunehmen (Urteil vom 6. November 2018, Kreuziger, C‑619/16, EU:C:2018:872, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Aufgrund einer kontextbezogenen Betrachtung und in Anbetracht der mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verfolgten Ziele wurde demnach entschieden, dass bei Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers während mehrerer aufeinanderfolgender Bezugszeiträume Art. 7 der Richtlinie 2003/88 nationalen Bestimmungen oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf Jahresurlaub erlischt, und die dadurch die Ansammlung der Ansprüche auf Jahresurlaub beschränken (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 44).

Zur Begründung hierfür wurde nicht nur der Schutz des Arbeitnehmers angeführt, sondern auch der Schutz des Arbeitgebers vor der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen und den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 38 und 39).

Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 darf somit nur unter „besonderen Umständen“ eingeschränkt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2017, King, C‑214/16, EU:C:2017:914, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass der Revisionsbeklagten des Ausgangsverfahrens entgegengehalten werden könnte, ihr Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub sei nach der allgemeinen Verjährungsregel des § 195 BGB verjährt.

Mithin stellt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung eine Beschränkung auf, der die Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub unterliegt, der der Revisionsbeklagten des Ausgangsverfahrens nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 zusteht; diese Beschränkung folgt aus der Anwendung der nationalen Verjährungsregelung.

In der Richtlinie selbst wird die Verjährung dieses Anspruchs indessen nicht geregelt.

Da das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht nur um Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, sondern damit verbunden auch um Auslegung von Art. 31 Abs. 2 der Charta ersucht, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub widerspiegelt und konkretisiert. Denn während die letztgenannte Bestimmung jeder Arbeitnehmerin und jedem Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub garantiert, setzt die erstgenannte Vorschrift diesen Grundsatz um, indem sie die Dauer des Jahresurlaubs festlegt (Urteil vom heutigen Tag, Fraport, C‑518/20 und C‑727/20, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

Zum anderen kommt dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union besondere Bedeutung zu; auch ist er in Art. 31 Abs. 2 der Charta, die nach Art. 6 Abs. 1 EUV den gleichen rechtlichen Rang wie die Verträge hat, ausdrücklich verankert (Urteil vom heutigen Tag, Fraport, C‑518/20 und C‑727/20, Rn. 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

Wie sich aus Rn. 30 des vorliegenden Urteils ergibt, bewirkt die regelmäßige Verjährung nach § 195 BGB, dass die Wahrnehmung des Anspruchs der Revisionsbeklagten des Ausgangsverfahrens auf bezahlten Jahresurlaub aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88 einer Einschränkung unterliegt.

Folglich liegt in der Anwendung der Vorschrift über die regelmäßige Verjährung auf die Ansprüche der Revisionsbeklagten des Ausgangsverfahrens auch eine Einschränkung des Rechts, das ihr Art. 31 Abs. 2 der Charta zuerkennt.

In der Charta verankerte Grundrechte dürfen nur unter Einhaltung der in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen strengen Bedingungen eingeschränkt werden, d. h., diese Einschränkungen müssen gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des betreffenden Rechts achten sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und von der Europäischen Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen (Urteil vom heutigen Tag, Fraport, C‑518/20 und C‑727/20, Rn. 33).

Im vorliegenden Fall ist erstens die Einschränkung, der die Ausübung des in Art. 31 Abs. 2 der Charta geregelten Grundrechts unterliegt und die aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verjährungsfrist folgt, gesetzlich vorgesehen, nämlich in § 195 BGB.

Zweitens stellt sich die Frage, ob durch die Anwendung dieser Verjährungsregel das Recht auf bezahlten Jahresurlaub in seinem Wesensgehalt angetastet wird.

Nach § 195 BGB kann dem Arbeitnehmer die Verjährung der Ansprüche, die er aufgrund seines Rechts auf bezahlten Jahresurlaub für einen bestimmten Zeitraum erworben hat, erst nach einem Zeitraum von drei Jahren entgegengehalten werden. Außerdem beginnt der Lauf dieser Verjährungsfrist nach § 199 BGB erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Arbeitnehmer von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person seines Arbeitgebers Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste.

Daraus folgt, dass die aufgrund der Einrede des Arbeitgebers erfolgende Anwendung der Vorschrift des nationalen Rechts über die regelmäßige Verjährung insofern den Wesensgehalt des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub nicht antastet, als sie, sofern der Arbeitnehmer von den seinen Anspruch begründenden Umständen und der Person seines Arbeitgebers Kenntnis erlangt hat, die Möglichkeit für den Arbeitnehmer, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub geltend zu machen, lediglich einer zeitlichen Begrenzung von drei Jahren unterwirft.

Drittens hat die deutsche Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen zu der Frage, ob die Einschränkungen für die Ausübung des in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten Rechts auf bezahlten Jahresurlaub, die sich aus der Anwendung der in § 195 BGB vorgesehenen Verjährung ergeben, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels erforderlich ist, klargestellt, dass diese Bestimmung des BGB als allgemeine Verjährungsregelung ein legitimes Ziel verfolge, nämlich die Gewährleistung der Rechtssicherheit.

