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Wirksamkeit betriebsbedingte Kündigung wegen Betriebsstilllegung – Massenentlassungsanzeige

Landesarbeitsgericht Niedersachsen – Az.: 4 Sa 1271/10 – Urteil vom 07.04.2011

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 30. März 2010 – 13 Ca 581/09 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit zweier betriebsbedingter Kündigungen.

Der am 0.0.1949 geborene Kläger ist seit dem 1. November 1971 bei der Beklagten als Kfz-Mechaniker mit einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt in Höhe von 2.487,85 € beschäftigt. Die Beklagte betrieb A-Stadt ein Autohaus. Dort wurden Pkw’s und Nutzfahrzeuge der Marken Audi, Skoda und VW vertrieben. Darüber hinaus bot die Beklagte Service- und Reparaturarbeiten für Kraftfahrzeuge aller Art an.

Mit dem nachfolgenden Schreiben vom 19. August 2009 unterrichtete die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat über ihre Entscheidung, den Betrieb des Autohauses zum 31. Dezember 2009 zu schließen und stillzulegen.

„… leider sind wir gezwungen, unseren Betrieb in A-Stadt per 31.12.2009 stillzulegen. Trotz intensiver Bemühungen ist es nicht gelungen, den Betrieb wirtschaftlich zu führen. Wegen der Einzelheiten dürfen wir auf das als Anlage beiliegende unternehmerische Konzept nebst Anlagen 1 und 2 verweisen.

Beigefügt als Anlage ist ebenfalls der Entwurf eines Interessenausgleiches. Wir bedauern, dass eine andere Entscheidung nicht möglich war. Eine Alternative zur Betriebsstilllegung besteht jedoch nicht. Insbesondere gibt es keine Möglichkeit, die hohen Verluste in der Vergangenheit in Zukunft aufzufangen und kostendeckend zu arbeiten, das heißt höhere Einnahmen herbeizuführen. Resultat ist der Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen gegenüber sämtlichen Arbeitnehmern des Betriebes.

…“

Dem Schreiben war als Anlage neben dem Entwurf eines Interessausgleichs u. a. ein als „unternehmerische Entscheidung“ bezeichnetes Schreiben der Beklagten vom 19. August 2009 nebst Anlagen beigefügt.

Unter dem 19. August 2009 erstattete die Beklagte bei der Bundesagentur für Arbeit die Anzeige von Entlassungen gem. § 17 KSchG. In der Anzeige gab sie an, den Betriebsrat gem. § 17 Abs. 2 KSchG über die Entlassungen schriftlich unterrichtet zu haben und eine Abschrift der Mitteilung beizufügen. Im Nachgang zu einem Telefonat vom 25. August 2009 richtete der Prozessbevollmächtigte der Beklagten am 4. September 2009 ein Schreiben an die Bundesagentur für Arbeit B-Stadt, in dem es auszugsweise heißt:

„… Sie baten um die Übermittlung weiterer Daten, die wir Ihnen hiermit zukommen lassen. Wir gehen nunmehr davon aus, dass Sie die Massenentlassungsanzeige mit der Vervollständigung wirksam bei Ihnen eingegangen ist.

Sie fragten nach dem Kündigungstermin. Die Kündigungen werden bis spätestens 15.10.2009 ausgesprochen werden. Dieser Tag ist der letzte Tag, an dem die Kündigungen ausgesprochen werden.

Weiter kann ich Ihnen bezüglich der Kündigungsfristen mitteilen, dass es sich um die gesetzlichen Kündigungsfristen handelt. Wir hatten bereits eine Liste mit der Angabe der Betriebszugehörigkeit eingereicht. In Verbindung mit den Kündigungsfristen des BGB ergeben sich die Kündigungsfristen der Mitarbeiter. Die längste Kündigungsfrist beträgt demnach sieben Monaten zum Ende eines Kalendermonats. Bei einem Ausspruch der Kündigung am 15.10.2009 würde die Kündigungsfrist am 31.05.2010 auslaufen.

