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Fristlose Kündigung – verhaltensbedingte Kündigung – Mitnahme übrig gebliebener Lebensmittel

Hessisches Landesarbeitsgericht – Az.: 10 Sa 778/22 – Urteil vom 04.11.2022

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 9. März 2022 – 11 Ca 6247/21 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Zusammenfassung

Das Hessische Landesarbeitsgericht hat in einem Fall einer fristlosen Kündigung entschieden, dass das Arbeitsverhältnis nicht aufgrund des Vorwurfs der Mitnahme von übrig gebliebenem Grillgut fristlos gekündigt werden durfte. Die Beklagte hatte dem Kläger vorgeworfen, eingeschweißtes Grillfleisch im Wert von ca. 40 bis 50 Euro ohne Erlaubnis mit nach Hause genommen zu haben. Der Kläger hatte das Fleisch jedoch nach Absprache mit seinen Kollegen mitgenommen und nach einem Gespräch mit der Geschäftsführerin auch wieder zurückgebracht. Eine vorherige Abmahnung hatte es nicht gegeben.

Das Arbeitsgericht hatte in erster Instanz der Kündigungsschutzklage des Klägers teilweise stattgegeben und entschieden, dass die außerordentliche Kündigung nicht gerechtfertigt war. Das Hessische Landesarbeitsgericht bestätigte nun diese Entscheidung. Es sei keine Pflichtverletzung des Klägers anzunehmen, da er das Grillgut nicht heimlich mitgenommen hatte und sich zuvor mit seinen Kollegen abgesprochen hatte. Zudem sei eine Abmahnung im Vorfeld ausreichend gewesen, um zukünftig eine weitere Mitnahme von übrig gebliebenen Lebensmitteln zu vermeiden.

Die Beklagte hatte in der Berufungsinstanz argumentiert, dass das Verhalten des Klägers pflichtwidrig war und eine Abmahnung im vorliegenden Fall gerade nicht entbehrlich gewesen sei. Das Hessische Landesarbeitsgericht wies die Berufung der Beklagten jedoch zurück und bestätigte somit das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main.

Tatbestand

Die Parteien streiten zuletzt in der Berufungsinstanz noch über die Frage, ob das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis aufgrund der fristlosen Kündigung vom 30. September 2021 beendet worden ist.

Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 15. August 2017 mit Arbeitsvertrag vom 29. Juli 2017 (Bl. 3 ff. der Akte) als Assistent der Schulleitung im Aufgabenbereich Lehrgangsverwaltung, Buchhaltung und für anfallende Arbeiten im Sekretariat tätig. Das Bruttomonatsgehalt belief sich auf 2.750 Euro. Der Kläger ist verheiratet und befindet sich in einem laufenden Adoptionsverfahren hinsichtlich zweier Kleinkindern, die seit ihrer Geburt bei dem Kläger und seiner Ehefrau leben.

Die Beklagte ist ein Unternehmen, das Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen im medizinischen Bereich anbietet. Sie beschäftigt in der Regel nicht mehr als zehn Arbeitnehmer. Sie war ab dem Jahr 2017 operativ tätig und der Kläger war bei der Beklagten ab dem Jahr 2017 von Anfang an angestellt. Ein Betriebsrat ist nicht gebildet.

Die Parteien schlossen am 15. Juli 2021 eine Vereinbarung in Ergänzung zum Arbeitsvertrag, wonach dem Kläger die Nutzung des betrieblichen Internetzugangs und die Verwendung des E-Mail-Systems zu privaten Zwecken untersagt wurde. Trotzdem nutzte der Kläger im Juli 2021 an einigen Tagen morgens, letztmalig am 30. Juli 2021, den betrieblichen Internetanschluss zu privaten Zwecken und besuchte unter anderem Seiten wie „A“, „B“, „C“ und „D“.

