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Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle – Verletzung durch freundschaftliches Gerangel

Landesarbeitsgericht Köln – Az.: 6 Sa 647/19 – Urteil vom 30.01.2020

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 15.05.2019 – 9 Ca 728/19 – abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 640,00 EUR brutto zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2019.

2. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten aus einem beendeten Arbeitsverhältnis über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle und dabei insbesondere über die Frage, ob den Kläger am Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit ein Verschulden trifft.

Die Beklagte betreibt einen Kfz-Handel und eine Werkstatt. Neben dem Kläger arbeitet dort auch der Zeuge A . Der Kläger ist 24 Jahre alt. Er war aufgrund eines befristeten Arbeitsvertrages vom 01.01.2018 bis zum 31.12.2018 bei der Beklagten als Servicetechniker gegen ein Bruttomonatsentgelt in Höhe von 2.400,00 EUR beschäftigt. Der Kläger war in der Zeit vom 11.12.2018 bis zum 18.12.2018 arbeitsunfähig. Für diese Zeit erhielt er von der Beklagten keine Entgeltfortzahlung. Dieser nicht gezahlte Betrag ist in rechnerisch unstreitiger Höhe der Gegenstand der Klage. Die Arbeitsunfähigkeit war auf eine Knieverletzung zurückzuführen, die sich der Kläger bei einem Vorfall am 11.12.2018 zugezogen hatte. Vor Arbeitsbeginn an jenem Tag hatte der Kläger den Zeugen A von hinten umklammert, ohne dass dem eine Auseinandersetzung vorausgegangen wäre. Als der Zeuge sich umdrehte, fielen beide um. Dabei zog sich der Kläger am Knöchel eine Verletzung zu. Streitig ist zwischen den Parteien, ob der Kläger zuvor versucht hatte, den Zeugen zu Fall zu bringen.

Der Kläger hat beantragt die Beklagte zu verurteilen, an ihn 640,00 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2019 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Der Kläger habe seinen Kollegen A mit beiden Armen von hinten fest umschlossen und angehoben. Der Zeuge A habe daraufhin geschrien und den Kläger aufgefordert, ihn loszulassen. Als der Kläger nicht losgelassen habe, habe der Zeuge versucht, sich gewaltsam zu befreien. Dabei seien beide umgefallen und der Zeuge sei auf den Kläger gefallen. Dabei habe sich der Kläger die Knieverletzung zugezogen. Sie gehe daher davon aus, dass anspruchsausschließendes erhebliches Mitverschulden des Klägers vorgelegen habe.

Das Arbeitsgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme durch Vernehmung des Zeugen A die Klage abgewiesen mit der Begründung, der Kläger habe die Arbeitsunfähigkeit durch eigenes Verschulden herbeigeführt. Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass der Kläger mit den Zeugen A eine Rangelei aktiv begonnen habe. Selbst wenn dies nur ein freundschaftlicher Spaß gewesen sei, habe der Kläger mit einer Gegenreaktion des Zeugen rechnen müssen. Hervorzuheben sei die Tatsache, dass der Kläger bei der Umklammerung versucht habe, dem Zeugen ein Bein zu stellen, um ihn so zu Fall zu bringen, wie sich dies aus der Beweisaufnahme ergebe. Damit habe der Kläger sich ungewöhnlich leichtfertig einem Verletzungsrisiko ausgesetzt. Auf das Protokoll der Beweisaufnahme wird Bezug genommen.

Gegen dieses ihm am 28.05.2019 zugestellte Urteil hat der Kläger am 05.06.2019 Berufung eingelegt und diese am 01.07.2019 begründet.

Der Kläger ist weiterhin der Auffassung, dass seine Arbeitsunfähigkeit eingetreten sei, ohne dass ihn ein Verschulden im Sinne des § 3 Abs. 1 EFZG treffe. Nach der zu diesem Thema ergangenen Rechtsprechung komme die Annahme eines Verschuldens nur bei einer vom Arbeitnehmer provozierten Schlägerei in Betracht. Eine Schlägerei habe aber nicht stattgefunden, sondern lediglich eine freundschaftliche Rangelei. Die Bekundung des Zeuge A , er, der Kläger, habe versucht dem Zeugen die Beine wegzuziehen, sei unzutreffend. Vielmehr habe er den Zeugen freundschaftlich von hinten umklammert, dieser habe sich in der Umklammerung umgedreht und seinerseits versucht sich an ihm festzuhalten. Bei dieser Umdrehung seien sie dann beide umgefallen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 15.05.2019 – 9 Ca 728/19 – abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 640,00 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2019 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das Urteil des Arbeitsgerichts und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Der Sachverhalt sei weitgehend unstreitig, nur die Wertung sei unterschiedlich. Sie gehe nach wie vor davon aus, dass das Vorkommnis vom 11.12.2018 im Sinne der bisher ergangenen Rechtsprechung eine vom Kläger provozierte „Schlägerei“ gewesen sei. Während Risikosportarten von Spielregeln bestimmt seien, die das Ziel hätten, das Verletzungsrisiko zu beschränken, bestehe außerhalb solcher Regeln ein gesteigertes Risiko, sich bei Körperkontakt selbst zu verletzen. Dieses gesteigerte Risiko bestehe daher bei kindischen Rangeleien genauso wie bei Konflikt-Schlägereien.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle - Verletzung durch freundschaftliches Gerangel
(Symbolfoto: Von fizkes/Shutterstock.com)

