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Wirksamkeit krankheitsbedingte Kündigung – Abbruch BEM-Verfahren

Kündigung wegen Krankheit: Wann ist sie wirksam?

In einem aktuellen Fall musste das Gericht über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung aus personenbedingten Gründen und einen Antrag auf Weiterbeschäftigung entscheiden. Der Kläger war als Strukturmechaniker bei der Beklagten beschäftigt und mehrfach krankheitsbedingt ausgefallen. Das Gericht musste klären, ob die Kündigung aufgrund häufiger Kurzerkrankungen sozial gerechtfertigt und verhältnismäßig ist.

Direkt zum Urteil: Az.: 8 Ca 8152/21 springen.

Das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM)

Der Kläger wurde in den letzten Jahren mehrfach zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) eingeladen. Das BEM ist ein Verfahren, mit dessen Hilfe mildere Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkannt und entwickelt werden können.

Die Argumente der Parteien

Der Kläger argumentierte, dass die Kündigung unwirksam sei, da seine Krankheiten in der Vergangenheit bereits ausgeheilt seien und er sich in erfolgsversprechender Behandlung befinde. Die Beklagte hingegen sah die Kündigung als sozial gerechtfertigt an, da die Anforderungen für eine ordentliche krankheitsbedingte Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen erfüllt seien und die Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen geführt hätten.

Die Entscheidung des Gerichts

Das Gericht stellte fest, dass die Kündigung unverhältnismäßig und damit rechtsunwirksam ist. Die Beklagte hätte nachweisen müssen, dass auch ein BEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Da ein an sich gebotenes BEM nicht durchgeführt wurde, trägt die Beklagte die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass mildere Mittel als die Kündigung nicht möglich gewesen wären.

Einseitiger Abbruch des bEM-Verfahrens

Arbeitgeber dürfen den Suchprozess im Rahmen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) grundsätzlich nicht einseitig beenden. Im vorliegenden Fall hat die beklagte Seite das bEM-Verfahren nicht ordnungsgemäß abgeschlossen und dem Kläger keine Möglichkeit zur abschließenden Stellungnahme eingeräumt. Daher konnte die Beklagte das Verfahren nicht einseitig beenden und als abgeschlossen betrachten.

Unzureichende Anhörung des Betriebsrats

Die streitgegenständliche Kündigung scheitert zudem an der ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG. Die Anhörung des Betriebsrats war hinsichtlich der Angaben zur Durchführung des bEM unrichtig und unvollständig, was die Kündigung unwirksam macht. Zudem waren die Angaben zu den ausgefallenen Arbeitstagen fehlerhaft, was ebenfalls die Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG fehlerhaft macht. Dem Kläger steht daher ein Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu.

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Das vorliegende Urteil

Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven – Az.: 8 Ca 8152/21 – Urteil vom 24.02.2022

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom … nicht beendet wird.

2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen weiterzubeschäftigen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

4. Der Streitwert wird auf … festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Frage der Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung aus personenbedingten Gründen, sowie um einen damit verbundenen Antrag auf Weiterbeschäftigung.

Die Beklagte ist die … Am Standort … beschäftigt sie ca. 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Der am … geborene Kläger ist seit dem … bei der Beklagten beschäftigt, zuletzt als Strukturmechaniker mit einem monatlichen Bruttoentgelt von … bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von … Stunden (Arbeitsvertrag Bl. 17 ff der Akte).

Der Kläger ist im Jahr … im Jahr … im Jahr … im … im … im Jahr … und im … an … krankheitsbedingt ausgefallen. Hierbei handelt es sich jeweils um Kalendertage. Hinsichtlich der konkreten Krankheitszeiträume wird auf den Schriftsatz der Beklagten vom … Bl. 60 ff. verwiesen.

In den Jahren … wurde der Kläger mehrfach zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement eingeladen (Anlagenkonvolut Bl. 77-84 d.A.).

