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Fristlose Kündigung unkündbarer Arbeitnehmerin bei Medikamentenmissbrauch

Landesarbeitsgericht München – Az.: 3 Sa 83/21 – Urteil vom 14.10.2021

1. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 02.12.2020 – 22 Ca 8178/19 – abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Klagepartei zu tragen.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist.

Die am 00.00.0000 geborene, jedenfalls einem Kind zum Unterhalt verpflichtete, geschiedene Klägerin war seit dem 00.00.0000 bei der beklagten Rundfunkanstalt als Sekretärin, zuletzt in der Richtposition „Sekretärin B“ zu einer monatlichen Bruttovergütung von 4.597,32 € beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis fand der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer/innen des C. (im Folgenden: MTV) Anwendung. Nach dessen Ziff. 275.1 war die Klägerin ordentlich unkündbar und die Beklagte konnte das Arbeitsverhältnis „nur mehr aus wichtigem Grund kündigen.“ Darüber hinaus bestimmte Ziff. 275.2 MTV dass dann, wenn der wichtige Grund eine dauernde Minderleistung der Arbeitnehmerin sei, die Beklagte verpflichtet sei, der Arbeitnehmerin eine zumutbare Änderung des bisherigen Arbeitsvertrags anzubieten, wobei die Vorbildung der Arbeitnehmerin berücksichtigt werden solle.

Bei der Klägerin wurde 2002 eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie festgestellt, weshalb ihr Benzodiazepin verordnet wurde. Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt entwickelte die Klägerin eine Benzodiazepin-Abhängigkeit. Der dauerhafte Konsum von Benzodiazepin kann zu einer leichten Sedierung, kognitiven Störungen sowie Konzentrationsstörungen führen.

Seit 2007 wurde die Klägerin als Sekretärin in der Hörfunkdirektion, Programmbereich Z., eingesetzt, die seit 2012 von Frau Y. geleitet wird. Bereits zu diesem Zeitpunkt soll die Klägerin nach bestrittener Behauptung der Beklagten nicht in der Lage gewesen sein, Standardvorgänge eigenständig zu bearbeiten, weshalb es zu einer hohen Fehlerhäufigkeit selbst bei einfachen Tätigkeiten gekommen sei. Am 29.03.2017, 08.06.2017 und 14.06.2017 fanden zwischen der Klägerin und der Vorgesetzten Frau Y. Gespräche über Leistungsdefizite der Klägerin statt, deren Inhalt in Emails zusammengefasst wurde (Anl. B2 bis B4 = Bl. 171 ff. d. A.). Am 14.07.2017 besprachen die Parteien erneut die Arbeitsleistung der Klägerin. In der zusammenfassenden der E-Mail vom 14.07.2017 an u.a. die Klägerin stellte die Vorgesetzte Frau Y. fest, dass die Arbeitsleistung der Klägerin weit davon entfernt sei, in Ordnung zu sein. Durch das Durcheinander, das sie durch ihre Fehler stifte, durch den Zwang, alle ihre Arbeitsgänge zu kontrollieren, zu korrigieren und ihr immer wieder erklären zu müssen, wie es richtig zu machen wäre, binde sie die Zeitressourcen ihrer Kolleginnen und belaste auch sie, ihre Abteilungsleiterin. In der Kommunikation mit Kolleginnen antworte sie oft einsilbig und weise manchmal jegliche Verantwortung für nachweisliche Fehler von sich, wodurch sie den Anschein erwecke, ihr Umgebung nicht ernst zu nehmen (E-Mail vom 14.07.2017, Anl. B13 = Bl. 195, 197 d. A.). Die Klägerin sei angewiesen worden, bei jeder Tätigkeit die Handlungsanweisung aus dem Ordner zu beherzigen. Die Kollegin Frau X. sei angewiesen worden, weiterhin die Arbeitsaufträge der Klägerin zu kontrollieren und etwaige Fehler zu dokumentieren. Am 07.11.2018 wurde die Klägerin um 11:40 Uhr auf einer Bank im Innenhof schlafend vorgefunden. In den Jahren 2015 bis 2018 wurden der Klägerin mehrfach Ermahnungen und Abmahnungen ausgesprochen, für die im Einzelnen auf das erstinstanzliche Urteil, Seite 3 Bezug genommen wird. Im Gespräch vom 29.03.2019 wurde der Klägerin erläutert, welche Aufgaben sie zu erledigen habe. Zur Verdeutlichung erhielt sie eine schriftliche Zusammenfassung ihrer Aufgabenbereiche und eine detaillierte Übersicht, welche Tätigkeiten ihr Aufgabenbereich umfasse. Zugleich wurde mit der Klägerin vereinbart, dass sie bis auf weiteres Tätigkeitsnachweise erstelle und vorlege.

Mit mehreren Schreiben vom 04.06.2019 mahnte die Beklagte die Klägerin wegen verschiedenen angeblichen Leistungsmängeln ab. Mit einem Schreiben vom 04.06.2019 sprach die Beklagte eine Abmahnung aus, weil die Bearbeitung des Auftrags vom 03.04.2019, aus drei Fachzeitschriften 36 Fachartikel zu scannen, zu beschriften und im Gruppenlaufwerk abzulegen, stark fehlerbehaftet gewesen sei und ohne Nachbearbeitung nicht habe verwendet werden können (vgl. Anl. B24 = Bl. 211 f. d. A.). Darüber hinaus mahnte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 04.06.2019 wegen der verspäteten Ablieferung der Arbeiten ab (vgl. Anl. B24 = Bl. 213 d. A.). Eine weitere Abmahnung mit Datum 04.06.2019 sprach die Beklagte aus, weil die Klägerin nur 21 der zu kopierenden 23 Seiten des Terminkalenders im Rahmen der zu erstellenden Liste der Veranstaltungstipps kopiert habe, davon neun „abgeschnitten“ (vgl. Anl. B25 = Bl. 214 d. A.). Ebenfalls unter dem Datum des 04.06.2019 rügte die Beklagte durch Abmahnung, dass die Klägerin trotz detaillierter Besprechungen am 29.03.2019 und 10.04.2019 und gemeinsamer Erledigung mit einer Kollegin am 10.04.2019 am 09.05.2019 sieben Rahmen- und Pauschalverträge mangelhaft kopiert habe. Ein Vertrag sei gar nicht, bei zwei Verträgen sei nicht die Rückseite kopiert worden (vgl. Anl. B26 = Bl. 221 f. d. A.). Die abschließende Prüfung der Kopien könne nicht erfolgt sein. Eine Abmahnung betraf das Versäumnis, sog. Bookletkopien, die abschließend digitalisiert worden und damit zu entfernen waren, nicht aus der Wiedervorlagemappe entfernt zu haben (vgl. Anl. B27 = Bl. 223 f. d. A.). Zwei weitere Schreiben vom 04.06.2019 betrafen angebliche Differenzen bei den Zeitaufschrieben der Klägerin (vgl. Anl. B28 = Bl. 225 ff. d. A.).

Am 04.06.2019 erhielt die Klägerin den bis zum 07.06.2019 zu erledigenden Auftrag, 24 Artikel aus der Zeitschrift Jazzthetik“ im Umfang von 46 Seiten zu scannen und mit bestimmten Angaben im Gruppenlaufwerk/L-Musik/Artikel abzulegen.

Mit E-Mail vom 06.06.2019 wurde die Klägerin von der Mitarbeiterin Frau X. gebeten, sechs frankierte Rückumschläge für je einen 20 g – Brief in der Poststelle unter Angabe der Kostenstelle 3460 ausstellen zu lassen und ihr auf den Schreibtisch zu legen. Die Klägerin habe dies im letzten Jahr schon einmal gemacht. Daraufhin schrieb die Klägerin per Email: „Ich verstehe nicht, was ich machen soll bei PS.“ (vgl. Anl. 16 zur Personalratsanhörung = Bl. 368 f. d. A.).

