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Haftungsprivileg § 104 SGB VII bei vom Arbeitgeber nicht vorsätzlich verursachten Arbeitsunfällen

Haftungsprivileg bei nicht vorsätzlich verursachten Arbeitsunfällen – Ein Überblick über das Urteil

Das vorliegende Urteil behandelt die Frage des Haftungsprivilegs gemäß § 104 SGB VII bei Arbeitsunfällen, die nicht vorsätzlich vom Arbeitgeber verursacht wurden. Es geht um den Fall einer Klägerin, die während der Arbeitszeit auf einem nass gewischten Fußboden vor der Damentoilette ausrutschte und sich verletzte. Obwohl kein Warnschild aufgestellt war, behauptete die Beklagte, dass regelmäßig ein Hinweisschild im Eingangsbereich der Filiale platziert werde. Die Klägerin forderte Schmerzensgeld und die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, zukünftige immaterielle Schäden zu ersetzen. Die Beklagte bestritt die Schmerzensgeldzahlungspflicht und argumentierte, dass die Klägerin Sicherheitsschuhe hätte tragen sollen. Zudem bestritt sie den Zusammenhang zwischen den Kuraufenthalten und der Schwerbehinderung der Klägerin mit dem Arbeitsunfall.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 3 Sa 387/20 >>>

Das Haftungsprivileg des § 104 SGB VII

Das Gericht lehnte die Klage ab und stützte sich dabei auf das Haftungsprivileg des § 104 SGB VII. Dieses Privileg besagt, dass der Arbeitgeber bei grob fahrlässigen Verstößen gegen Schutzbestimmungen der Arbeitssicherheit nicht für Schmerzensgeld haftet, es sei denn, der Unfall wurde vorsätzlich herbeigeführt. Das Gericht betonte, dass für die Annahme des Vorsatzes ein „doppelter Vorsatz“ erforderlich sei, der sowohl die Verletzungshandlung als auch den Verletzungserfolg umfasse. Da die Beklagte den Unfall nicht beabsichtigt hatte, sondern allenfalls bewusst fahrlässig gehandelt hatte, lag kein bedingter Vorsatz vor. Zudem stellte das Gericht fest, dass das Haftungsprivileg des § 104 SGB VII nicht gegen europäisches Recht verstößt und mit der Rahmenrichtlinie 89/391/EWG vereinbar ist. Es argumentierte, dass die Berufsgenossenschaften als Haftpflichtversicherungen fungieren und sicherstellen, dass Geschädigte unabhängig von der Leistungsfähigkeit des Arbeitgebers eine Entschädigung erhalten.

Die Entscheidung des Gerichts

Das Gericht entschied, dass die Beklagte nicht für Schmerzensgeld haften muss, da kein bedingter Vorsatz vorlag. Es betonte auch, dass das Haftungsprivileg mit europäischem Recht vereinbar ist und die Funktion einer Haftpflichtversicherung erfüllt. Die Klägerin konnte keinen Zusammenhang zwischen den Kuraufenthalten und der Schwerbehinderung mit dem Arbeitsunfall nachweisen. Das Gericht wies darauf hin, dass das nationale Recht Sanktionen für den Fall vorsieht, dass Unternehmen rechtlich erforderliche Schutzmaßnahmen nicht ergriffen. Es betonte auch, dass das Haftungsprivileg nicht zu einer Benachteiligung von Arbeitnehmern im Vergleich zu außenstehenden Dritten führt.

Das vorliegende Urteil gibt einen Überblick über das Haftungsprivileg gemäß § 104 SGB VII bei nicht vorsätzlich verursachten Arbeitsunfällen. Das Gericht entschied, dass die Beklagte nicht für Schmerzensgeld haften muss, da kein bedingter Vorsatz vorlag. Es betonte die Vereinbarkeit des Haftungsprivilegs mit europäischem Recht und die Funktion der Berufsgenossenschaften als Haftpflichtversicherungen. Um alle Einzelheiten und Argumente des Urteils zu erfahren, wird empfohlen, den vollständigen Urteilstext zu lesen.

[…]


Das vorliegende Urteil

Landesarbeitsgericht München – Az.: 3 Sa 387/20 – Urteil vom 12.11.2020

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 11.02.2020 – 21 Ca 13730/18 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über Folgeansprüche aus einem Arbeitsunfall.

Die am 00.00.0000 geborene Klägerin ist bei der Beklagten in der Filiale Z. in A-Stadt als Kassiererin beschäftigt. Durch Attest vom 20.01.2015 wurde ihr bescheinigt, dass „beim Tragen von Arbeitsschuhen Beschwerden im Wirbelsäulenbereich auf(treten), was bedeutet, dass … die Klägerin nur spezielle wirbelsäulenschonende Sportschuhe bei ihrer Tätigkeit als Verkäuferin tragen kann, ansonsten kann es zu weiteren Arbeitsunfähigkeitszeiten kommen.“ (unbenannte Anlage, Bl. 162 d. A.). Am 30.12.2015 erlitt die Klägerin während der Arbeitszeit einen Arbeitsunfall, indem sie normales Schuhwerk tragend gegen 06:50 Uhr auf dem zuvor nass gewischten Fußboden vor der Damentoilette ausrutschte und zu Boden stürzte. Ein Schild „Vorsicht Rutschgefahr“ war entgegen den Unfallverhütungsvorschriften nicht vor den Toilettenräumen aufgestellt worden. Die Klägerin wurde zur medizinischen Versorgung ins Krankenhaus gebracht, das eine Prellung feststellte. Im Januar 2016 wurde sie von dem OCM Orthopädische Chirurgie A-Stadt untersucht und an die Diagnostik A-Stadt überwiesen. Als Ergebnis des dort erstellten MRT ergab sich ein „kleiner medialer Vorfall bei L5/S1 (Steißbeinwirbel) bei dehydriert und höhenreduzierte Bandscheibe, leichte erosive Begleitreaktion“ (vgl. Schreiben vom 25.01.2016, Anlage K1 = Bl. 13 d. A..