Hinsichtlich der Stellungnahme des Betriebsrates gilt folgendes: Eine Stellungnahme des Betriebsrates liegt bisher noch nicht vor. Allerdings dürfen wir in diesem Zusammenhang auf § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG verweisen. Liegt eine Stellungnahme des Betriebsrates nicht vor, so ist die Anzeige wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach Abs. 2 S. 1 unterrichtet hat, und den Stand der Beratung darlegt. Der Betriebsrat wurde am 19.08.2009 über die Betriebsstilllegung und die damit verbundenen Entlassungen informiert. Das Informationsschreiben datiert vom 19.08.2009 und ist dem Betriebsrat am selben Tage zugegangen. Dieses Schreiben legen wir als Anlage in Ablichtung zur Glaubhaftmachung bei.

Weiter können wir Ihnen diesbezüglich mitteilen, dass am 02.09.2009 ein zusätzliches Unterrichtungsgespräch stattgefunden hat, welches die vorliegenden Informationen vertieft hat. Dabei ging es auch um die Verhandlung zu einem Sozialplan. Insgesamt wurde der Betriebsrat allerdings – wie gesagt – schon am 19.08.2009 vollumfänglich über die geplanten Betriebsstilllegungen und Entlassungen informiert. Die 2-Wochen-Frist des § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG ist daher nun abgelaufen. Es liegt unseres Erachtens eine wirksame Massenentlassungsanzeige vor.

…“

Unter dem 23. September 2009 erteilte die Bundesagentur für Arbeit ihre Zustimmung zu den anzeigepflichtigen Entlassungen. Am 25. September 2009 vereinbarte die Beklagte mit dem bei ihr gebildeten Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste sowie einen Sozialplan.

Mit Schreiben vom 28. September 2009 sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger die Kündigung zum 30. April 2010 aus. Gegen die Kündigung erhob der Kläger am 7. Oktober 2009 Kündigungsschutzklage, in der er auf die beantragte Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen hinwies. Die Beklagte beantragte daraufhin mit Schreiben vom 16. Oktober 2009 die Zustimmung des Integrationsamtes zu einer beabsichtigten weiteren Kündigung. Mit Bescheid vom 23. November 2009 stellte das Integrationsamt fest, dass mit Ablauf des 16. November 2009 die Fiktion der Zustimmung eingetreten sei und die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung gem. § 88 Abs. 5 Satz 2 SGB IX als erteilt gelte. Mit Schreiben vom 27. November 2009 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut zum 30. Juni 2010. Gegen diese Kündigung wandte sich der Kläger mit der am 7. Dezember 2009 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klagerweiterung.

Der Kläger hat die Kündigung vom 28. September 2009 für unwirksam gehalten, weil die Beklagte die Massenentlassung nicht ordnungsgemäß angezeigt habe. Das Schreiben der Beklagten vom 19. August 2010 stelle keine ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrates gem. § 17 Abs. 2 KSchG dar. Es enthalte keine Angaben über den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, keine Angaben zu den vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer und schließlich keine Angaben zu den für die Berechnung etwaiger Abfindung vorgesehenen Kriterien. Der Zeitraum für die geplanten Entlassungen sei auch nicht in dem weiteren Informationsgespräch am 2. September 2010, sondern erst wenig später, nämlich erst wenige Tage vor Abschluss des Interessenausgleichs vom 25. September 2010, festgelegt worden.

Der Kläger hat bestritten, dass der Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung vom 27. November 2009 ordnungsgemäß angehört worden ist.