Die Klägerin erkrankte am 14.06.2019 arbeitsunfähig und befand sich seit 27.06.2019 aus nicht dargelegten Gründen in stationärer Behandlung.

Mit Schreiben vom 08.07.2019 hörte die Beklagte den bei ihr gebildeten Personalrat zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung mit sozialer Auslauffrist zum 31.12.2020 an. Die in der Vergangenheit vorgenommenen Anpassungen der Tätigkeit an die Leistungsfähigkeit der Klägerin hätten die Leistungsstörungen nicht beseitigen können. Es mangele bei der Klägerin an einer grundlegenden Konzentration und Sorgfalt. Ein anderweitiger Einsatz, insbesondere in der Poststelle, in der noch geringere Arbeitsanforderungen gestellt würden, sei verworfen worden. Es sei der Klägerin trotz expliziter Beschreibung, was genau sie zu erledigen habe, nicht möglich gewesen, frankierte Rückumschläge von der Poststelle abzuholen. Sollten die Minder- und Schlechtleistungen ihre Ursache in einer Erkrankung der Klägerin haben, führe dies zu keiner anderen Bewertung. Die Klägerin befinde sich seit Jahren in medizinischer und psychologischer Behandlung, ohne dass eine Besserung eingetreten wäre. Der Beklagten sei es nicht zuzumuten, das Ergebnis der stationären Behandlung, sofern sie überhaupt zu Ende geführt werde, abzuwarten. In Anbetracht der bereits seit Jahren auftretenden Störung, den fruchtlosen Bemühungen sowie der jahrelangen vergeblichen Fürsorgebemühungen, die von der Klägerin nicht wahrgenommen würden, überwögen die Interessen der Beklagten, das Arbeitsverhältnis zu beenden, und zwar auch unter Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit der Klägerin, ihres Alters von 00 Jahren und ihren Unterhaltspflichten.

Der Personalrat widersprach der beabsichtigten Kündigung mit Schreiben vom 11.07.2019. Die Beklagte habe die Minderleistung bzw. das eingeschränkte Leistungsvermögen der Klägerin jahrelang hingenommen und damit quasi stillschweigend akzeptiert. Die Aufzählung der Versäumnisse, Verfehlungen und Schlechtleistungen der Klägerin ließen den Schluss zu, dass sie schon seit langem nicht imstande sei, ihre Aufgaben und Tätigkeitsfelder geistig richtig zu erfassen, zu verstehen, abzuspeichern, nachzuvollziehen und in der Folge richtig oder überhaupt ausführen zu können bzw. die Erklärungen und Hilfestellungen dazu verstehen und anwenden zu können.

Mit Schreiben vom 12.07.2019 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit Auslauffrist zum 31.12.2020.

Fristlose Kündigung unkündbarer Arbeitnehmerin bei Medikamentenmissbrauch
(Symbolfoto: tommaso79/Shutterstock.com)

Mit der rechtzeitig erhobenen Kündigungsschutzklage hat die Klägerin geltend gemacht, dass die Kündigung unwirksam sei. Es liege kein wichtiger Grund vor. Den Ausführungen der Beklagten ließe sich bereits nicht entnehmen, auf welche Gründe sie die Kündigung stütze. Der Vortrag changiere zwischen verhaltens- und personenbedingten Gründen. Soweit die Beklagte erhebliche persönliche Leistungsdefizite der Klägerin anführe, die dazu führten, dass sie auf absehbare Dauer nicht in der Lage sei, ihre vertragliche Arbeitsleistung als Sekretärin zu erfüllen, sei der vorgebrachte Sachvortrag pauschal. Das in der Email vom 14.07.2017 vorgelegte Resümee der Vorgesetzten sei rein subjektiver Natur. Die Klägerin hat mangels konkreten Sachvortrags der Beklagten erstinstanzlich bestritten, dass sich ihre Aufgaben im Wesentliche nur noch auf das Kopieren, Scannen und Botengänge beschränkten. Die Abmahnungen wegen angeblich fehlerhaften Arbeitszeitaufschrieben seien nicht einschlägig. Die in den Abmahnungen vom 04.06.2019 angemahnten Vorfällen wirkten zwar auf den ersten Blick erheblich, jedoch gehe es um Fehler, die nicht zu einer Unverwertbarkeit der Arbeitsleistung der Klägerin an sich führten. Es bleibe offen, in welchem Verhältnis die angemahnten Fehler zur gesamten Arbeitsleistungen stünden. Die Klägerin sei arbeitsfähig. Hierzu hat sie mit Schriftsatz vom 30.09.2020 vorgetragen, dass sie seit mehreren Jahren an einer episodenhaft verlaufenden, psychischen Grunderkrankung leide, diese aber medikamentös eingestellt sei. Aus Sicht des behandelnden Psychotherapeuten bzw. Psychologen bestehe in Bezug auf diese Grunderkrankung Arbeitsfähigkeit. Die Leistungsmängel der Klägerin beruhten auf ihrer Medikamentenabhängigkeit. In einem Gespräch zwischen dem behandelnden Psychiater der Klägerin und der (damaligen) Prozessbevollmächtigten habe sich herausgestellt, dass die Klägerin in eine Abhängigkeit von Benzodiazepin geraten sei. Erst unter dem Eindruck der Kündigung, den hiermit zusammenhängenden Vorwürfen und den Gesprächen der Prozessbevollmächtigten mit dem behandelnden Psychiater habe die Klägerin die Einsicht erlangt, dass zur Verbesserung ihrer Konzentrationsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit zwingend ein Medikamentenentzug erforderlich sei. Die Klägerin habe sich daraufhin umgehend um einen Platz in der Entzugsklinik bemüht und werde auf der Grundlage einer Einweisung vom 09.09.2020 ab dem 05.10.2020 einen Entzug beginnen. Verantwortlich für die Konzentrationsschwierigkeiten der Klägerin sei daher nicht ihre Grunderkrankung, sondern die Medikamentenabhängigkeit und die Wirkungen der langfristigen, missbräuchlichen Einnahme von Lorazepam, derer sich die Klägerin bislang nicht bewusst gewesen sei. Es fehle an einer hinreichenden Interessenabwägung im Hinblick auf die hohen Anforderungen an eine außerordentliche Kündigung tariflich nicht mehr kündbarer Arbeitnehmer, der langjährigen Betriebszugehörigkeit der Klägerin und ihren Unterhaltsverpflichtungen für zwei Kinder. Es sei der Beklagten auch zuzumuten, der Klägerin einen Entzug von ihrer Medikamentenabhängigkeit zu ermöglichen. Nach erfolgreichem Entzug sei eine positive Prognose für den weiteren erfolgreichen Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu erwarten. Die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei nicht gewahrt. Die Anhörung des Personalrats sei fehlerhaft. Er sei vorrangig zu einer außerordentlichen Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen angehört worden, obwohl der Beklagten bekannt gewesen sei, dass die Klägerin erkrankt sei.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin durch die Kündigung der Beklagten vom 12.07.2019 nicht aufgelöst worden ist.

2. Der Beklagte wird verurteilt, die Klägerin für den Fall des Obsiegens mit dem Feststellungsantrag zu 1. zu den bisherigen Arbeitsbedingungen als Sekretärin bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung weiter zu beschäftigen.

Der Beklagte hat erstinstanzlich beantragt, die Klage abzuweisen.