I.  Die Berufung des Klägers ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II.  Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg, denn die zulässige Klage war begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von Entgeltfortzahlung aus § 611a Abs. 2 BGB iVm § 3 Abs. 1 EFZG und iVm dem zwischen den Parteien bestehenden Arbeitsvertrag in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 640,00 EUR brutto. Nach § 3 Abs. 1 EFZG hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn er durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert ist, ohne dass ihn ein Verschulden trifft.

Diese Voraussetzungen des Entgeltfortzahlungsanspruches sind erfüllt, denn der Kläger war in der hier fraglichen Woche unstreitig in diesem Sinne arbeitsunfähig. Angesichts des unstreitigen Sachverhaltes und des Ergebnisses der Beweisaufnahme traf den Kläger auch kein Verschulden im Sinne des § 3 Abs. 1 EFZG.

1.  Das Verschulden, von dem in § 3 EFZG die Rede ist, unterscheidet sich von der Verantwortlichkeit des Schuldners nach § 276 BGB und der des Straftäters nach § 15 StGB. Bei den beiden letztgenannten Vorschriften geht es um die Verletzung von Sorgfaltspflichten, die der Schuldner oder der Täter gegenüber Dritten hat. Demgegenüber geht es bei dem Verschulden nach § 3 EFZG nicht um eine Sorgfaltspflicht, die den Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber, gegenüber Kollegen oder gar gegenüber der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten trifft, sondern vielmehr um ein Verschulden gegen sich selbst. Wenn in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes davon die Rede ist, dass § 3 EFZG „ganz wesentlich der Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen und damit mittelbar aller Beitragszahler“ diene (BAG v. 18.03.2015 – 10 AZR 99/14 -; BAG v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00 -), so ist damit die Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber gemeint und damit die Entlastung der Krankenkasse von ihrer Pflicht zur Zahlung von Krankengeld (soweit nicht vorsätzliches Verhalten vorliegt, § 52 SGB V); gerade nicht gemeint ist damit der Anspruchsausschluss bei einem Verschulden des Arbeitnehmers gegen sich selbst. Im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG ist unter „Verschulden“ also ein dem § 254 BGB ähnliches anspruchsbeseitigendes Verschulden gegen sich selbst zu verstehen. Zur Annahme eines solchen „Verschuldens gegen sich selbst“ genügt nicht jede die Arbeitsunfähigkeit herbeiführende Fahrlässigkeit. Voraussetzung ist vielmehr, dass ein grober Verstoß gegen das von einem verständigen Menschen im eigenen Interesse billigerweise zu erwartende Verhalten vorliegt. Die Arbeitsunfähigkeit darf demnach nicht auf ein unverständiges, ungewöhnlich leichtfertiges oder mutwilliges oder gegen die guten Sitten verstoßendes Verhalten des Arbeitnehmers zurückzuführen sein (Feichtinger/Malkmus, Entgeltfortzahlungsrecht, EFZG § 3 Rn. 105 – 107). Auf die ausführlichen Hinweise in der Entscheidung des Arbeitsgerichts auf die zu diesem Thema veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur wird im Übrigen Bezug genommen.

2.  Ein Ausschluss der Entgeltfortzahlung kommt nach alldem nur bei vorsätzlichem oder besonders leichtfertigen Verhalten in Betracht (Reinhard in: ErfK § 3 EFZG Rn. 23), wenn also der Arbeitnehmer entweder die Herbeiführung der Arbeitsunfähigkeit bewusst anstrebt, wie zum Beispiel in Fällen der Selbstverstümmelung (regelmäßig nicht bei Suizidversuch: BAG v. 28.02. 1979 – 5 AZR 611/77), oder er zumindest sein eigenes Integritätsinteresse in einem Grad von Gleichgültigkeit (nicht nur Sorglosigkeit) missachtet, der in ganz besonderem Maße von der üblichen Risikofreude eines verobjektivierten gesunden Arbeitnehmers abweicht.