Der Kläger hat beantragt festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigungen der Beklagten vom 28. September 2009 und 27. November 2009 nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, die von ihr erstattete Massenentlassungsanzeige habe den gesetzlichen Vorgaben entsprochen. Sie sei demnach ordnungsgemäß erfolgt. Die Kündigungsfristen der einzelnen Arbeitnehmer seien dem Betriebsrat hinreichend bekannt gewesen. Eine Mitteilung der sozialen Auswahlkriterien an den Betriebsrat sei nicht erforderlich gewesen. Sie habe eine Betriebsstilllegung beabsichtigt und die Betriebsstilllegung auch zum 31. Dezember 2009 umgesetzt. Bei einer Betriebsstilllegung sei eine Sozialauswahl obsolet. Der Betriebsrat sei auch über die von ihr beabsichtigten Berechnungskriterien für die Abfindungen bzw. über das zur Verfügung stehende Sozialplanvolumen hinreichend informiert gewesen. Schließlich führe eine Nichtinformation des Betriebsrats über die Berechnungskriterien der Abfindung auch nicht zu einer Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung. Die Beklagte hat gemeint, die Betriebsratsanhörung sei jederzeit ordnungsgemäß gewesen. Der Betriebsrat sei über die Hintergründe der Betriebsstilllegung hinreichend informiert gewesen. Er habe gewusst, dass die anstehenden Kündigungen betriebsbedingter Natur gewesen seien. Auch habe der Betriebsrat Kenntnis von jeglichen Sozialdaten aller im Betrieb in A-Stadt beschäftigten Arbeitnehmer gehabt.

Das Arbeitsgericht hat der Klage durch Urteil vom 30. März 2010 stattgegeben. Gegen das ihr am 2. August 2010 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 16. August 2010 Berufung eingelegt und sie nach Verlängerung der Begründungsfrist am 1. November 2010 begründet.

Die Beklagte hält an ihrer Rechtsauffassung fest, dass die Massenentlassungsanzeige den gesetzlichen Vorgaben und damit § 17 KSchG entsprochen habe. Einzig eine Stellungnahme des Betriebsrates habe sie der Agentur für Arbeit nicht eingereicht. Die Nichteinreichung sei aber gem. § 17 Abs. 3 S. 3 KSchG unschädlich, soweit der Arbeitgeber glaubhaft mache, den Betriebsrat mindestens 2 Wochen vor Erstattung der Anzeige gem. § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG unterrichtet zu haben.

Die Betriebsratsanhörung – so meint die Beklagte – sei jederzeit ordnungsgemäß gewesen. Daran ändere auch der späte Zeitpunkt einiger Kündigungen gegenüber den Arbeitnehmern nichts.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 30. März 2010 – 13 Ca 581/09 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil nach Maßgabe seiner Berufungserwiderung vom 29. Dezember 2010 als zutreffend und hält an seiner Rechtsauffassung fest, eine rechtswirksame Massenentlassungsanzeige liege nicht vor. Die Massenentlassungsanzeige sei vor Abschluss des Interessenausgleichs/Sozialplans erfolgt. Die Beklagte habe daher die Massenentlassung schon vor Ende des Konsultationsverfahrens im Sinne des Art. 2 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Massenentlassungen vorgenommen. Bei richtlinienkonformem Verständnis des § 17 KSchG sei die Massenentlassungsanzeige bereits unter diesem Gesichtspunkt unwirksam, weil die unionsrechtlich gebotene Einhaltung der Reihenfolge von Abschluss des Konsultationsverfahrens und erst anschließender Erstattung der Massenentlassungsanzeigen nicht eingehalten worden sei.

Das Schreiben der Beklagten vom 19. August 2010 stelle zudem keine ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats gem. § 17 Abs. 2 KSchG dar. Der Zeitraum für die geplanten Entlassungen habe sich erst wenige Tage vor Abschluss des Interessenausgleichs herausgestellt. Das Gleiche gelte für die Berechnungskriterien der Abfindung.

Hinsichtlich der Kündigung vom 27. November 2009 habe (unstreitig) überhaupt keine Betriebsratsanhörung stattgefunden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der zu den Akten gereichten Schriftsätze und deren Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

II.

Die Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist weder durch die Kündigung der Beklagten vom 28. September 2009 noch durch die Kündigung vom 27. November 2009 aufgelöst worden. Die Beklagte hat vor Erklärung der Kündigung vom 28. September 2009 keine ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige nach § 17 KSchG erstattet. Die Kündigung vom 27. November 2009 ist wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats gem. § 102 BetrVG unwirksam.