Die außerordentliche Kündigung unter Wahrung der ordentlichen fiktiven Kündigungsfrist nach Tarifvertrag sei rechtswirksam, weil ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB vorliege. Die Klägerin sei infolge erheblicher persönlicher Leistungsdefizite auf unabsehbare Dauer nicht mehr in der Lage, ihre vertragliche Arbeitsleistung als Sekretärin beim Beklagten zu erfüllen. Die Leistungsunfähigkeit der Klägerin verursache eine dauerhafte Überbelastung der betroffenen Redaktion und deren Mitarbeiterinnen, wodurch eine schwere und dauerhafte Störung des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung gegeben sei. Anderweitige Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten für die Klägerin bestünden nicht. Trotzdem die Tätigkeit der Klägerin an ihre Leistungsunfähigkeit angepasst worden sei, habe die Leistungsstörung nie beseitigt werden können. Im Einzelnen hat die Beklagte erstinstanzlich vorgetragen, dass die Klägerin ab 2014 durch ihre Vorgesetzte und die Mitarbeiterin Frau X. intensiv gecoacht und durch regelmäßige Feedback-Gespräche unterstützt worden sei. Arbeitsabläufe seien der Klägerin wiederholt erklärt worden. Dennoch hätten Arbeitsaufträge kontrolliert und oftmals nachgearbeitet werden müssen. 2017 hätten sich die Leistungsdefizite der Klägerin weiter verstärkt, so dass es erneut zu Gesprächen mit der Klägerin gekommen sei, in denen ihr ihre unzureichenden Leistungen nochmals ausführlich aufgezeigt worden seien. Danach hätten sich die Aufgaben der Klägerin im Wesentlichen nur noch auf Kopieren, Scannen und Botengänge beschränkt. Selbst derartige einfache Hilfstätigkeiten seien von der Klägerin nur noch mit einer Vielzahl von Fehlern ausgeführt worden, wodurch ein enormer Kontroll- und Bearbeitungsaufwand bei den Kolleginnen verursacht worden sei. Aus dem seitens der Klägerin geführten Tätigkeitsnachweisen seit April 2019 gehe hervor, dass sie für einfachste Tätigkeiten einen nicht nachvollziehbaren hohen Zeitaufwand benötige. Die Probleme bei der Leistungserbringung beruhten sehr wahrscheinlich auf einer psychischen Erkrankung der Klägerin und/oder ihrer Medikation. Die Klägerin habe das Angebot zum BEM am 26.10.2017 schriftlich abgelehnt. Die auf Vorschlag des Betriebsarztes 2017 begonnene stationäre Rehabilitation habe sie nach wenigen Tagen abgebrochen. Das Verhalten der Klägerin sei vor Ausspruch der Kündigung vorsorglich mehrfach abgemahnt worden. Ein milderes Mittel als die Kündigung stünde nicht zur Verfügung. Die in der Vergangenheit vorgenommenen Anpassungen der Tätigkeit der Klägerin an ihre verminderte Leistungsfähigkeit hätten die Leistungsstörung nicht beseitigen können. Zum Zeitpunkt der Kündigung sei sie unfähig gewesen, einfachste Arbeiten zu erbringen, wie der Auftrag an sie, frankierte Rückumschläge von der Poststelle abzuholen, zeige. Eine andere freie Stelle oder sonstige Position, auf der die Klägerin hätte weiterbeschäftigt werden können, gebe es nicht. Mit Blick auf die innerbetrieblichen und auch wirtschaftlichen Folgen sei ein weiterer Einsatz der Klägerin für die Beklagte nicht tragbar. Ihre Weiterbeschäftigung bis zum Renteneintritt würde zu einer Kostenbelastung in Höhe von ca. 1,7 Mio. € (Stand Juni 2019; Ermittlung aus dem Bruttogehalt zzgl. Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers sowie Einberechnung fiktiver Tariferhöhungen) führen. Diesem Aufwand stünden mit Blick auf die fehlende Leistungsfähigkeit der Klägerin und die negative Prognose keine adäquate Gegenleistung der Klägerin gegenüber. Die Klägerin sei selbst bei intensivster Betreuung und Bemühungen durch Vorgesetzte und Kolleginnen nicht in der Lage, ihre Arbeitsleistungen vertragsgemäß zu erbringen. Sie befinde sich seit Jahren in medizinischer und psychologischer Behandlung, ohne dass eine Besserung eingetreten wäre oder eintreten werde. Jegliche Angebote der Personalabteilung, des betriebsärztlichen Dienstes und der betrieblichen Sozialberatung zur Verbesserung ihrer persönlichen Situation habe die Klägerin abgeblockt.

Das Arbeitsgericht München hat der Klage durch Urteil vom 02.12.2020 – 22 Ca 8178/19 – stattgegeben. Die Kündigung sei unwirksam, weil ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB i.V.m. Tarifziffer 275.1 MTV nicht vorliege. Eine außerordentliche verhaltensbedingte Kündigung scheide aus, da die Defizite der Klägerin nicht auf einem steuerbaren Verhalten beruhten. Eine außerordentliche Kündigung aus personenbedingten Gründen scheitere daran, dass die Beklagte jedenfalls nicht ihrer Darlegungslast im Hinblick auf den Vorrang milderer Mittel genügt habe. Es werde nicht klar, welche Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten bei der Beklagten potentiell zur Verfügung stünden und in welcher Weise diese Möglichkeiten geprüft worden seien. Der entsprechende Vortrag der Beklagten sei zu pauschal. Auch fehle ein Vortrag der Beklagten dahingehend, wann der Klägerin im Sinne der Tarifziffer 275.2 MTV welche zumutbare Änderung des bisherigen Arbeitsvertrags angeboten worden sei.

Gegen dieses, ihren Prozessbevollmächtigten am 12.01.2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 10.02.2021 Berufung beim Landesarbeitsgericht München eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 23.04.2021 am 23.04.2021 begründet.