Mit Schreiben vom 30. Juli 2021 sprach die Beklagte dem Kläger eine Abmahnung aus, weil er Personaldaten einer Schülerin an Dritte weitergegeben habe. Wegen des Inhalts der Abmahnung wird Bezug genommen auf Bl. 33 – 34 der Akte.

Am 17. September 2021 fand bei der Beklagten eine Examensfeier statt. Im Anschluss hieran wurde für die anwesenden Gäste ein gemeinsames Grillfest veranstaltet. Für diesen Anlass kaufte die Beklagte Grillfleisch im Wert von ca. 200 Euro. Nach Beendigung des Grillfestes blieben mindestens zwei eingeschweißte Packungen Grillgut (Schweinenackensteaks) im Wert von jeweils ca. 20 Euro bis 25 Euro übrig, die in den in den Betriebsräumen befindlichen Kühlschrank der Beklagten verbracht wurden. Nach Absprache mit seinen Kollegen hinsichtlich der Verwendung des Grillguts nahm der Kläger das Fleisch am 20. September 2021 zur Eigenverwendung mit nach Hause und fror es dort ein.

Die Beklagte sprach den Kläger hierauf am 21. September 2021 an. Am 22. September 2021 legte der Kläger das Grillgut dann wieder in den Gefrierschrank der Beklagten. Am selben Tag erfolgte ein Gespräch zwischen der Geschäftsführerin der Beklagten und dem Kläger hierüber. Infolgedessen wurde der Kläger bis zum 30. September 2021 zunächst von der Arbeit freigestellt. Das dienstliche Mobiltelefon und die Schlüssel gab der Kläger auf Verlangen der Beklagten ab. Eine Abmahnung wegen dieses Vorfalls wurde nicht ausgesprochen.

Der Lieferant E fügte seinen Lieferungen gelegentlich Zugaben in Form von „leckeren Keksen“ bei. Streitig ist, ob der Kläger diese Kekse an sich genommen und für sich verwendet hat.

Mit Schreiben vom 30. September 2021 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fristlos, hilfsweise ordentlich zum 31. Oktober 2021 (Bl. 7 der Akte). Der Kläger hat gegen die Kündigung vom 30. September 2021 mit seiner Klageschrift vom 1. Oktober 2021, beim Arbeitsgericht Frankfurt am Main am selben Tag eingegangen und der Beklagten am 14. Oktober 2021 zugestellt, Kündigungsschutzklage erhoben.

Wegen der streitigen Tatsachenbehauptungen und der Rechtsansichten der Parteien in erster Instanz wird nach § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des Urteils der erster Instanz Bezug genommen.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 30. September 2021 nicht aufgelöst ist;

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern unverändert fortbesteht;

3. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ein qualifiziertes Zwischenzeugnis zu erteilen sowie

4. hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag zu 3. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ein qualifiziertes Endzeugnis zu erteilen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht Frankfurt a.M. hat mit Urteil vom 9. März 2022 der Kündigungsschutzklage teilweise stattgegeben und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis infolge der Kündigung vom 30. September 2021 nicht vor dem 31. Oktober 2021 beendet worden ist. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, ein außerordentlicher Kündigungsgrund nach § 626 BGB sei nicht anzunehmen. In Bezug auf den Vorwurf der exzessiven Privatnutzung des Internets sei bereits die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist nach § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten. In Bezug auf den Vorwurf des Entwendens von Keksen oder von Grillgut ginge die Interessenabwägung zu Gunsten des Klägers aus. Ein schädigender Wille des Klägers könne im Hinblick auf das Grillgut nicht angenommen werden, da er nicht heimlich vorgegangen sei, sondern sich zuvor noch mit den Kollegen abgesprochen habe. Eine vorherige Abmahnung sei nicht entbehrlich gewesen. Die hilfsweise ordentliche Kündigung habe das Arbeitsverhältnis allerdings zum 31. Oktober 2021 beendet. Wegen der weiteren Einzelheiten des Urteils der ersten Instanz wird Bezug genommen auf Bl. 50 – 57 der Akte.