1. Die Beklagte hat die Massenentlassung gegenüber der Bundesagentur für Arbeit nach § 17 Abs. 3 Satz 2 und 3 KSchG fehlerhaft angezeigt. Gem. § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 KSchG ist ein Arbeitgeber verpflichtet, der Agentur für Arbeit Anzeige zu erstatten, bevor er in Betrieben mit in der Regel mindestens 60 und weniger als 500 Arbeitnehmern 10 vom Hundert der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 30 Arbeitnehmer innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Diese Voraussetzungen waren bei der Kündigung vom 28. September 2009 erfüllt. Unter Entlassung iSv. § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist bei unionsrechtskonformer Auslegung unter Beachtung der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (künftig: MERL) (ABl. EG Nr. L 225 vom 12. August 1998 S. 16) die Erklärung der Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu verstehen (BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – AP § 17 KSchG 1969 Nr. 21). Davon ausgehend war – was auch die Beklagte nicht in Zweifel zieht – die Kündigung vom 28. September 2009 anzeigepflichtig.

Der an die Agentur für Arbeit zu erstattenden Anzeige ist die Stellungnahme des Betriebsrates zu den Entlassungen beizufügen, § 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG. Liegt eine Stellungnahme des Betriebsrates nicht vor, so ist die Anzeige wirksam, wenn der Arbeitgeber glaubhaft macht, dass er den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach Absatz 2 Satz 1 KSchG unterrichtet hat und er den Stand der Beratungen darlegt, § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG. Die Beifügung der Stellungnahme des Betriebsrat ist ein Teil der Anzeige und damit Wirksamkeitsvoraussetzung (von Hoyningen-Huene/Linck, 14. Aufl., § 17 KSchG, Rn. 88). Dies ergibt sich zwingend im Rückschluss aus § 17 Abs. 3 KSchG. Die Anzeige ist ausweislich Satz 3 ohne eine Stellungnahme des Betriebsrats nur wirksam, wenn der Arbeitgeber die in Satz 3 geregelten Voraussetzungen erfüllt. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Anzeige ohne Stellungnahme des Betriebsrats nicht wirksam ist, es sei denn, dass der Arbeitgeber gemäß der mit Satz 3 aufgezeigten Alternative vorgeht.

Unstreitig hat die Beklagte der Massenentlassungsanzeige vom 19. August 2009 keine Stellungnahme des Betriebsrats beigefügt. Sie konnte ihrer oben beschriebenen Verpflichtung zu diesem Zeitpunkt nicht nachkommen, weil sie den Betriebsrat mit Schreiben vom selben Tag (19. August 2009) erstmals über ihre unternehmerische Entscheidung unterrichtet hat, den Betrieb zum 31.12.2009 stillzulegen.