Die Kündigung sei wirksam, da ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB vorliege. Es sei der Beklagten aus personenbedingten Gründen unzumutbar gewesen, die Klägerin über den Ablauf der sozialen Auslauffrist weiter zu beschäftigen. Die Klägerin sei bereits aufgrund ihrer Grunderkrankung dauerhaft nicht mehr in der Lage, einfachste Sekretariatstätigkeiten (Botengänge, Kopien, Scans und Ablage) oder gar Tätigkeiten der Richtposition „Sekretärin B“ ordnungsgemäß auszuüben. Hiergegen sprächen die von ihr eingenommenen Medikamente, die erhebliche Nebenwirkungen wie Sedierung, Schläfrigkeit, Konzentrationsstörungen, Antriebslosigkeit etc. hätten. Dem von ihr vorgelegten Attest vom 16.05.2021 sei nicht zu entnehmen, dass die Klägerin ihre arbeitsvertragliche Leistung als Sekretärin trotz der bestehenden paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie und der erforderlichen Medikation ordnungsgemäß ausüben könne. Die gesundheitliche Prognose in Bezug auf die Grunderkrankung sei negativ, da die Klägerin seit Jahren in medizinischer und psychologischer Behandlung sei, ohne dass eine Besserung eingetreten sei. Darüber hinaus sei die Klägerin aufgrund ihrer Abhängigkeit von Benzodiazepin nicht mehr zur Erbringung ihrer Arbeitsleistungen fähig. Die Abhängigkeit von Benzodiazepin führe, wie die Klägerin im erstinstanzlichen Verfahren selbst ausgeführt habe, zu kognitiven Störungen (eingeschränkte Konzentration, Vergesslichkeit) und einer gewissen Sedierung. Eine Sedierung als auch kognitive Störungen wirkten sich bei allen bei der Beklagten zu erledigenden Tätigkeiten negativ auf die Arbeit aus. Einfachere Hilfstätigkeiten, als die der Klägerin zuletzt zugewiesenen, bei denen sich die Sedierung und die kognitiven Störungen nicht negativ auswirken würden, gäbe es nicht. Die für die Klägerin zu stellende Prognose in Bezug auf ihre Medikamentenabhängigkeit sei negativ. Es habe im Zeitpunkt der Kündigung an einer Therapiebereitschaft der Klägerin gefehlt. Die Klägerin sei nach ihren erstinstanzlichen Behauptungen erst im September 2020, d.h. mehr als ein Jahr nach Ausspruch der Kündigung, und erst nach massivem Druck ihrer damaligen Anwältin und ihrer Ärzte bereit für eine Therapie gewesen. Die Beklagte bestreitet, dass sich die Klägerin im Herbst 2020 einer Entzugsbehandlung für Benzodiazepin unterzogen hätte. Auch sei der Ablauf und das Ergebnis des Entzugs im Unklaren geblieben. Die Beklagte habe unstreitig vor Ausspruch der Kündigung keine Kenntnis vom Medikamentenmissbrauch der Klägerin gehabt. Zudem sei eine frühere Therapie von der Klägerin abgebrochen worden. Die Klägerin könne sich deshalb nach Treu und Glauben nicht darauf berufen, die Beklagte hätte ihr vor Ausspruch der Kündigung die Möglichkeit einer Entziehungskur einräumen müssen. Der Beklagten sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den 31.12.2020 hinaus unzumutbar. Die Belastungsgrenze bei den Mitarbeiterinnen in der Redaktion sei seit längerer Zeit weit überschritten. Eine Weiterbeschäftigung der Klägerin bis zum Renteneintritt würde zu einer erheblichen Kostenbelastung von ca. 1,7 Mio. € führen, ohne dass die Beklagte wegen der fehlenden Leistungsfähigkeit der Klägerin eine adäquate Gegenleistung erhielte. Aufgrund der Art der Erkrankung der Klägerin und dem Krankheitsbild gebe es bei der Beklagten keinerlei potentielle Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten für die Klägerin, so dass keine weitergehenden Ausführungen bzgl. der Prüfung der nicht bestehenden Möglichkeiten zur Erfüllung der Darlegungslast erforderlich seien. Gleiches gelte für die Darlegungslast betreffend Tarifziffer 275.2 MTV. Im Übrigen habe der Beklagte etwaige, für die Klägerin in Betracht kommende Beschäftigungs- und Einsatzmöglichkeiten geprüft. Die Sedierung verbunden mit kognitiven Störungen führe nicht nur hinsichtlich den von der Klägerin zuletzt ausgeführten einfachsten Sekretariatstätigkeiten zu einer Leistungsunfähigkeit, sondern in gleicher Weise auch bei allen anderen bei der Beklagten anfallenden Tätigkeiten. Schließlich könne der Beklagten nicht zur Last gelegt werden, dass sie mit dem Ausspruch einer personenbedingten Kündigung längere Zeit zugewartet und erst aus ihrer Sicht alles Mögliche versucht habe, eine solche Kündigung zu vermeiden. Mit diesem Verhalten sei das eingeschränkte Leistungsvermögen der Klägerin weder hingenommen noch stillschweigend akzeptiert worden. Da ein Dauerstörtatbestand vorliege, habe die Beklagte bei Ausspruch der Kündigung auch die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten. Die Personalratsanhörung sei ordnungsgemäß erfolgt. Der Personalrat sei um Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung aus verhaltensbedingten, alternativ krankheitsbedingten wichtigen Gründen gebeten worden. Dabei habe die Beklagte dem Personalrat die ihr bekannten Leistungsstörungen, die Belastungen für die Redaktion und die Kolleginnen, die mangelnden Einsatzmöglichkeiten und die negative Prognose mitgeteilt. Die Beklagte habe nicht mehr ausführen können, da sie keine Kenntnisse von der eigentlichen Krankheit der Klägerin, ihren Ursachen, der Medikation und dem Krankheitsbild gehabt hätte und sich auch nicht weitere Informationen hätte verschaffen können. Erst im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens habe sich aufgrund des Vorbringens der Klägerin ergeben, dass ihre Leistungsunfähigkeit auf einer Abhängigkeit von Benzodiazepin in Verbindung mit einer psychischen Erkrankung beruhe. Die Beklagte beschränke sich bei der Begründung im laufenden Verfahren auf den krankheitsbedingten wichtigen Grund.

Der Beklagte beantragt:

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 02.12.2020, Az: 22 Ca 8178/19, der Beklagten zugestellt am 12.01.2021, wird abgeändert.

2. Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Kündigung sei mangels wichtigen Grundes unwirksam. Die Grundsätze des Bundesarbeitsgerichts zur Alkohol- und Drogenabhängigkeit könnten nicht auf die streitgegenständliche Kündigung übertragen werden. Sie seien nicht für den hier vorliegenden Fall eines unkündbaren Arbeitnehmers entwickelt worden. Darüber hinaus sei die Einnahme von Benzodiazepin zumindest über einen bestimmten Zeitraum nicht missbräuchlich, sondern medizinisch notwendig gewesen. Jedenfalls bestehe bei der Klägerin keine negative Gesundheitsprognose. Die Erkrankung der Klägerin könne medikamentös so eingestellt werden, dass eine normale Teilhabe am Arbeitsleben möglich sei. Die Klägerin befinde sich „diesbezüglich“ sowohl in psychiatrischer als auch in psychotherapeutischer Behandlung. Die Klägerin nehme seit Herbst 2020, als sie sich einer entsprechenden Entzugsbehandlung unterzogen habe, kein Benzodiazepin mehr ein. Die jetzt von der Klägerin eingenommenen Medikamente müsse sie aufgrund ihrer Erkrankung einnehmen. Diese Medikation beeinträchtige die Arbeitsfähigkeit der Klägerin nicht in relevanter Weise. Ein Benzodiazepin-Entzug sei auch zum Zeitpunkt der Kündigung geplant gewesen. Die Interessenabwägung fiele zu Gunsten der Klägerin aus. Mit der bloßen Behauptung, dass die Sedierung verbunden mit kognitiven Störungen bei der Klägerin zu einer entsprechenden Leistungsunfähigkeit führe, sei nicht schlüssig dargetan, dass die Klägerin zur Ausführung jeder bei der Beklagten anfallenden Tätigkeit unfähig sei. Zudem habe die Klägerin, da der Beklagten die angebliche Minderleistung seit spätestens 2012 bekannt gewesen sei, darauf vertrauen dürfen, dass die Beklagte mit der von der Klägerin angebotenen Arbeitsleistung einverstanden sei und keine entsprechenden Konsequenzen ziehen würde. Die Klägerin sei alleinerziehende Mutter zweier Kinder. Der geschiedene Ehemann leiste keine Unterhaltszahlungen. Es werde bestritten, dass 2017 ein BEM eingeleitet worden sei. Es dürfte unstreitig sein, dass im Falle der Klägerin ein BEM-Verfahren kein geeignetes Mittel gewesen sei.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die von ihnen eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Es liegt ein nervenärztliches Attest des die Klägerin behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Neurologie, Dr. med. W. vom 16.05.2021 vor, für dessen Inhalt auf Bl. 543 d. A. Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig und begründet.

I.

Die nach § 64 Abs. 2 lit. c) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520 ZPO, und damit zulässig.

II.

Die Berufung ist begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist aufgrund der außerordentlichen Kündigung vom 12.07.2019 mit sozialer Auslauffrist am 31.12.2020 aufgelöst worden. Die Kündigung ist wirksam. Der Weiterbeschäftigungsanspruch ist unbegründet.