Dieses Urteil ist der Beklagten am 2. Mai 2022 zugestellt worden. Die Berufungsschrift ist am 2. Juni 2022 bei dem Hessischen Landesarbeitsgericht eingegangen. Nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 2. August 2022 ist die Berufungsbegründung am 5. Juli 2022 bei dem Berufungsgericht eingegangen.

In der Berufungsinstanz vertritt die Beklagte die Auffassung, dass das Arbeitsgericht der Kündigungsschutzklage in Bezug auf die außerordentliche Kündigung zu Unrecht stattgegeben habe. Das Arbeitsgericht habe eine fehlerhafte Interessenabwägung vorgenommen. Sie verweist darauf, dass die Kollegen nicht befugt gewesen seien, über das Grillgut zu verfügen. Eine solche Unterhaltung mache das Verhalten des Klägers nicht weniger pflichtwidrig. Der Kläger hätte sich bei der verfügungsberechtigten Geschäftsführerin vor der Mitnahme erkundigen müssen. Eine Abmahnung sei im vorliegenden Fall ausnahmsweise gerade nicht entbehrlich gewesen. Das Arbeitsgericht hätte auch nicht zu Gunsten des Klägers das laufende Adoptionsverfahren berücksichtigen dürfen.

Die Beklagte stellt den Antrag, das Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt a.M. vom 9. März 2022 – 11 Ca 6247/21 – abzuändern und den Antrag zu 1. auch insoweit abzuweisen, als damit die Feststellung begehrt wurde, das Arbeitsverhältnis sei durch die außerordentliche Kündigung vom 30. September 2021 nicht aufgelöst worden.

Der Kläger stellt den Antrag, die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts und verweist darauf, dass es Usus gewesen sei, Lebensmittel mitzunehmen, damit diese nicht verfallen. Zu seinen Gunsten sei auch zu berücksichtigen, dass er das Grillgut umgehend zurückgebracht habe. Bei dem Vorwurf der privaten Internetnutzung handele es sich um einen gänzlich anderen Vorwurf. Er habe auch keine Gratiskekse unterschlagen. Die Arbeitgeberin habe in diesem Kontext eine Pflichtwidrigkeit nur pauschal behauptet. Eine Abmahnung hätte im vorliegenden Fall völlig ausgereicht, um zukünftig eine weitere Mitnahme von übrig gebliebenen Lebensmitteln zu vermeiden. Der Beklagten sei auch zu keinem Zeitpunkt ein Schaden entstanden. Das Adoptionsverfahren sei für seine familiäre Zukunft von höchster Wichtigkeit, so dass nicht zu beanstanden sei, dies bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird ergänzend Bezug genommen auf sämtlicher gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat im Ergebnis und in der Begründung zutreffend angenommen, dass die Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung nach § 626 BGB im vorliegenden Fall nicht anzunehmen sind. Die hiergegen in der Berufungsinstanz vorgebrachten Rügen greifen nicht durch.

I. Die Berufung ist zulässig. Sie ist als Bestandsschutzstreitigkeit unproblematisch statthaft (§§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 Buchst. c ArbGG). Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt worden (§§ 519 ZPO, 66 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. ArbGG) sowie innerhalb der bis zum 2. August 2022 verlängerten Berufungsbegründungsfrist auch rechtzeitig begründet worden (§ 66 Abs. 1 Satz 1 2. Alt., Abs. 1 Satz 5 ArbGG).

II. Das Rechtsmittel bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die Beklagte hat das Urteil des Arbeitsgerichts nur insoweit angefochten, als es der Kündigungsschutzklage des Klägers im Hinblick auf die außerordentliche Kündigung stattgegeben hat. In diesem Umfang ist die Berufung unbegründet. Die außerordentliche Kündigung vom 30. September 2021 hat das Arbeitsverhältnis nicht mit sofortiger Wirkung aufgelöst. Das Arbeitsverhältnis ist vielmehr aufgrund der hilfsweisen ordentlichen Kündigung mit Ablauf des 31. Oktober 2021 beendet worden. Hiervon ist auszugehen, da der Kläger seinerseits gegen das Urteil keine Berufung eingelegt hat.

1. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“ und damit typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (vgl. BAG 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. 15, NJW 2019, 1161; BAG 17. März 2016 – 2 AZR 110/15 – EzA § 626 BGB 2002 Nr. 56). Für das Vorliegen des Kündigungsgrunds trägt der kündigende Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast (vgl. BAG 27. Juni 2019 – 2 AZR 28/19 – Rn. 16, NZA 2019, 1343).

Eigentums- und Vermögensdelikte des Arbeitnehmers zulasten des Arbeitgebers stellen regelmäßig einen wichtigen Grund an sich für eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses dar. Darin liegt ein erheblicher Verstoß gegen die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme auf die (wirtschaftlichen) Interessen des Arbeitgebers nach § 241 Abs. 2 BGB. Auf die strafrechtliche Würdigung kommt es dabei nicht an, sondern auf den mit dieser Pflichtverletzung begangenen schweren Vertrauensbruch.

Dies gilt auch bei einem rechtwidrigen Zugriff auf Eigentum des Arbeitgebers von geringem Wert (vgl. BAG 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18 – Rn. NZA 2019, 445). Nach der ständigen Rspr. des BAG ist auch die Entwendung einer geringwertigen Sache grundsätzlich geeignet, auf der ersten Stufe einen Grund für eine fristlose Kündigung abzugeben. Dies gilt auch, wenn Lebensmittel konsumiert werden. Auch spielt es für die Eignung als wichtigen Grund keine entscheidende Rolle, ob es sich um Schrott, Abfall oder abgeschriebene Ware handelt (vgl. auch den Sachverhalt in dem BAG-Urteil, in dem der Arbeitnehmer Abfalldieselöl entwendete, BAG 31. Juli 2014 – 2 AZR 407/13 – Rn. 32, NZA 2015, 621).

Die Interessenabwägung im Rahmen von § 626 Abs. 1 BGB hat bei Vorliegen einer Vertragspflichtverletzung u.a. zum Gegenstand, ob dem Kündigenden eine mildere Reaktion als eine fristlose Kündigung, also insbesondere eine Abmahnung oder fristgerechte Kündigung zumutbar war. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer verhaltensbedingten Vertragspflichtverletzung setzen regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (vgl. BAG 20. Mai 2021 – 2 AZR 596/20 – Rn. 27, NZA 2021, 1178). Die Schwere einer Pflichtverletzung kann zwar nur anhand der sie beeinflussenden Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, diese müssen aber die Pflichtwidrigkeit selbst oder die Umstände ihrer Begehung betreffen (vgl. BAG 20. Mai 2021 – 2 AZR 596/20 – Rn. 27, NZA 2021, 1178). Dazu gehören etwa ihre Art und ihr Ausmaß, ihre Folgen, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers sowie die Situation bzw. das „Klima“, in der bzw. in dem sie sich ereignete.

2. Nach diesen Grundsätzen ergibt sich, dass die Voraussetzungen für eine fristlose Kündigung nicht vorliegen.

a) In Bezug auf den Vorwurf der privaten Internetnutzung hat das Arbeitsgericht mit Recht darauf hingewiesen, dass die Arbeitgeberin die Einhaltung der zweiwöchigen Ausschlussfrist i.S.d. § 626 Abs. 2 BGB nicht dargetan hat. Auf diese vermeintliche Pflichtverletzung kann sich die Beklagte zur Stützung der außerordentlichen Kündigung nicht mehr berufen. Dies sieht sie im Grunde wohl nicht anders, da sie in der ersten Instanz mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2021 vorgetragen hat, dass die untersagte private Nutzung des Internets während der Arbeitszeit der Geschäftsführerin zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung länger als zwei Wochen bekannt gewesen sei. Hiergegen sind in der Berufungsbegründung auch keine Rügen erhoben worden.