Fehlte mithin eine Stellungnahme des Betriebsrats, so hatte die Beklagte nach § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG glaubhaft zu machen, dass sie den Betriebsrat mindestens zwei Wochen vor Erstattung der Anzeige nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG unterrichtet hat, und den Stand der Beratungen darzulegen. Dieser ihr obliegenden Verpflichtung ist die Beklagte nicht dadurch nachgekommen, dass sie der Bundesagentur für Arbeit als Anlage zu ihrer Anzeige vom 19.08.2009 eine Abschrift des Schreibens an den Betriebsrat vom selben Tag beigefügt hat. Denn das Schreiben der Beklagten an den Betriebsrat stellte keine ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats gem. § 17 Abs. 2 KSchG dar. Es enthielt keine Angaben über den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollten, § 17 Abs. 2 Nr. 4 KSchG, und keine Angaben zu den für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien. Das Bundesarbeitsgericht lässt es zur Einhaltung der Unterrichtungspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 KSchG zwar genügen, dass der Arbeitgeber darauf verweist, dass sich die Kriterien für die Berechnung der Abfindungen aus einem noch abzuschließenden Sozialplan ergeben (BAG 18. 9. 2003 – 2 AZR 79/02 – AP KSchG 1969 § 17 Nr. 14; BAG 30. 3. 2004 1 AZR 7/03 – AP BetrVG 1972 § 113 Nr. 47). Einen entsprechenden Hinweis enthält die Unterrichtung des Betriebsrats vom 19.08.2009 nicht. Das Erfordernis, dem Betriebsrat den Zeitraum mitzuteilen, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG, hat die Beklagte ebenfalls nicht erfüllt. Sie hat zwar der Bundesagentur für Arbeit mit Schreiben vom 04.09.2009, hingegen nicht dem Betriebsrat mitgeteilt, die Kündigungen sollten „bis spätestens 15.10.2009“ ausgesprochen werden. Der Prozessbevollmächtigte der Beklagten hat die ordnungsgemäße Unterrichtung des Betriebsrats gegenüber der Bundesagentur für Arbeit auch nicht in seinem Schreiben an die Bundesagentur für Arbeit vom 04. September 2009 nachgewiesen. Darin hat er lediglich mitgeteilt, dass am 02.09.2009 ein zusätzliches Unterrichtungsgespräch stattgefunden habe, das „die vorliegenden Informationen vertieft“ habe. Dabei sei es auch um „die Verhandlung zu einem Sozialplan“ gegangen.

2. Die Kündigung der Beklagten ist ferner wegen Verstoßes gegen § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG in Verbindung mit der Richtlinie des Rates 98/59/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen vom 20. Juli 1998 (ABl. Nr. L 225/16 Massenentlassungsrichtlinie) unwirksam, weil die Beklagte die Anzeige der Massenentlassung vor dem Ende der Beratungen erstattet hat.

Die Beklagte hatte nach § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG mit dem Betriebsrat über die Möglichkeiten zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern. Dies entspricht der Konsultationspflicht nach Art. 2 I und II der Richtlinie 98/59/EG, die einen Dialog zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat umfasst, wobei Argumente und Gegenargumente in einem Gespräch gegeneinander abzuwägen sind. Die Beratung erfordert mehr als Auskunftserteilung und Unterrichtung. Eine Beratung geht auch über eine – bloße – Anhörung hinaus. Arbeitgeber und Betriebsrat beraten, wenn der Betriebsrat seine Stellungnahme zu den Plänen und Vorhaben des Arbeitgebers abgibt und der Arbeitgeber sich damit im Gespräch bzw. in Verhandlungen mit dem Betriebsrat auseinandersetzt (Moll in: Kübler/Prütting, § 122 InsO, Rn. 19; Richardi § 111 BetrVG Rn. 154). Gegenstand der Beratung sind ausweislich des Gesetzeswortlauts einerseits Einschränkung und Vermeidung von Entlassungen und andererseits Folgenmilderung. Art. 2 II der Richtlinie 98/59/EG bezieht die Konsultationspflicht auf die Möglichkeit der Beschränkung und Vermeidung der Massenentlassungen und darauf, dass die Folgen von Massenentlassungen durch soziale Begleitmaßnahmen zu mildern seien, die insbesondere Hilfen für eine anderweitige Verwendung oder Umschulung entlassener Arbeitnehmer zum Ziel haben. Die Beratung geht ebenso wie die Auskunftserteilung und Unterrichtung nach § 17 Abs. 1 KSchG der Ingangsetzung der zur Massenentlassung führenden Kündigungsschritte voraus.