Mit Schreiben vom … ist der Kläger erneut zur Teilnahme am BEM-Verfahren eingeladen worden (Einladungsschreiben Blatt 85 ff. der Akte). Mit Schreiben vom … hat der Kläger der Teilnahme am Verfahren zugestimmt (Bl. 87 ff. der Akte). Die Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements richtet sich bei der Beklagten nach der Gesamtbetriebsvereinbarung zum betrieblichen Eingliederungsmanagement vom … (Bl. 172 ff. der Akte).

Bis zum Frühjahr … hat ca. alle 4 Wochen ein BEM- Gespräch mit dem Kläger und der BEM- Beauftragten stattgefunden. Aufgrund einer venösen Insuffizienz des Klägers konnten die Gespräche nicht fortgeführt werden. Der Kläger und die BEM- Beauftragte haben besprochen, dass im … ein neuer Termin für … gefunden werden solle. Das BEM Verfahren wurde am … durch die zuständige BEM- Beauftragte abgebrochen.

Der Betriebsrat wurde mit Schreiben vom … über die beabsichtigte Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger angehört (Bl. 92 ff. der Akte). Der Betriebsrat hat mit Schreiben vom … der beabsichtigten Kündigung widersprochen (Bl. 98 ff. der Akte).

Am … hat der Kläger einen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft beim Amt für Versorgung und Integration Bremen gestellt (Bl. 21 der Akte).

Mit Schreiben vom … welches dem Kläger am … zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum … (Bl. 19 der Akte).

Der Kläger trägt vor, dass die Kündigung unwirksam sei. Zum einen seien die Krankheiten in der Vergangenheit bereits ausgeheilt. Hinsichtlich der aktuellen Krankheiten sei er in erfolgsversprechender Behandlung und eine negative Prognose könne hieraus nicht hergeleitet werden. Die Höhe der von der Beklagten vorgetragenen wirtschaftlichen Kosten für die Arbeitsunfähigkeitszeiträume werde bestritten. Auch die Betriebsratsanhörung sei fehlerhaft.

Der Kläger beantragt:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom … nicht beendet wird.

2. Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. und/oder zu 2. wird die Beklagte verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, die Kündigung … sei sozial gerechtfertigt. Die Anforderungen, die die Rechtsprechung an die Wirksamkeit einer ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen stelle seien erfüllt. Zudem hätten die Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen, sowie Entgeltfortzahlungsleistungen i.H.v. … geführt. Das BEM- Verfahren sei vor Ausspruch der streitgegenständlichen Kündigung ordnungsgemäß durchgeführt und beendet worden. Da keine Maßnahmen mehr offen waren, der Kläger vereinbarte Termine nicht wahrgenommen habe und für die BEM-Koordinatorin telefonisch nicht erreichbar gewesen sei habe sie sich dazu entschieden, das BEM erfolglos zu beenden. Auch die Betriebsratsanhörung sei ordnungsgemäß durchgeführt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, sowie auf die Protokolle nach § 46 Abs. 2 ArbGG i.V.m. § 313 Abs. 2 S. 2 ZPO verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

A.

Die Kündigungsschutzklage ist begründet, weil die im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes ausgesprochene Kündigung der Beklagten … rechtsunwirksam ist und das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst hat.

I.

Die Kündigung ist nicht wegen der Wirksamkeitsfiktion des § 7 KSchG wirksam. Denn die Kündigungsschutzklage des Klägers ist am … Arbeitsgericht … eingegangen und wurde der Beklagten am … zugestellt. Damit wurde die Kündigungsschutzklage i.S.d. § 167 ZPO der Beklagten demnächst nach Klageeinreichung zugestellt. Daher gilt die Klage gem. § 167 ZPO als am … erhoben. Mithin ist die Drei-Wochen-Frist des § 4 KSchG gewahrt.

II.