b) In Bezug auf die Entwendung der Kekse der Fa. E hatte die Arbeitgeberin den Vorwurf einer Pflichtverletzung im Prozess nicht substantiiert darlegen können. Ein konkreter Tatsachenvortrag, wann der Kläger welche Kekse entwendet und für sich verwendet haben soll, ist nicht dargetan. Die Beklagte leitet den Verdacht, dass der Kläger die Kekse für sich verwendet habe, daraus ab, dass dieser Lieferant bei Warenlieferungen über einem bestimmten Bestellwert (regelmäßig) Gratiszugaben beifügt und der Kläger diese Eingänge bearbeitet haben soll. Damit hat sie jedoch lediglich Indizien vorgebracht, die den Verdacht einer entsprechenden Pflichtverletzung begründen könnten. Die Beklagte hat allerdings keine Verdachts-, sondern eine Tatkündigung ausgesprochen. Sie hat zu keinem Zeitpunkt den Kläger zu dem Vorwurf angehört und ihm Gelegenheit gegeben, diesen zu widerlegen. Die Behauptungen der Arbeitgeberin bleiben an diesem Punkt im Spekulativen und können nicht als Begründung für eine außerordentliche Kündigung herangezogen werden.

c) Auch der vorgeworfene Pflichtenverstoß im Zusammenhang mit der Mitnahme des Grillguts rechtfertigt keine außerordentliche Kündigung.

aa) In der Entwendung des Grillguts, welches an der Firmenfeier übriggeblieben war, liegt eine Pflichtverletzung, die grundsätzlich geeignet ist, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Nach § 241 Abs. 2 BGB schuldet der Arbeitnehmer, auf die Vermögensinteressen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen. Dies beinhaltet auch, Gegenstände, die in dessen Eigentum stehen, nicht dessen Verfügungsgewalt zu entziehen und mit nach Hause zu nehmen. Dabei spielt es im Grundsatz auch keine Rolle, ob die fraglichen Gegenstände nur von geringem Wert waren oder es sich um Essensreste handelte, denen ggf. der Ablauf des Haltbarkeitsdatums drohte.

bb) Die Kündigung ohne vorherige Abmahnung stellt sich allerdings angesichts der Gesamtumstände als unverhältnismäßig dar. Wie bei jeder verhaltensbedingten Kündigung muss vor Ausspruch der Kündigung geprüft werden, ob eine Abmahnung als milderes Mittel als Reaktion auf die Pflichtverletzung nicht ausreichend gewesen wäre. Dabei ist von dem Standpunkt eines objektiven und besonnenen Arbeitgebers auszugehen. Entgegen der Ansicht der Beklagten lag ein Ausnahmefall, bei der eine Abmahnung im Einzelfall entbehrlich war, hier nicht vor.

Eine Abmahnung ist ausnahmsweise dann entbehrlich, wenn bereits ex ante ersichtlich ist, dass eine Verhaltensänderung des Arbeitnehmers in der Zukunft nicht zu erwarten ist. Eine solche Sachverhaltskonstellation lag hier nicht vor. Nachdem der Kläger auf den Verbleib des Grillguts angesprochen worden war, hat er eingeräumt, dieses mitgenommen zu haben und es umgehend der Arbeitgeberin wieder zur Verfügung gestellt. Dadurch hat er gezeigt, dass er durchaus willens ist, die bei der Arbeitgeberin geltenden Regeln in Bezug auf die Verwertung übrig gebliebener Speisen zu beachten. Ein ähnlicher Vorfall ist in der Vergangenheit bislang – insoweit fehlt es jedenfalls an einem Hinweis in der Akte – nicht vorgekommen. Hätte die Beklagte eine entsprechende Abmahnung ausgesprochen, so spricht hier alles dafür, dass sich der Kläger auch in Zukunft an die gemachten Vorgaben gehalten hätte.