Ungeklärt ist in Rechtsprechung und Literatur, wann das Konsultationsverfahren abgeschlossen ist und ob die Konsultationen des Arbeitgebers mit dem Betriebsrat vor Anzeige der Massenentlassung nach Maßgabe der MERL abgeschlossen sein müssen (vgl. BVerfG 25.02.2010 – 1 BvR 230/09 – NZA 2010, 439 m.w.N.). Auch die Rechtsprechung des EuGH liefert keine eindeutige Antwort. Das Urteil vom 27. Januar 2005 (- C-188/03 – [Junk] Rn. 47 f., Slg. 2005, I-885) besagt nur, dass der Arbeitgeber die Arbeitsverträge erst „nach Ende des Konsultationsverfahrens“ und „nach Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung“ kündigen darf. Dabei sei das Konsultationsverfahren nach Art. 2 Abs. 1 MERL zu führen, “um zu einer Einigung zu gelangen.” Art. 2 MERL begründe “eine Verpflichtung zu Verhandlungen”. Die Kündigung dürfe erst ausgesprochen werden, nachdem der Arbeitgeber “die Verpflichtungen nach Artikel 2 der Richtlinie erfüllt“ habe, also die in Rn. 42 und 43 des Urteils näher beschriebenen Konsultationspflichten. In seiner Entscheidung vom 10.09.2009 (-C- 44/08 – Kekuslitto) hat der EuGH seine Auffassung noch einmal bekräftigt und ergänzend ausgeführt, das Konsultationsverfahren müsse abgeschlossen sein, „bevor eine Entscheidung über die Kündigung der Arbeitsverträge getroffen“ werde. In den der Entscheidung vom 27. Januar 2005 vorangegangenen Schlussanträgen vom 30. September 2004 ist Generalanwalt Tizzano allerdings auch auf die zeitliche Abfolge der Konsultationen nach Art. 2 MERL und der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassungen nach Art. 3 MERL eingegangen (Slg. 2005 S. I-637, Rn. 61 f.): Die zweite Phase des Massenentlassungsverfahrens, die in der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung bei der zuständigen Behörde bestehe, könne nur auf die erste Phase, die Konsultation der Arbeitnehmervertreter, folgen, da der Arbeitgeber die Konsultationen in der Anzeige erwähnen müsse. Nur diese Lösung entspreche dem Zweck der zweiten Phase, da in dieser Phase die Behörde nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen habe (Art. 4 Abs. 2 MERL), was hauptsächlich dann notwendig sei, wenn es nicht bereits „zwischen den Parteien“ zu einer Einigung gekommen sei. Schon früher hatte Generalanwalt Cosmas die Konsultation der Arbeitnehmervertreter und die Anzeige der geplanten Massenentlassung an die zuständige Behörde als „aufeinanderfolgende Phasen“ bezeichnet (Schlussanträge vom 24. September 1998 – C-250/97 -, Slg. 1998 S. I-8737, Rn. 45 f.). Auch im Schrifttum wird vertreten, dass die Konsultation der Arbeitnehmervertreter und die Anzeige der geplanten Massenentlassung an die zuständige Behörde bei unionsrechtskonformer Auslegung als „aufeinanderfolgende Phasen“ anzusehen sind mit der Folge, dass der Arbeitgeber die Anzeige der Massenentlassung erst nach dem Ende der Beratungen wirksam erstatten kann (vgl. Klumpp NZA 2006, 703, 706f.; KR/Weigand Rn. 75; Wißmann. RdA 1998, 221, 226; Bauer/Krieger NZA 2009, 174, 175; a.A. Giesen SAE 2006, 135, 138f.; Kerwer SAE 2009, 143, 144f.; Franzen ZfA 2006, 437, 456).