Auf das Arbeitsverhältnis findet das KSchG vollumfänglich Anwendung. Denn der Kläger war im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung über sechs Monate im Unternehmen der Beklagten beschäftigt (§ 1 Abs. 1 KSchG) und im Betrieb der Beklagten arbeiteten im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung regelmäßig mehr als 10 Vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer (§ 23 Abs. 1 KSchG).

III.

Für den Ausspruch der Kündigung war auch nicht die vorherige Zustimmung des Integrationsamtes nach § 168 SGB IX erforderlich. Der Kläger hat den Antrag nicht rechtzeitig vor Ausspruch der Kündigung nach § 173 Abs.3 SGB IX gestellt.

IV.

Die auf häufige Kurzerkrankungen des Klägers gestützte Kündigung ist rechtsunwirksam, weil sie nicht gemäß § 1 Abs. 1, 2 KSchG sozial gerechtfertigt ist. Die Beklagte hat nicht dargetan, dass keine zumutbare Möglichkeit bestand, die Kündigung durch mildere Maßnahmen zu vermeiden.

1. Die Wirksamkeit einer auf häufige Kurzerkrankungen gestützten ordentlichen Kündigung setzt zunächst eine negative Gesundheitsprognose voraus. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung sprechen (erste Stufe). Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Dabei können neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen, etwa durch zu erwartende, einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr übersteigende Entgeltfortzahlungskosten, zu einer solchen Beeinträchtigung führen (zweite Stufe). Ist dies der Fall, ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (dritte Stufe) (BAG 25.04.2018 – 2 AZR 6/18, juris Rn. 19).

2. Die Wirksamkeit der Kündigung der Beklagten vom … scheitert im vorliegenden Fall auf der dritten Stufe, weil die Kündigung unverhältnismäßig ist. Die Kammer lässt offen, ob auf der Grundlage des Sachvortrags der Beklagten die erste und zweite Stufe erfüllt sind. Die Beklagte ihrer Darlegungs- und Beweislast für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nicht nachgekommen.

a) Der Arbeitgeber, der für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast trägt, kann sich zwar im Kündigungsschutzprozess grundsätzlich zunächst auf die Behauptung beschränken, für den Arbeitnehmer bestehe keine andere – seinem Gesundheitszustand entsprechende – Beschäftigungsmöglichkeit. War der Arbeitgeber jedoch gem. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zur Durchführung eines bEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, ist er darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Die Durchführung eines bEM ist zwar nicht selbst ein milderes Mittel gegenüber der Kündigung. § 167 Abs. 2 SGB IX konkretisiert aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe eines bEM können mildere Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkannt und entwickelt werden (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 38, BAGE 150, 117).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob die Kündigung durch mildere Mittel hätte voraussichtlich vermieden werden können, ist der Zugang der Kündigung. Wurde ein an sich gebotenes bEM nicht durchgeführt, ist daher kündigungsrechtlich eine erweiterte Darlegungslast des Arbeitgebers, dass auch ein bEM keinen Erfolg erbracht hätte, nicht veranlasst, wenn das bEM für diesen Zeitpunkt keine relevanten Erkenntnisse hätte erbringen können, weil es nicht in zeitlicher Nähe zur Kündigung erforderlich gewesen wäre. Hat der Arbeitgeber nicht gänzlich davon abgesehen, ein bEM anzubieten, sind ihm dabei oder bei der weiteren Durchführung aber Fehler unterlaufen, ist für den Umfang seiner Darlegungslast von Bedeutung, ob der Fehler Einfluss auf die Möglichkeit hatte oder hätte haben können, Maßnahmen zu identifizieren, die zu einer relevanten Reduktion der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Arbeitnehmers hätten führen können.

b) Bezogen auf den konkreten Fall war die Beklagte aufgrund der Arbeitsunfähigkeit des Klägers nach § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX verpflichtet, ein bEM durchzuführen.

c) Die Beklagte hat jedoch kein regelkonformes bEM durchgeführt, da sie das bEM einseitig abgebrochen hat.