3.  Ob das fragliche Verhalten im betrieblichen Kontext oder in der Freizeit geschieht, ist unerheblich. Denn für die Beurteilung des Sorgfaltsmaßstabes macht es keinen Unterschied, ob eine körperliche Übergriffigkeit in der Werkstatt des Arbeitgebers oder im Freibad stattfindet, auf dem Weg zur Arbeit oder in der Warteschlange vor dem Club, bei einem Kampfsportereignis oder im familiären Umfeld. Nur die Rechtsfolge, nämlich der Ausschluss der Entgeltfortzahlungspflicht des Arbeitsgebers, ist eine arbeitsrechtliche, also eine auf das Arbeitsverhältnis bezogene; die Voraussetzung des Anspruchsausschlusses ist dem gegenüber allein personenbezogen.

4.  Gleichfalls unerheblich ist, ob ein Körperkontakt im Rahmen von normierten Spielregeln geschieht, oder im nicht geregelten sozialen Raum. Denn auch die in hohem Grade (vorsätzlich) selbstschädigende Vollkontaktsportart MMA (Mixed Martial Arts) kennt Regeln: kein Töten, kein Angreifen der Augen und/oder der Genitalien, kein Beißen, kein Reißen an den Ohren oder der Nase; demgegenüber gibt es für den üblicherweise harmlosen und klassisch-pubertären „Reiterkampf im Nichtschwimmerbecken“ keine geschriebenen Regeln.

5.  Der hier zur Entscheidung vorliegenden Sachverhalt, wie er nach der Beweisaufnahme zu Tage getreten ist, betraf ein Verhalten, das sich der erkennenden Berufungskammer als eine unvernünftige postadoleszente Übergriffigkeit darstellt. Der Gesamteindruck, der sich aus unstreitigem Sachverhalt, der Beweisaufnahme und dem persönlichen Auftreten des Klägers im Kammertermin ergab und den die beweisbelastete Beklagte nicht zu erschüttern vermocht hat, lässt eine Sorglosigkeit vermuten, die dem verobjektivierten (männlichen) jungen Körper innezuwohnen scheint. Der Kläger hat mit seinem albernen Körpereinsatz sein eigenes Integritätsinteresse missachtet. Dies geschah aber bei weitem nicht in einem Maß, das man im oben genannten Sinne – bezogen auf seine eigene Verletzung – als vorsätzlich oder besonders leichtfertig bezeichnen könnte. Keinesfalls vergleichbar ist der Fall mit einer durch den klagenden Arbeitnehmer provozierten Schlägerei (vgl. z.B. LAG Hamm v. 24.09.2003 – 18 Sa 785/03 -). Die Zielrichtung des Klägers war hier kumpelhaftes Kräftemessen und nicht die gewalttätige Austragung eines persönlichen Konflikts. Es ging somit nicht um einen Verstoß gegen die zivilisatorische Errungenschaft der gewaltfreien Streitbeilegung. Der Zeuge A , also das „Opfer“, äußerte im Rahmen der Beweisaufnahme auf Nachfrage selbst: „… das war nur Spaß. Auf keinen Fall ein Angriff. Es war nur Spaß … das war auf alle Fälle nicht böswillig oder mit Absicht. Ich denke, dass er nur zeigen wollte, wie kräftig er ist …“.  Dass der Kläger dabei versucht hat, dem Zeugen „ein Bein zu stellen“ kann zu Gunsten der Beklagten als richtig unterstellt werden. Das Beinstellen mag gegenüber dem Umklammern eine weitere Intensitätsstufe der Körperlichkeit darstellen, markiert aber keinen Übergang von der kumpelhaften Rauferei zum gewalttätigen Konflikt einer Schlä gerei. Das freundschaftliche Rangeln oder „Kebbeln“ zweier Männer in jungem/mittleren Alter, mag am Arbeitsplatz deplatziert sein und die Annahme einer möglicherweise abmahnungswürdigen Nebenpflichtverletzung aus dem Arbeitsvertrag begründen; es rechtfertigt jedenfalls angesichts der oben genannten Zielrichtung des Gesetzes nicht, das Entgeltfortzahlungsrisiko des Arbeitgebers auf die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten zu verlagern, denn es geht hier mehr um Unglück als um Verschulden.

III.  Nach allem war die klageabweisende erstinstanzliche Entscheidung abzuändern und die Beklagte auf die Berufung des Klägers antragsgemäß zu verurteilen, dem Kläger Entgeltfortzahlung zu leisten. Als unterliegende Partei hat die Beklagte gemäß § 91 ZPO die Kosten der Berufung zu tragen. Gründe für eine Revisionszulassung sind nicht gegeben, da die Entscheidung auf den Umständen des vorliegenden Einzelfalls beruht.

 

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