Insbesondere dürfe der Arbeitgeber nicht auf der Grundlage eines mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbenen Anspruchs mit einem Antrag auf Urlaub oder finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub konfrontiert werden. Außerdem entstehe durch diese Vorschrift ein Anreiz für den Arbeitnehmer, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub spätestens drei Jahre nach dessen Entstehung wahrzunehmen, was mithin zur Verwirklichung des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 zugrunde liegenden Erholungszwecks beitrage.

Was das Ausgangsverfahren betrifft, ist erstens darauf hinzuweisen, dass TO, wie sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, von ihrem Arbeitgeber nicht tatsächlich in die Lage versetzt wurde, ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen.

Da der Arbeitnehmer nämlich als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, sollte die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, nicht vollständig auf den Arbeitnehmer verlagert werden, während der Arbeitgeber damit eine Möglichkeit erhielte, sich seiner eigenen Pflichten unter Berufung auf einen fehlenden Antrag des Arbeitnehmers auf bezahlten Urlaub zu entziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, C‑684/16, EU:C:2018:874, Rn. 41 und 43).

Daraus folgt, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums nur unter der Voraussetzung verloren gehen kann, dass der betreffende Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, diesen Anspruch rechtzeitig auszuüben.

Zweitens ist vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht hervorzuheben, dass die Einrede der Verjährung nicht von Amts wegen beachtet, sondern gemäß § 214 Abs. 1 BGB vom Schuldner der vom Gläubiger geltend gemachten Forderung erhoben wird.

Im Ausgangsverfahren erhebt somit LB als Arbeitgeber von TO gegen den von TO geltend gemachten Anspruch die Einrede der Verjährung.

Die Gewährleistung der Rechtssicherheit darf jedoch nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich der Arbeitgeber auf sein eigenes Versäumnis, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben, beruft, um daraus im Rahmen der auf diesen Anspruch gestützten Klage des Arbeitnehmers einen Vorteil zu ziehen, indem er einredeweise die Anspruchsverjährung geltend macht.

Zum einen könnte sich der Arbeitgeber nämlich in einem solchen Fall seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten entziehen.

Dies erschiene umso weniger hinnehmbar, als es bedeuten würde, dass der Arbeitgeber, der sich somit wirksam auf die Verjährung des Anspruchs des Arbeitnehmers auf Jahresurlaub berufen könnte, während dreier aufeinanderfolgender Jahre davon abgesehen hätte, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, diesen Anspruch tatsächlich wahrzunehmen.

Zum anderen kommt es dem Arbeitgeber zugute, wenn der Anspruch des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub verjährt ist.

Ließe man aber zu, dass sich der Arbeitgeber auf die Verjährung der Ansprüche des Arbeitnehmers berufen kann, ohne ihn tatsächlich in die Lage versetzt zu haben, diese Ansprüche wahrzunehmen, würde man unter diesen Umständen im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des Arbeitgebers führt und dem eigentlichen von Art. 31 Abs. 2 der Charta verfolgten Zweck, die Gesundheit des Arbeitnehmers zu schützen, zuwiderläuft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2017, King, C‑214/16, EU:C:2017:914, Rn. 64).

Es ist zwar richtig, dass der Arbeitgeber ein berechtigtes Interesse daran hat, nicht mit Anträgen auf Urlaub oder finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub konfrontiert werden zu müssen, die auf mehr als drei Jahre vor Antragstellung erworbene Ansprüche gestützt werden. Dieses Interesse ist indes dann nicht mehr berechtigt, wenn der Arbeitgeber sich dadurch, dass er davon abgesehen hat, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen, selbst in eine Situation gebracht hat, in der er mit solchen Anträgen konfrontiert wird und aus der er zulasten des Arbeitnehmers Nutzen ziehen könnte; dies wird das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren zu prüfen haben.

Eine solche Situation ist nämlich nicht mit derjenigen vergleichbar, für die der Gerichtshof, wenn die längere Abwesenheit des Arbeitnehmers auf eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit zurückzuführen ist, ein berechtigtes Interesse des Arbeitgebers daran anerkannt hat, sich nicht der Gefahr einer Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiträumen und den Schwierigkeiten gegenüberzusehen, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2011, KHS, C‑214/10, EU:C:2011:761, Rn. 38 und 39).

In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ist es Sache des Arbeitgebers, gegen späte Anträge wegen nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs dadurch Vorkehrungen zu treffen, dass er seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachkommt, womit die Rechtssicherheit gewährleistet wird, ohne dass das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht eingeschränkt würde.

In Anbetracht dessen ist festzustellen, dass es, wenn ein Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen in einem Bezugszeitraum erworbenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen, über dasjenige hinausgeht, was zur Gewährleistung der Rechtssicherheit erforderlich ist, wenn auf die Ausübung dieses in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten Anspruchs die in § 195 BGB vorgesehene regelmäßige Verjährung Anwendung findet.

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer für einen Bezugszeitraum erworben hat, nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, deren Lauf mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem dieser Anspruch entstanden ist, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen.

Kosten

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, den ein Arbeitnehmer für einen Bezugszeitraum erworben hat, nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, deren Lauf mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem dieser Anspruch entstanden ist, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen.

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