1. Der Beklagte war berechtigt, das tarifvertraglich unkündbare Arbeitsverhältnis gemäß Tarifziffer 275.1 MTV i.V.m. § 626 Abs. 1 BGB aus wichtigem Grund zu kündigen.

a) Mit dem Begriff des „wichtigen Grundes“ knüpft eine tarifvertragliche Bestimmung an die gesetzliche Regelung des § 626 BGB an, deren Verständnis deshalb auch für die Auslegung der Tarifnorm maßgebend ist (vgl. BAG, Urteil vom 25.04.2018 – 2 AZR 6/18 – Rn. 14 f. zur vergleichbaren Regelung in § 34 Abs. 2 Satz 1 TV-L). Bei einer derartigen Bezugnahme gilt zugleich § 626 Abs. 2 BGB, wonach die außerordentliche Kündigung nur innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Wochen erklärt werden kann (vgl. BAG, Urteil vom 28.10.2010 – 2 AZR 688/09 – Rn. 31 f. zur vergleichbaren Regelung in § 34 TVöD).

b) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die außerordentliche Kündigung wegen Krankheit nicht als wichtiger Grund i. S. d. § 626 Abs. 1 BGB ungeeignet. Grundsätzlich ist es dem Arbeitgeber aber zuzumuten, die geltende Kündigungsfrist einzuhalten. Eine außerordentliche Kündigung kommt daher nur in eng begrenzten Fällen in Betracht, etwa bei einem Ausschluss der ordentlichen Kündigung auf Grund tarifvertraglicher oder einzelvertraglicher Vereinbarungen. Ist schon an eine ordentliche Kündigung wegen krankheitsbedingter Einschränkungen des Arbeitnehmers ein strenger Maßstab anzulegen, gehen die Anforderungen an die Wirksamkeit einer auf Krankheit gestützten Kündigung darüber noch hinaus. Es bedarf eines gravierenden Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung. Schon eine ordentliche Kündigung wegen einer Leistungsminderung setzt voraus, dass die verbliebene Arbeitsleistung die berechtigte Gleichwertigkeitserwartung des Arbeitgebers in einem Maße unterschreitet, dass ihm ein Festhalten an dem (unveränderten) Arbeitsvertrag unzumutbar ist. Für die außerordentliche Kündigung gilt dies in noch höherem Maße (vgl. BAG, Urteil vom 20.03.2014 – 2 AR 825/12 – Rn. 20; Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – unter II. 2. a).

c) Eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung infolge Alkoholismus kommt in Fällen sog. Unkündbarkeit je nach den Umständen als wichtiger Grund in Betracht (vgl. BAG, Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – unter II. 2. b) aa); 20.12.2012 – 2 AZR 32/11 – Rn. 14; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.04.2021 – 5 Sa 331/20 – Rn. 28). Zur Vermeidung des Wertungswiderspruchs muss dann allerdings zu Gunsten des Arbeitnehmers zwingend eine der fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist entsprechende Auslauffrist eingehalten werden. Überdies muss der Prüfungsmaßstab den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die nach § 626 Abs. 1 BGB an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind (vgl. BAG, Urteil vom 25.04.2018 – 2 AZR 6/18 – Rn. 16 m.w.N.). Für den Fall von Alkoholismus setzt eine außerordentliche Kündigung mit Auslauffrist wegen Krankheit nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Prüfung in drei Stufen voraus. Im Zeitpunkt der Kündigung muss die Prognose gerechtfertigt sein, der Arbeitnehmer biete aufgrund einer Alkoholsucht dauerhaft nicht die Gewähr, in der Lage zu sein, die vertraglich geschuldete Tätigkeit ordnungsgemäß zu erbringen (1. Stufe). Für die Prognose im Hinblick auf die weitere Entwicklung einer Alkoholerkrankung kommt es entscheidend darauf an, ob der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Kündigung bereit ist, eine Entziehungskur bzw. eine Suchttherapie durchzuführen. Weitere Voraussetzung ist, dass daraus eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen folgt (2. Stufe), die durch mildere Mittel – etwa eine Versetzung – nicht abgewendet werden kann und die auch bei einer Abwägung gegen die Interessen des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden muss (3. Stufe) (vgl. BAG, Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – a.a.O.; 20.12.2012 – 2 AZR 32/14 – Rn. 14 m.w.N.; 20.03.2014 – 2 AZR 565/12 – Rn. 15 m.w.N.; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.04.2021 – 5 Sa 331/20 – Rn. 27). Dabei muss die Prüfung in allen drei Stufen den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind (vgl. schon BAG, Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – a.a.O.).

d) Diese Grundsätze sind auf eine außerordentliche Kündigung wegen Medikamentenmissbrauchs zu übertragen. Auch der Medikamentenmissbrauch ist wie der Alkoholismus oder Drogenmissbrauch eine Krankheit im medizinischen Sinn (vgl. Zimmermann in Gallner/Mestwerdt/Nägele, KSchR, 7. Aufl. 2021, § 1 KSchG Rn. 354; Ross/Bufalick in Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath, Arbeitsrecht, 4. Aufl. 2017, § 1 KSchG Rn. 123 vgl. Linck in Schaub, ArbRHdb., 19. Aufl. 2021, § 131 Rn. 18; vgl. Linck in Schaub, ArbRHdb., 19. Aufl. 2021, § 131 Rn. 18). Der Krankheitscharakter der Benzodizepin-Abhängigkeit wird zudem nicht dadurch ausgeschlossen, dass der Wirkstoff Benzodiazepin zunächst medizinisch indiziert war und der Klägerin verordnet worden ist. Ab der Entwicklung einer Abhängigkeit bestand ein Krankheitswert.

e) Danach ist ein wichtiger Grund für die streitgegenständliche Kündigung gegeben.

aa) Nach Überzeugung der Kammer lag im für die Beurteilung der Kündigung maßgeblichen Zeitpunkt ihres Zugangs im Juli 2019 eine Benzodiazepin-Abhängigkeit der Klägerin vor. Nach ihrem erstinstanzlichen Vortrag hatte die Klägerin aufgrund der beruhigenden Wirkung von Benzodiazepin in der Vergangenheit langfristig und missbräuchlich das Medikament Lorazepam konsumiert, was ihr erst unter dem Eindruck der Kündigung, der hiermit zusammenhängenden Vorwürfe und den Gesprächen ihrer damaligen Prozessbevollmächtigten mit dem behandelnden Psychiater und mithin nach Zugang der Kündigung bewusst geworden sei. Diese Einlassung hat die Klägerin zwar in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer am 24.06.2021 bestritten, indem sie eine Medikamentenabhängigkeit überhaupt infrage gestellt hat. Jedoch bestätigt das von ihr vorgelegte nervenärztliche Attest vom 16.05.2021, dass sie jedenfalls bis Herbst 2020 an einer Benzodiazepin-Abhängigkeit litt. Denn erst im Herbst 2020 soll die Klägerin einen Benzodiazepin-Entzug unternommen und dadurch generalisierte Krampfanfälle erlitten haben (vgl. Anl. K5 = Bl. 543 d. A.).

bb) Durch diese Benzodiazepin-Abhängigkeit war im Zeitpunkt der Kündigung die Prognose gerechtfertigt, die Klägerin biete dauerhaft nicht die Gewähr, in der Lage zu sein, die vertraglich geschuldete Tätigkeit ordnungsgemäß zu erbringen.

Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass eine Benzodiazepin-Abhängigkeit zu einer leichten Sedierung, kognitiven Störungen sowie Konzentrationsschwierigkeiten führen kann. Tatsächlich haben sich solche Nebenwirkungen der Benzodiazepin-Abhängigkeit bei der Klägerin im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung gezeigt. Es war ihr nicht möglich, den Arbeitsauftrag ihrer Kollegin vom 06.06.2019, zur Poststelle zu gehen und sechs frankierte Rückumschläge für einen 20g-Brief unter Angabe der Kostenstelle 3420 ausstellen zu lassen (vgl. Email vom 06.06.2019, Bl. 368 d. A.), nachzuvollziehen und auszuführen. Sie erklärte hierzu in ihrer E-Mail vom 06.06.2019 (vgl. Email vom 06.06.2019, Bl. 369 d. A.):

„Ich verstehe nicht, was ich machen soll bei PS.“

Bei diesem Arbeitsauftrag handelt es sich um eine einfache, aus sich heraus verständliche Anweisung, wie sie auch von neu eingestellten Arbeitskräften, Praktikanten und vergleichbaren Personen verrichtet werden kann. Ist der Klägerin die Erledigung eines solchen Arbeitsauftrags kognitiv nicht möglich, ist nicht vorstellbar, dass sie im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung im Juli 2019 in der Lage gewesen sein sollte, Tätigkeiten einer Sekretärin der Richtposition „Sekretärin B“ ordnungsgemäß zu erbringen, wie Vordrucke z. B. Anforderungen, Anmeldungen, Krank- und Gesundmeldungen, Urlaubsanträge u. ä. ausfüllen, Standardbriefe verfassen, einfache Ergebnisprotokolle anfertigen u.a. In diesem Zusammenhang ist auch die Behauptung der Beklagten als zugestanden anzusehen, dass sich die Aufgaben der Klägerin zuletzt nur noch auf das Kopieren, Scannen und Botengänge und damit auf kleinste Ausschnitte der Tätigkeiten einer Sekretärin der Richtposition „Sekretärin B“ beschränkten. Da die Klägerin aus eigener Wahrnehmung weiß, welche Tätigkeiten sie verrichtet hat, hätte sie qualifizierte Tätigkeiten einer Sekretärin der Richtposition „Sekretärin B“, die sie in den letzten Jahren verrichtet haben will, vortragen können. Für ihren Vortrag kam es nicht darauf an, ob die Beklagte im Einzelnen dargelegt hat, an welchem Tag der Klägerin ein Kopier-, Scan- oder Botenauftrag erteilt worden ist. Insoweit war ihr Bestreiten unzulässig, § 138 Abs. 4 ZPO.

Dass es der Klägerin im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung unmöglich war, ihre arbeitsvertraglichen Pflichten ordnungsgemäß zu erledigen, kommt auch in der Stellungnahme des Personalrats zum Ausdruck. Er zieht in Kenntnis der bei der Beklagten verwendeten Multifunktionsgeräte aus den in der Anhörung detailliert geschilderten Versäumnissen, Verfehlungen und Schlechtleistungen der Klägerin den Schluss, dass die Klägerin wohl seit langem schon nicht mehr im Stande zu sein scheint, ihre Aufgaben und Tätigkeitsfelder geistig richtig zu erfassen, zu verstehen, abzuspeichern, nachzuvollziehen und in der Folge richtig oder überhaupt ausführen zu können bzw. die Erklärungen/Hilfestellungen dazu verstehen und anwenden zu können. Diese Einschätzung hat die Klägerin, die sich erstinstanzlich mit der Personalratsanhörung auseinandergesetzt hat, nicht als falsch gerügt.

Aufgrund der weiteren (erstinstanzlichen) Behauptung der Klägerin, sie sei in Bezug auf die Grunderkrankung der paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie medikamentös eingestellt und in Bezug auf sie bestehe aus Sicht des behandelnden Psychotherapeuten und behandelnden Psychiaters Arbeitsfähigkeit, ist zu folgern, dass die kognitiven Ausfallerscheinungen der Klägerin allein auf ihre Benzodiazepin-Abhängigkeit zurückzuführen sind. Sie liegen auch langjährig vor, da die Klägerin eine langfristige, missbräuchliche Einnahme von Lorazepam/Benzodiapezin eingeräumt hat. Da es ausschließlich auf die objektiven Verhältnisse bei Zugang der Kündigung ankommt, ist es ohne Belang, dass der Beklagten die im Kündigungszeitpunkt bestehende Benzodiazepin-Abhängigkeit der Klägerin nicht bekannt war (vgl. BAG, Urteil vom 17.06.1999 – 2 AZR 639/98 – unter II. 2. b) aa) der Gründe).

Die Klägerin war im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung auch nicht therapiebereit, weshalb nicht zu erwarten war, dass zum Ablauf der sozialen Auslauffrist am 31.12.2020 eine positive Prognose zu stellen war. Nach ihren erstinstanzlichen Angaben (Schriftsatz vom 30.09.2020, Seite 6 = Bl. 391 d. A.) war sich die Klägerin bis Herbst 2020 ihrer Medikamentenabhängigkeit und den Wirkungen der langfristigen, missbräuchlichen Einnahme von Lorazepam/Benzodiapezin „bislang nicht bewusst.“ Erst nach einem Entzug, den sie im Herbst 2020 geplant und unternommen haben will, erwartete die Klägerin eine positive Prognose (vgl. Schriftsatz vom 30.09.2020, Seite 10 = Bl. 395 d. A.). Soweit die Klägerin zweitinstanzlich behauptet hat, sie habe einen Entzug bereits im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung „geplant“, genügt sie der abgestuften Darlegungs- und Beweislast im Rahmen der krankheitsbedingten Kündigung nicht. So kann der Arbeitgeber bei einer krankheitsbedingten Kündigung wegen Alkoholismus verlangen, dass der Arbeitnehmer die im Kündigungszeitpunkt vorliegende ernsthafte Bereitschaft, eine Alkoholtherapie durchzuführen, nachweist (vgl. BAG, Urteil vom 20.03.2014 – 2 AZR 565/12 – Rn. 20, 21; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.04.2021 – 5 Sa 331/20 – Rn. 32). Die Klägerin hätte deshalb ihre Bemühungen um eine Therapie zur Überwindung ihrer Benzodiazepin-Abhängigkeit im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung darlegen und vorsorglich unter Beweis stellen müssen. Eines gesonderten gerichtlichen Hinweises bedurfte es insoweit nicht, weil die Klägerin bereits in der Verhandlung vom 24.06.2021 auf die entsprechende Rechtsprechung des BAG hingewiesen worden war.

Die Klägerin kann von der Beklagten auch nicht verlangen, ihr vorab einen Entzug von ihrer Medikamentenabhängigkeit zu ermöglichen. Zwar hat ein Arbeitgeber, der einem alkoholkranken Arbeitnehmer aus personenbedingten Gründen kündigen will, diesem in der Regel nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuvor die Chance zu einer Entziehungskur zu geben. Hierauf kann sich der Arbeitnehmer nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) jedoch dann nicht berufen, wenn der Arbeitnehmer den Arbeitgeber in sog. Fehlzeitengesprächen oder im Zusammenhang mit einem BEM vor Ausspruch der Kündigung nicht über seine Alkoholerkrankung unterrichtet und der Arbeitgeber auch aus sonstigen Umständen keine Kenntnis von der Alkoholsucht des Arbeitnehmers hat. Das Verheimlichen der Sucht lässt vielmehr darauf schließen, dass der Arbeitnehmer bis zur Kündigung nicht therapiebereit war (vgl. Linck in Schaub, ArbRHdb., 19. Aufl. 2021, § 131 Rn. 18; BAG, Urteil vom 19.06.1999 – 2 AZR 639/98 – unter II. 2. b) bb) der Gründe).

Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass der Beklagten die Benzodiazepin-Abhängigkeit der Klägerin vor Ausspruch der Kündigung nicht bekannt war. Die Klägerin hat sie erstmals in ihrem erstinstanzlichen Schriftsatz vom 30.09.2020 und damit gut 1 ¼ Jahre nach Zugang der streitgegenständlichen Kündigung eingeräumt. Darüber hinaus hat die Klägerin – insofern unstreitig – mit Schreiben vom 26.10.2017 das Angebot zum BEM, das im Einzelnen zwischen den Parteien streitig ist, abgelehnt und dadurch von der Möglichkeit, die medizinischen Hintergründe ihres Verhaltens und ggf. ihre Benzodiazepin-Abhängigkeit zu offenbaren, Abstand genommen. Ebenso ist es unstreitig, dass der Betriebsarzt Kontakt zur Klägerin aufgenommen hatte, um sie von einer stationären Rehabilitation zu überzeugen. Wenn die Klägerin in diesem Zusammenhang beanstandet, die Beklagte habe nicht vorgetragen, wegen welcher Erkrankung der Betriebsarzt sie kontaktiert habe, geht ihre Rüge ins Leere. Aufgrund seiner Verschwiegenheitspflicht durfte der Betriebsarzt der Beklagten keine gesundheitlichen Informationen über die Klägerin geben bzw. die Beklagte bei diesem nachfragen. Jedenfalls hat die Klägerin auch diesen Kontakt nicht zum Anlass genommen, um den Betriebsarzt bzw. über ihn die Beklagte darüber zu informieren, dass sie Lorazepam/Benzodiapezin langfristig und missbräuchlich einnimmt. Dieser Wertung steht die Behauptung der Klägerin, ihr sei ihre Benzodiazepin-Abhängigkeit bis zum Herbst 2020 nicht bewusst gewesen, nicht entgegen. Eine missbräuchliche Verwendung eines Medikaments liegt schon dann vor, wenn die Einnahmevorgaben, die der Klägerin bekannt waren, nicht eingehalten werden. Das hohe Abhängigkeitspotential von Benzodiazepinen ist allgemein bekannt. Nähere Umstände über ihre Benzodiazepin-Abhängigkeit hat die nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungslast verpflichtete Klägerin zudem nicht mitgeteilt, und zwar auch nicht nach Hinweis des Gerichts vom 24.06.2021, dass sie sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht auf die Chance einer Entziehungskur berufen könne, wenn die Beklagte keine Kenntnis von ihrem Medikamentenmissbrauch gehabt hätte.

Soweit die Klägerin im Herbst 2020 einen Entzug von ihrer Benzodiazepin-Abhängigkeit unternommen haben will, ist dies nicht geeignet, die Negativprognose zu korrigieren. Eine nach Zugang einer Kündigung durchgeführte Entziehungsbehandlung und die dadurch bedingte Entwicklung einer Medikamentensucht kann als neuer Kausalverlauf für die bei Zugang der Kündigung anzustellende Prognose nicht berücksichtigt werden. Ist eine neue Ursachenkette begründet, besagt die tatsächliche Krankheitsentwicklung nichts über die Richtigkeit der zum Kündigungszeitpunkt erstellten Prognose aus (vgl. BAG, Urteil vom 17.06.1999 – 2 AZR 639/98 – unter II. 2. b) aa) der Gründe; LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.04.2021 – 5 Sa 331/20 – Rn. 33). Im Übrigen hat die Klägerin trotz Bestreitens durch die Beklagte weder dargelegt noch unter Beweis gestellt, dass der Benzodiazepin-Entzug erfolgreich war.

cc) Aus dem Umstand, dass eine auf Dauer ordnungsgemäße Leistungserbringung durch die Klägerin nicht zu erwarten war, folgt eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen (vgl. BAG, Urteil vom 20.12.2012 – 2 AZR 32/11 – Rn. 29).

Es ist offenkundig, dass die Klägerin im Zustand leichter Sedierung mit kognitiven Störungen einschließlich Konzentrationsschwierigkeiten ihre arbeitsvertraglich geschuldeten Tätigkeiten als Sekretärin nach der Richtposition „Sekretärin B“ nicht erfüllen kann. Sie muss danach nicht nur Stenogramme aufnehmen, sondern auch in formgerechte, fehlerfreie Schriftstücke übertragen. Gleiches gilt für das Übertragen von Direktdiktaten in Arbeitsunterlagen. Darüber hinaus obliegt ihr das Ausfüllen von Vordrucken wie Anforderungen, Anmeldungen, Krank- und Gesundmeldungen, Urlaubsanträge u.ä. und das Verfassen von Standardbriefen und -mitteilungen. Auch die weiteren, von der Beklagten angeführten Tätigkeiten kann die Klägerin nicht verrichten. Dies ergibt sich aus den dokumentierten Beanstandungen von Arbeitsaufträgen in der Vergangenheit, auch wenn Einzelheiten streitig sein mögen, vor allem aber aus dem Auftrag vom 06.06.2019, sechs frankierte Rückumschläge aus der Poststelle zu holen, zu dem die Klägerin erwiderte, sie verstehe nicht, was sie bei der Poststelle tun solle. Die kognitiven Einschränkungen, die der Erledigung der Arbeiten einer Sekretärin nach der Richtposition „Sekretärin B“ entgegenstehen, hat zudem der Personalrat beschrieben.

Eine andere Möglichkeit, die Klägerin zu beschäftigen, bestand nach dem Vorbringen der Beklagten nicht. Die Beklagte hat vorgetragen, dass die Sedierung der Klägerin verbunden mit kognitiven Störungen (Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit, Konzentrationsmängel, Vergesslichkeit etc.) es ausschließe, sie anderweitig einzusetzen und zu beschäftigen. Erstinstanzlich hat die Klägerin keine Tätigkeit genannt, die sie in einem solchen Zustand verrichten könne. Vielmehr hat sie erklärt, dass zur Arbeitsfähigkeit zwingend ein Medikamentenentzug erforderlich und nach einem erfolgreichen Entzug von der Benzodiazepin-Abhängigkeit ein weiterer erfolgreicher Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu erwarten sei (vgl. Schriftsatz vom 30.09.2020, Seite 6 und 10). Bis dahin schloss folglich auch die Klägerin eine ordnungsgemäße Erbringung der vertraglich geschuldeten Tätigkeiten aus. Soweit die Klägerin zweitinstanzlich rügt, der Vortrag der Beklagten zu anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten sei unsubstanziiert, setzt sie sich zum einen in Widerspruch zu ihren erstinstanzlichen Einlassungen, ohne diesen Widerspruch aufzulösen; zum anderen hätte die Klägerin im Rahmen der sekundären Darlegungs- und Beweislast darlegen müssen, zu welchen konkreten Leistungen sie mit den gesundheitlichen Einschränkungen aufgrund einer Benzodiazepin-Abhängigkeit in der Lage war. Wie die Klägerin zu Recht hervorhebt, kann die Beklagte dies aufgrund ihres eigenen Wissensstandes nicht wissen und damit auch alternative Beschäftigungsmöglichkeiten nicht eruieren. Auch das von der Klägerin vorgelegte nervenärztliche Attest vom 16.05.2021 trifft hierzu keine Aussage. Der Beklagten obliegt insoweit im Hinblick auf ein BEM keine erhöhte Darlegungslast. Die Klägerin behauptet nicht, dass die Voraussetzungen eines BEM im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vorlagen, und stellt es im Übrigen unstreitig, dass in ihrem Fall ein BEM kein geeignetes Mittel war. Eine Pflicht der Beklagten aus Tarifziffer 275.2 MTV, der Klägerin eine zumutbare Änderung ihres bisherigen Arbeitsvertrags anzubieten, ist aus den gleichen Gründen zu verneinen.

f) Schließlich ergibt die Abwägung der beiderseitigen Interessen, dass die Belange des Beklagten an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf der sozialen Auslauffrist überwiegen.