Systematik sowie der Sinn und Zweck der Massenentlassungsrichtlinie sprechen für diese Sichtweise. Unterrichtung und Konsultation finden sich im Teil II, das Massenentlassungsverfahren im Teil III der Richtlinie wieder. Sinn und Zweck der Richtlinie ist es, Massenentlassungen zu vermeiden oder jedenfalls ihre Zahl zu beschränken bzw. ihre Folgen zu mildern. Dazu ist zum einen den Arbeitnehmern als Gemeinschaft mit Art. 2 der MERL ein kollektiv ausgestaltetes Recht auf Information und Konsultation eingeräumt worden (vgl. EuGH 16. Juli 2009 – C-12/08 – [Mono Car Styling] Rn. 42, AP Nr 5 zu Richtlinie 98/59/EG). Zum anderen soll nach Art. 4 Abs. 2 MERL die zuständige Behörde, dh. die Agentur für Arbeit, in die Lage versetzt werden, nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen. Dafür steht ihr die Frist des Art. 4 Abs. 1 der MERL, dh. nach dem nationalen Recht die in der Regel 30 Tage betragende Frist des § 18 Abs. 1 KSchG, zur Verfügung (EuGH 27. Januar 2005 – C-188/03 – [Junk] Rn. 47 f., Slg. 2005, I-885). Die Frist i.S.d. Art. 4 Abs. 1 kann nur dann von der Behörde nach Maßgabe des Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie effektiv genutzt werden, wenn das Konsultationsverfahren abgeschlossen ist. Zudem muss die Anzeige gem. Art. 3 Abs. 1 MERL Angaben über die Konsultationen der Arbeitnehmer gem. Art. 2 enthalten. Und diese Konsultationen umfassen eben mehr als die reine Unterrichtung über beabsichtigte Massenentlassungen, nämlich die Vermeidung bzw. Beschränkung von Massenentlassungen sowie die Milderung ihrer Folgen. Diese Richtlinienvorgaben sind durch eine entsprechende Auslegung des § 17 Abs. 1 KSchG umzusetzen. Hierbei ist insbesondere eine systematische und teleologische Interpretation der Norm vorzunehmen. Die Regelung des § 17 Abs. 1 KSchG steht im systematischen Kontext zu § 17 Abs. 2 KSchG, der eine rechtzeitige Unterrichtung und Beratung verlangt. Der Arbeitgeber hat seine Beratungspflicht erfüllt, wenn er mit ernsthaftem Willen, zu einer Einigung zu gelangen (Art. 2 Abs. 1 RL 98/59/EG), die Verhandlungsgegenstände gem. § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG mit dem Betriebsrat erörtert hat. Dass die Einigung selbst Voraussetzung für eine wirksame Massenentlassung wäre, lässt sich der Regelung hingegen nicht entnehmen. Mit der Konsultationspflicht ist eine Pflicht zur Verständigung über Umfang und Folgen der Massenentlassungen nicht verbunden (BAG 30.03.2004 – 1 AZR 7/03 – AP § 113 BetrVG 1972 Nr. 47). Eine Auslegung hingegen, die die Unterrichtung des Betriebsrats vor Erstattung der Massenentlassungsanzeige ohne Beratungspflicht ausreichen ließe, würde die nach der Richtlinie einzuhaltenden Anforderungen verringern. Eine solche Auslegung verbietet das Gebot der unionsrechtskonformen Anwendung des nationalen Rechts (vgl. EuGH 16. Juli 2009 – C-12/08 – [Mono Car Styling] – AP Nr 5 zu Richtlinie 98/59/EG).

Vorliegend hat die Beklagte nicht substantiiert dargelegt, dass sie mit dem Betriebsrat vor dem 04. September 2009 über eine reine Information hinaus Beratungsgespräche geführt hat. Sie hat dem bei ihr gebildeten Betriebsrat mit Schreiben vom 19. August 2009 mitgeteilt, dass sie sich gezwungen sehe, ihren Betrieb in A-Stadt zum 31. Dezember 2009 stillzulegen. Als Folge der unternehmerischen Entscheidung seien die Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmer betriebsbedingt zu kündigen. Ebenfalls unter dem 19. August 2009 hat die Beklagte der Bundesagentur für Arbeit die Entlassungen gemäß § 17 KSchG angezeigt. In einem weiteren Unterrichtungsgespräch vom 02.09.2009 hat sie nach ihrem Vorbringen die dem Betriebsrat übermittelten Informationen lediglich vertieft. Der Interessenausgleich hingegen ist erst nach Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit zu den Massenentlassungen abgeschlossen worden.