(1) Die neueste Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 -, juris) setzt sich mit der Frage, wann ein bEM abgeschlossen ist auseinander mit folgenden Hinweisen:

Das Gesetz regelt das bEM nur rahmenmäßig als einen verlaufs- und ergebnisoffenen Suchprozess, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll (zu § 84 Abs. 2 SGB IX aF: BAG 29. Juni 2017 – 2 AZR 47/16 – Rn. 31, BAGE 159, 250; 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 30, BAGE 150, 117), ohne explizit vorzusehen, wann der Suchprozess abgeschlossen ist.

Ein bEM ist jedenfalls dann abgeschlossen, wenn sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einig sind, dass der Suchprozess durchgeführt ist oder nicht weiter durchgeführt werden soll. Dies gilt entsprechend, wenn allein der Arbeitnehmer seine Zustimmung für die weitere Durchführung nicht erteilt. Deren Vorliegen ist nach § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX Voraussetzung für den Klärungsprozess.

Dagegen kann der Arbeitgeber den Suchprozess grundsätzlich nicht einseitig beenden. Gibt es aus seiner Sicht keine Ansätze mehr für zielführende Präventionsmaßnahmen, ist der Klärungsprozess erst dann als abgeschlossen zu betrachten, wenn auch vom Arbeitnehmer und den übrigen beteiligten Stellen keine ernsthaft weiterzuverfolgenden Ansätze für zielführende Präventionsmaßnahmen aufgezeigt wurden, ggf. ist ihnen hierzu Gelegenheit binnen bestimmter Frist zu geben.

(2) Vorliegend hat die Beklagte unstreitig das bEM- Verfahren nicht ordnungsgemäß abgeschlossen. Der Kläger hat vorgetragen, dass noch weitere Termine für … besprochen waren. Dies ist unstreitig geblieben zwischen den Parteien. Die Beklagtenseite hat den Kläger für den Fall der einseitigen Beendigung keine Möglichkeit zu einer abschließenden Stellungnahme eingeräumt. Auch das ist unstreitig zwischen den Parteien. Damit konnte die Beklagte nach den Grundsätzen der Rechtsprechung das Verfahren nicht einseitig beenden und als abgeschlossen betrachten. Daran ändert auch nichts, dass die Beklagte auf dem vorbereiteten Formular BEM- Abschlussprotokoll die Variante „abgebrochen“ ankreuzt. Sinn und Zweck der von der Rechtsprechung geforderten Stellungnahmefrist des Arbeitsgebers an die Gegenseite ist doch, dass dem Erkrankten nochmals die Gelegenheit gegeben werden muss seine Angaben zum Genesungsstand zu aktualisieren. Gerade im Licht der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG, Urteil vom 18. November 2021 – 2 AZR 138/21 -, juris), dass auch bei einer erneuten Arbeitsunfähigkeit ein erneutes bEM durchgeführt werden muss erscheint dies unerlässlich. Auch der Hinweis der Beklagten, die BEM-Beauftragte habe den Kläger nicht erreicht führt dabei nicht weiter. Zum einen ist dieser Vortrag unsubstantiiert und zum anderen war die Fortsetzung der BEM- Gespräche geplant, so dass ein einseitiger Abbruch durch die Arbeitgeberseite nur mit der Konsequenz möglich war, dass das BEM nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde.

(3) Darüber hinaus hat die Kammer auch Bedenken hinsichtlich der ordnungsgemäßen Einladung des Klägers im Sinne der Anforderungen, die die Rechtsprechung an das Einladungsschreiben und die Hinweise stellt. Dies konnte jedoch letztendlich dahingestellt bleiben, da das bEM schon aus anderen Grund als nicht ordnungsgemäß durchgeführt anzusehen war.