Für die Prüfung, ob der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar ist, ist nicht auf die Dauer der fiktiven Kündigungsfrist, sondern auf die tatsächliche künftige Vertragsbindung abzustellen (vgl. BAG, Urteil vom 04.02.1993 – 2 AZR 469/92 – unter II. 3. a) der Gründe). Insoweit hat der Beklagte unbestritten vorgetragen, dass eine Weiterbeschäftigung der Klägerin bis zum Renteneintritt mit einer Kostenbelastung von ca. 1,7 Mio. € (Stand Juni 2019, Ermittlung aus dem Bruttogehalt zzgl. Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers sowie Einberechnung fiktiver Tariferhöhungen) einhergeht. Zusätzlich erwirtschaftete Anwartschaften der Altersvorsorge sind darin nicht enthalten. Dem steht gegenüber, dass die Klägerin nach der im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung anzustellenden Prognose in Zukunft die geschuldete Arbeitsleistung als Sekretärin nach Richtposition „Sekretärin B“ oder eine ihren Fähigkeiten angepasste Arbeitsleistung nicht mehr erbringen kann. Das auf Leistung und Gegenleistung beruhende Arbeitsverhältnis wäre sinnentleert, und zwar im Hinblick auf das relativ junge Lebensalter der Klägerin von 00 Jahren für eine Restdauer von über 00 bis zu ihrer Verrentung. Dieses relativ junge Lebensalter spricht umgekehrt dafür, dass der Klägerin die Kündigung zumutbar ist. Es dürfte ihr grundsätzlich möglich sein, auf dem von Arbeitgebern nachgefragten Arbeitsmarkt in A-Stadt wieder eine Anstellung zu finden. Dabei geht die Klägerin von der Wiedererlangung ihrer Arbeitsfähigkeit fest aus. Unterhaltspflichten bestehen unstreitig nur für ein 00 Jahre altes Kind. Für das zweite Kind hat die Klägerin ihre Unterhaltspflicht nicht belegt. Soweit die Klägerin darauf verweist, ihr geschiedener Ehemann leiste keine Unterhaltszahlungen, kann sich dieser Umstand nicht zu Lasten der Beklagten auswirken. Ggf. hätte die Klägerin einen Unterhaltsvorschuss bei der zuständigen Verwaltungsbehörde zu beantragen. Zu Gunsten der Beklagten ist zudem zu werten, dass die Medikamentenabhängigkeit der Klägerin unstreitig nicht in einem betrieblichen Zusammenhang steht. Auch hat sich die Beklagte über Jahre bemüht, die Leistungsdefizite der Klägerin durch eine Reduzierung der Aufgaben auf Kopien, Scannen und Botengänge, auszugleichen. Dies steht nach den vorstehenden Ausführungen fest. Selbst bei diesen Aufgaben wurde die Klägerin ausweislich der vorgelegten Unterlagen (vgl. Email vom 06.06.2019 zum Auftrag des Abholens von sechs Rückumschlägen aus der Poststelle, Bl. 369 d. A.) begleitet, bis sie schließlich auch derartige Aufträge nicht ausführen konnte. Letztlich leitet sich die Unzumutbarkeit der Kündigung nicht daraus ab, dass sich die Klägerin seit dem 27.06.2019 in einer stationären Behandlung befand. Die Klägerin hat Gründe und Dauer dieser Behandlung nicht vorgetragen, so dass sie entgegen der Auffassung des Personalrats im Rahmen der Interessenabwägung nicht berücksichtigt werden kann.

g) Die von dem Beklagten gewählte soziale Auslauffrist, die der tarifvertraglichen ordentlichen Kündigungsfrist entspricht, hat die Klägerin nicht beanstandet.

2. Schließlich ist die außerordentliche Kündigung auch nicht wegen Versäumung der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB unwirksam. Gemäß § 626 Abs. 2 BGB beginnt die Zwei-Wochen-Frist, innerhalb derer eine außerordentliche Kündigung zu erklären ist, mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Bei der hier vorliegenden dauernden Unfähigkeit, die vertraglichen Dienste zu erbringen, handelt es sich um einen Dauertatbestand, bei dem es für die Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist ausreicht, dass er in den letzten zwei Wochen vor Ausspruch der Kündigung angehalten hat (vgl. BAG, Urteil vom 23.01.2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 14; Urteil vom 25.03.2004 – 2 AZR 399/03 – unter C II. 2. der Gründe). Das in Rede stehende Leistungsunvermögen der Klägerin infolge ihrer Medikamentenabhängigkeit verwirklichte sich bis zum Ausspruch der Kündigung mit Schreiben vom 12.07.2019 jeden Tag neu (vgl. BAG, Urteil vom 29.11.2009 – 2 AZR 272/08 – Rn. 16). Danach hat die Beklagte die Zwei-Wochen-Frist gewahrt.

3. Das Kündigungsrecht der Beklagten ist nicht nach § 242 BGB verwirkt.

a) Nach allgemeinen Grundsätzen ist ein Anspruch oder Recht verwirkt, wenn der Berechtigte längere Zeit untätig geblieben ist und dadurch den Eindruck erweckt hat, er wolle das Recht nicht mehr geltend machen, sein Vertragspartner sich auf den dadurch geschaffenen Vertrauenstatbestand eingestellt hat und es ihm deshalb nicht zugemutet werden kann, sich auf das verspätete Begehren des Berechtigten zu berufen. § 626 Abs. 2 BGB ist ein gesetzlich bzw. tariflich konkretisierter Verwirkungstatbestand. Sinn der Kündigungserklärungsfrist ist es, für den betroffenen Arbeitnehmer rasch Klarheit darüber zu schaffen, ob sein Arbeitgeber einen Sachverhalt um Anlass für eine außerordentliche Kündigung nimmt (vgl. BAG, Urteil vom 05.06.2008 – 2 AZR 234/07 – Rn. 17).

b) Danach hat die Beklagte ihr Kündigungsrecht nicht verwirkt. Die Beklagte war – wie ausgeführt – nach § 626 Abs. 2 BGB berechtigt, das Arbeitsverhältnis krankheitsbedingt wegen Medikamentenmissbrauchs der Klägerin zu kündigen. Ein schutzwürdiges Vertrauen der Klägerin konnte sich auch deshalb nicht bilden, weil die Beklagte die Minderleistung der Klägerin seit 2012 nicht in Kenntnis des Kündigungsgrundes Medikamentenmissbrauchs hingenommen hat. Soweit die Klägerin darauf verweist, sie habe, nachdem sie sich in einem unkündbaren Arbeitsverhältnis mit der Beklagten befindet, darauf vertraut, weiterhin das entsprechende Einkommen für ihre Familie erzielen zu können, begründet sich ihr Vertrauen auf einem Irrtum. Die Klägerin war nach Tarifziffer 275.1 nicht schlechthin unkündbar, sondern nur ordentlich unkündbar. Dies konnte sie ohne Weiteres dem Wortlaut der Tarifnorm entnehmen.

4. Die streitgegenständliche Kündigung ist nicht wegen fehlerhafter Anhörung des Personalrats unwirksam, Art. 77 Abs. 4 i. V. m. Abs. 3 BayPVG.

Selbst wenn, wie die Klägerin erstinstanzlich meinte, die Beklagte den Personalrat vorrangig zu einer außerordentlichen Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen angehört hat, so war der Personalrat dennoch in der Lage, sich ein Bild über die beabsichtigte Kündigung und deren Begründung zu machen. Die Beklagte hat in ihrer Anhörung, S. 6, den Personalrat „um Zustimmung zu einer außerordentlichen aus verhaltensbedingten, alternativ krankheitsbedingten wichtigen Gründen“ gebeten und hinsichtlich der krankheitsbedingten Gründe das ihr Bekannte mitgeteilt, nämlich das sich die Klägerin seit Jahren in medizinischer und psychologischer Behandlung befinde und dass eine Besserung nicht eingetreten sei. Tatsächlich hat der Personalrat den geschilderten Sachverhalt ausweislich seiner Stellungnahme auch zutreffend und richtig verstanden. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin die ordnungsgemäße Personalratsanhörung auch nicht mehr bestritten.

5. War die Kündigung nach allem wirksam, hat die Klägerin keinen Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung (vgl. BAG, Beschluss vom 27.02.1985 – GS 1/84 -).

III.

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, § 91 Abs. 1 ZPO.

IV.

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