Es liegt auch nicht der Ausnahmefall vor, dass eine Abmahnung entbehrlich war, weil bereits durch einen einmaligen Verstoß die Vertrauensgrundlage im Arbeitsverhältnis (völlig) zerstört war und der Arbeitnehmer redlicherweise nicht damit rechnen durfte, dass sein Verhalten vom Arbeitgeber hingenommen werde. Bei der Berücksichtigung aller Umstände spricht zu Gunsten des Klägers insbesondere, dass er nicht „heimlich“ vorgegangen ist, sondern der Mitnahme des Grillguts nach Hause ein Gespräch im Kollegenkreis, wie mit dem übrig gebliebenen Grillgut verfahren werden sollte, vorangegangen war. Hätte der Kläger tatsächlich eine rechtswidrige Zueignungsabsicht gehabt, hätte er an sich heimlich vorgehen müssen und die Mitnahme des Grillguts – auch vor den Kollegen – geheim halten müssen. Im Übrigen erscheint es der Kammer plausibel und nachvollziehbar, dass Arbeitnehmer der – wenn auch letztlich fehlgeleiteten – Ansicht sein können, es sei erlaubt, übrig gebliebenes Grillgut mit nach Hause zu nehmen, bevor dieses das Haltbarkeitsdatum erreicht. Im Vordergrund steht dabei dann weniger die Treuepflicht gegenüber dem Arbeitgeber als die praktische Überlegung, dass Nahrungsmittel nicht weggeworfen werden sollen. In der Kammerverhandlung hat die Arbeitgeberin auch eingeräumt, dass es zumindest üblich gewesen sei, schon zubereitete Speisen, die nicht lange haltbar sind, mit nach Hause zu nehmen. Aus objektiver Sicht der Arbeitnehmer war die Weisungslage in Bezug auf die Möglichkeit, Lebensmittel mitzunehmen, jedenfalls nicht eindeutig. Nach der gesamten Aktenlage spricht somit alles dafür, dass es dem Kläger an einem Vorsatz bzw. einer rechtswidrigen Zueignungsabsicht i.S.v. § 242 StGB gefehlt hat. Es ist für die Kammer nachvollziehbar anzunehmen, dass der Kläger tatsächlich glaubte, keine Pflichtverletzung im Arbeitsverhältnis zu begehen, als er das Grillgut mitnahm.

Kann somit nicht von einer Straftat ausgegangen werden, bleibt „lediglich“ der Vorwurf übrig, der Kläger habe das Grillgut mit nach Hause genommen, ohne vorher die Geschäftsführerin um Erlaubnis zu fragen. Bei einem solchen Sachverhalt ist nicht davon auszugehen, dass es sich um eine so schwerwiegende Pflichtverletzung handelte, dass der Arbeitnehmer objektiv nicht mit einer Hinnahme durch den Arbeitgeber habe rechnen dürfen. Dies gilt auch angesichts des Wertes der Packungen von ca. 40 bis 50 Euro, der im Raum steht. Dabei handelt es sich zwar nicht um eine ganz geringfügige Sache, es handelt sich aber auch nicht um einen besonders hohen Betrag, bei dem die Annahme eines „guten Glaubens“ des Arbeitnehmers ausscheiden müsste.

cc) Auch die sonstigen bei der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Umstände außerhalb des Verhältnismäßigkeitsprinzips sprechen im vorliegenden Fall eher zu Gunsten des Klägers.