d) Die Beklagte hat nicht dargelegt, dass bezogen auf den Prognosezeitpunkt des Zugangs der Kündigung mithilfe des ordnungsgemäßen Abschluss des bEM keine milderen Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses hätten erkannt oder entwickelt werden können. Aus Sicht der Kammer war die Fortführung und auch der Abschluss des BEM erforderlich aufgrund von Zeiten der Arbeitsunfähigkeit des Klägers innerhalb des letzten Jahres vor der Kündigung. Damit ist grundsätzlich davon auszugehen, dass es dazu hätte beitragen können, neuerliche Krankheitszeiten bezogen auf den maßgeblichen Prognosezeitpunkt des Zugangs der Kündigung zumindest zu vermindern und so das Arbeitsverhältnis zu erhalten.

3. Darüber hinaus scheitert die streitgegenständliche Kündigung auch an der ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG

a) Nach § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist der Betriebsrat vor jeder Kündigung zu hören. Nach Satz 3 der Norm ist eine ohne Anhörung des Betriebsrats ausgesprochene Kündigung unwirksam. Eine Kündigung ist dabei nicht nur unwirksam, wenn der Arbeitgeber den Betriebsrat überhaupt nicht beteiligt, sondern auch dann, wenn er ihn nicht richtig beteiligt hat, vor allem seiner Unterrichtungspflicht nach § 102 Abs. 1 BetrVG nicht ausführlich genug nachgekommen ist (BAG 06.10.2005 – 2 AZR 316/04 – juris). Der Inhalt der Unterrichtung gemäß § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ist nach ihrem Sinn und Zweck grundsätzlich subjektiv determiniert (BAG 05.12.2019 – 2 AZR 240/19 – juris; BAG 16.06.2015 – 2 AZR 15/15 – juris RN 15). Der Betriebsrat soll die Stichhaltigkeit und Gewichtigkeit der Kündigungsgründe überprüfen, um sich über sie eine eigene Meinung bilden zu können (BAG 05.12.2019 – 2 AZR 240/19 – juris; BAG 16.07.2015 – 2 AZR 15/15 – juris RN 14; BAG 23.10.2014 – 2 AZR 736/13 – juris RN 15). Der Arbeitgeber muss daher dem Betriebsrat die Umstände mitteilen, die seinen Kündigungsentschluss tatsächlich bestimmt haben (BAG 05.12.2019 – 2 AZR 240/19 – juris; BAG 16.07.2015 – 2 AZR 15/15 – juris RN 15; BAG 23.10.2014 – 2 AZR 736/13 – juris RN 14). Dem kommt der Arbeitgeber dann nicht nach, wenn er dem Betriebsrat bewusst einen unrichtigen oder unvollständigen – und damit irreführenden – Kündigungssachverhalt schildert, der sich bei der Würdigung durch den Betriebsrat zum Nachteil des Arbeitnehmers auswirken kann (BAG 05.12.2019 – 2 AZR 240/19 – juris; BAG 16.07.2015 – 2 AZR 15/15 – juris RN 16; BAG 31.07.2014 – 2 AZR 407/13 – juris RN 46).

Die subjektive Überzeugung des Arbeitgebers von der Relevanz oder Irrelevanz bestimmter Umstände ist für den Umfang der Unterrichtung nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG dann nicht maßgeblich, wenn dadurch der Zweck der Betriebsratsanhörung verfehlt würde. Der Arbeitgeber darf ihm bekannte Umstände, die sich bei objektiver Betrachtung zugunsten des Arbeitnehmers auswirken können, dem Betriebsrat nicht deshalb vorenthalten, weil sie für seinen eigenen Kündigungsentschluss nicht von Bedeutung waren (BAG 05.12.2019 – 2 AZR 240/19 – juris; BAG 16.07.2015 – 2 AZR 15/15 – juris RN 19; BAG 23.10.2014 – 2 AZR 736/13 – juris RN 15). In diesem Sinne ist die Betriebsratsanhörung – ausgehend vom subjektiven Kenntnisstand des Arbeitgebers – auch objektiv, d. h. durch Sinn und Zweck der Anhörung determiniert (BAG 05.12.2019 – 2 AZR 240/19 – juris; BAG 16.07.2015 – 2 AZR 15/15 – juris).