3. Die nicht ordnungsgemäße Anzeige der Massenentlassung hat ebenso wie die fehlende Beratung mit dem Betriebsrat die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge (offengelassen: BAG 29. November 2007 – 2 AZR 763/06 – AP KSchG 1969 § 1 Soziale Auswahl Nr. 95; 13. Juli 2006 – 6 AZR 198/06 – AP § 17 KSchG 1969 Nr. 22; BAG 23. März 2006 – 2 AZR 343/05 – AP § 17 KSchG 1969 Nr. 21; 22.04.2010 – 6 AZR 948/08 – AP § 17 KSchG 1969 Nr. 38) Weder der Wortlaut des § 17 KSchG noch die systematische Stellung stehen dem entgegen. Dass die Abschnittsüberschrift der §§ 17 ff. KSchG („Anzeigepflichtige Entlassungen”) nicht den Begriff „Kündigungsschutz” enthält, schließt eine Unwirksamkeit als Rechtsfolge nicht aus. Die Einordnung des Unterrichtungs- und Beratungsrechts des Betriebsrates in das Kündigungsschutzgesetz statt beispielsweise in das Betriebsverfassungsgesetz deutet demgegenüber eher auf individualrechtliche Konsequenzen eines Verstoßes hin. Auch die bisherige Rechtsprechung des BAG gebietet nichts anderes. Das Bundesarbeitsgericht hat die Absage an eine individualrechtliche Unwirksamkeit der Kündigung in der Vergangenheit (Urt. v. 18.09.2003 – 2 AZR 79/02 – AP § 17 KSchG 1969 Nr. 14) damit begründet, die sich nach seiner Auslegung ergebende „Entlassungssperre” reiche aus, den Arbeitgeber zu einer Einhaltung der Rechtsvorschriften anzuhalten. Dieser Argumentation ist aber mit einer Änderung der Auslegung des Begriffs „Entlassung“ der Boden entzogen. Schließlich entspricht die Konsequenz einer individualrechtlichen Unwirksamkeit der Kündigung auch der Richtlinie 98/59/EG, die nach den in der Richtlinie festgehaltenen Erwägungen des Rats dazu dient, den „Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen zu verstärken.“

4. Die Kündigung vom 27. November 2009 ist gemäß § 102 BetrVG unwirksam. Nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG ist eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung unwirksam. Nach Satz 1 der Norm ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Das Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG entfaltet nur für die Kündigung Wirksamkeit, für die es eingeleitet worden ist. Der Arbeitgeber hat demnach grundsätzlich für jede Kündigung ein Anhörungsverfahren nach § 102 BetrVG durchzuführen.

Einer – erneuten – Anhörung des Betriebsrats bedarf es schon immer, wenn der Arbeitgeber bereits nach Anhörung des Betriebsrats eine Kündigung erklärt hat, d. h. wenn die erste Kündigung dem Arbeitnehmer zugegangen ist und der Arbeitgeber damit seinen Kündigungswillen bereits verwirklicht hat und nunmehr eine neue (weitere) Kündigung aussprechen will. Das gilt auch dann, wenn der Arbeitgeber die Kündigung auf den gleichen Sachverhalt stützt. Dieses Gestaltungsrecht und die damit in Zusammenhang stehende Betriebsratsanhörung ist mit dem Zugang der Kündigungserklärung verbraucht. Dies gilt insbesondere auch in den Fällen, in denen der Arbeitgeber wegen Bedenken gegen die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung vorsorglich erneut kündigt (BAG Urt. v. 10. November 2005 – 2 AZR 623/04 – AP § 626 BGB Nr. 196).

Vorliegend hat die Beklagte nicht substantiiert dargelegt, dass sie den Betriebsrat vor Ausspruch der zweiten Kündigung vom 27. November 2009 ordnungsgemäß angehört hat.

III.

Die Berufung der Beklagten war daher mit der sich aus § 97 ZPO ergebenden Kostenfolge zurückzuweisen. Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

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