Bei der stets vorzunehmenden Interessenabwägung ist zu Gunsten des Klägers die Betriebszugehörigkeit von ca. vier Jahren zu berücksichtigen. Dies ist zwar objektiv gesehen keine besonders lange Zeit, allerdings war er von Anfang an bei dem Unternehmen der Beklagten mit dabei, wobei das Arbeitsverhältnis im Wesentlichen störungsfrei verlief. Die Abmahnung vom 30. Juli 2021 dokumentiert zwar, dass die Arbeitgeberin zuletzt auch Beanstandungen hatte, allerdings betraf die Abmahnung von ihrem Inhalt her einen gänzlich anderen Gegenstand und war nicht einschlägig. Der Kläger ist gegenüber seiner Ehefrau zum Unterhalt verpflichtet. Bei der Beklagten ist kein messbarer Schaden entstanden. Der Kläger hat das Grillgut, welches er zu Hause eingefroren hat, dem Eisfach der Beklagten umgehend wieder zur Verfügung gestellt. Dies ist auch noch vor Ausspruch der Kündigung geschehen.

Auf die Frage, ob im Rahmen der Interessenabwägung zu Gunsten des Arbeitnehmers auch Berücksichtigung finden kann, dass dieser gerade ein Adoptionsverfahren in Bezug auf zwei Kinder, die mit ihm seit längerem in einem Haushalt leben, betreibt, kommt es entscheidungserheblich nicht an. Das Arbeitsgericht hat schon nicht tragend auf diesen Umstand abgestellt, ihn aber gleichwohl (mit)berücksichtigt. Selbst wenn man ihn gänzlich unbeachtet ließe, ginge die Interessenabwägung hier zugunsten des Klägers aus.

Dem Arbeitsgericht ist in der Sache indes beizupflichten, dass ein laufendes Adoptionsverfahren zumindest Eingang in die Gesamtabwägung der Interessen finden kann. Die bei der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Umstände lassen sich nicht abschließend für alle Fälle festlegen (vgl. BAG 13. Dezember 2018 – 2 AZR 370/18, Rn. 29, NZA 2019, 445; BAG 27. April 2006 – 2 AZR 415/05 – Rn. 19, NZA 2006, 1033; KR/Fischermeier/Krumbiegel 13. Aufl. § 626 Rn. 252; Hako-KSchR/Gieseler 7. Aufl. § 626 Rn. 94). Es ist im Grundsatz anerkannt, dass nicht nur vertragsbezogene Umstände eine Rolle spielen können, sondern auch solche, die in der Person des Arbeitnehmers liegen, wie z.B. dessen Unterhaltspflichten und der Familienstand oder die Chancen auf dem Arbeitsmarkt (enger nur auf vertragsbezogene Interessen abstellend APS/Vossen 6. Aufl. § 626 Rn. 112; Preis NZA 1997, 1073, 1078; wohl auch ErfK/Niemann 23. Aufl. § 626 Rn. 24b). Die Kammer teilt vor diesem Hintergrund die Auffassung des Arbeitsgerichts, dass es prinzipiell nicht ausgeschlossen ist, zu Gunsten des Klägers auch zu berücksichtigen, dass der Umstand einer außerordentlichen Kündigung ein laufendes Adoptionsverfahren negativ zu beeinflussen vermag. Denn bei einer Adoption nach § 1741 BGB spielen unter dem Aspekt des Kindeswohls auch die sozialen Verhältnisse der Adoptiveltern eine Rolle, wobei z.B. Arbeitslosigkeit schaden kann (vgl. BeckOK BGB/Pöcker 63. Edition § 1741 Rn. 24; Müko-BGB/Maurer 8. Aufl. § 1741 Rn. 97). Da dieser Umstand allerdings nur in der Sphäre des Arbeitnehmers liegt und keinen unmittelbaren Arbeitsvertragsbezug hat, ist dieser Umstand allenfalls nur mit einem geringfügigen Gewicht mit in die Interessenabwägung einzustellen. Der Umstand kann – wie bereits ausgeführt – im vorliegenden Fall aber auch gänzlich unberücksichtigt bleiben, ohne dass sich das Gesamtergebnis änderte.

III. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, liegt nach § 72 Abs. 2 ArbGG nicht vor.

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