b) Aus Sicht der Kammer ist die Anhörung des Betriebsrats hinsichtlich der Angaben zur Durchführung des BEM unrichtig und unvollständig. Dem Betriebsrat wird im Anhörungsschreiben mitgeteilt, dass das BEM kürzlich erfolglos abgeschlossen wurde. Mit diesem Hinweis suggeriert der Arbeitgeber, dass das eingeleitete BEM-Verfahren einen ordnungsgemäßen Abschluss gefunden hat. Wie sich aber unstreitig aus dem bisherigen Vortrag ergibt ist das Verfahren nicht abgeschlossen, sondern von der Arbeitgeberseite einseitig abgebrochen worden. Dieser Unterschied zwischen Abbruch und ordnungsgemäßen Abschluss eines BEM- Verfahren können bei der Würdigung des Sachverhalts durch den Betriebsrat einen entscheidenden Unterschied zum Nachteil des Arbeitnehmers bedeuten. Dies zeigt sich auch gerade an den Bedenken des Betriebsrats, der sich mit dieser Frage auseinandergesetzt hat.

c) Darüber hinaus sind auch die Angaben zu den ausgefallenen Arbeitstagen fehlerhaft. So wurde der Betriebsrat für das Jahr … mit der Information angehört, dass … Arbeitstage ausgefallen seien. Tatsächlich handelt es sich, wie die Beklagtenseite dann einräumt um Kalendertage. Für das Jahr … wird der Betriebsrat zum krankheitsbedingten Ausfall von … Arbeitstagen angehört. Auch hier handelt es sich tatsächlich um Kalendertage. Der Betriebsrat ist somit hinsichtlich der Fehlzeiten von falschen Basiszahlen ausgegangen. Auch dies macht die Betriebsratsanhörung nach § 102 Abs. 1 S. 1 BetrVG fehlerhaft

B.

Dem Kläger steht ein Anspruch auf die begehrte vorläufige Weiterbeschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu.

Der Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens ergibt sich aus dem Arbeitsverhältnis des Klägers in Verbindung mit den §§ 611, 242 BGB, da ein Arbeitnehmer grundsätzlich auf Grund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht nur die Pflicht, sondern auch das Recht zur Erbringung seiner Arbeitsleistung hat. Im Rahmen des Kündigungsrechtsstreits besteht dieser Weiterbeschäftigungsanspruch vorläufig, wenn die Interessen des Arbeitnehmers an der Weiterbeschäftigung die Interessen des Arbeitgebers überwiegen. Im Falle der Erlangung eines noch nicht rechtskräftigen stattgebenden Kündigungsschutzurteils erster Instanz überwiegen die Interessen des Arbeitnehmers regelmäßig die Interessen des Arbeitgebers. Lediglich dann, wenn dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung nicht möglich oder unzumutbar ist oder andere besondere Umstände vorliegen, besteht ausnahmsweise nach einem stattgebenden erstinstanzlichen Kündigungsschutzurteil kein Weiterbeschäftigungsanspruch (vgl. BAG GS vom 27.02.1985, AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 14).

Die Beklagte hat vorliegend keine Tatsachen vorgetragen, die auf ein ausnahmsweise überwiegendes Interesse der Beklagten an der Nichtweiterbeschäftigung des Klägers schließen lassen würden. Folglich ergibt sich aus dem Obsiegen des Klägers bezüglich des Kündigungsschutzantrages der tenorierte vorläufige Weiterbeschäftigungsanspruch.

C.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Der Wert des Streitgegenstands war gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen, seine Höhe folgt aus § 42 GKG und 3 ff ZPO und war auf vier durchschnittliche Bruttomonatsgehälter des Klägers festzusetzen. Gemäß § 62 Abs. 1 ArbGG ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

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