Die Klägerin war vom 30.12.2015 bis 14.03.2016 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt und befand sich bis Ende 2018 zweimal in einer dreiwöchigen Kur.

Mit ihrer am 31.12.2018 erhobenen Klage hat die Klägerin u.a. die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes und die Feststellung begehrt, dass die Beklagte verpflichtet sei, der Klägerin den künftigen immateriellen Schaden aus dem Unfall an der Arbeitsstätte vom 30.12.2015 zu ersetzen. Die Beklagte habe bedingt vorsätzlich ihre Schutzpflichten außer Acht gelassen und dadurch bedingt vorsätzlich ihre schwere Verletzung am Steißbein in Kauf genommen. Bei einem Sturz auf hartem, glattem Fußboden sei eine schwere Verletzung sehr wahrscheinlich. Vor und nach dem Sturz sei das Schild „Vorsicht Rutschgefahr“ nicht, auch nicht im Eingangsbereich der Filiale, aufgestellt worden. Im Interesse der Durchsetzung der Einhaltung der Arbeitsschutzbestimmungen sei es erforderlich, an den bedingten Vorsatz keine überzogenen Anforderungen zu stellen. Der Vorsatz müsse sich nur auf die Handlung, nicht auf den konkreten Erfolg beziehen. Die Arbeitsschuhe, deren rutschhemmende Wirkung die Klägerin bestreitet, hätte sie ausweislich des Attestes vom 20.01.2015 nicht tragen können. Die Höhe des Schmerzensgeldes sei in das Ermessen des Gerichts gestellt, aber jedenfalls nicht unter 9.000,00 € zu bemessen. Die Verletzung an sich sei sehr schmerzhaft gewesen, was durch eine Vorverletzung der Klägerin an der oberen Wirbelsäule noch verstärkt worden sei. „Nicht zuletzt“ aufgrund der Position des Schmerzes sei die Klägerin eine dauerhafte Schmerzpatientin. Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit und der stationären Kuraufenthalte sei zu berücksichtigen. Infolge des Sturzes sei die Klägerin schwerbehindert. Aufgrund der Vorverletzung an der oberen Wirbelsäule sei es zu Komplikationen gekommen, für die der streitgegenständliche Sturz kausal gewesen sei. Zudem habe sich ihr der Filialleiter, Herr Y., an der Unfallstelle nicht zugewandt, obwohl er als erster vorbeigekommen sei, sondern sei mit einer abfälligen Bemerkung weitergegangen. Dieses Verhalten habe ihr zusätzlich einen psychischen Schmerz zugefügt, da sie sich über 15 Jahre stets hingebungsvoll für die Arbeit und ihre Kollegen aufgeopfert habe. Die Beschränkung der Haftung der Beklagten nach § 104 Abs. 1 SGB VII sei weder mit der Rahmenrichtlinie 89/391/EWG noch mit den Grundsätzen zur Arbeitssicherheit zu vereinbaren. Auch liege ein Verstoß gegen Art. 14 der EMRK vor.

Die Beklagte hat erstinstanzlich bestritten verpflichtet zu sein, der Klägerin Schmerzensgeld zu zahlen. Ein Hinweisschild „Vorsicht Rutschgefahr“ werde regelmäßig im Eingangsbereich der Filiale aufgestellt. Der Klägerin sei auch bekannt gewesen, dass die Fußböden in der gesamten Filiale täglich um die gleiche Zeit feucht gewischt würden. Hätte die Klägerin Sicherheitsschuhe getragen, wäre sie nicht gestürzt. Ihr Verzicht aus gesundheitlichen Gründen könne der Beklagten nicht zum Nachteil gereichen. Die Beklagte hat auch bestritten, dass die mit Attest vom 25.01.2016 festgestellten Verletzungen auf den Sturz vom 30.12.2015 zurückzuführen und sie zwischenzeitlich nicht ausgeheilt seien. Des Weiteren hat die Beklagte bestritten, dass die Kuraufenthalte und die Schwerbehinderung der Klägerin durch den Arbeitsunfall bedingt seien. Die Beklagte hätte keinen bedingten Vorsatz in Bezug auf den Sturz der Klägerin gehabt. Zu Beginn der Schicht befänden sich die Mitarbeiter grundsätzlich erst etwa ein bis eineinhalb Stunden auf der Fläche, so dass der Boden bereits wieder vollständig getrocknet sei, wenn die Toilette üblicherweise von den Mitarbeitern aufgesucht werde. Der Filialleiter Herr Y. habe die Klägerin nicht auf dem Boden liegen gelassen, sondern sofort Notarzt und Polizei verständigt, sowie einen Stuhl gebracht, damit die Klägerin eine Sitzgelegenheit gehabt habe.

Wegen des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien und ihre erstinstanzlich gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht München hat die Klage durch Urteil vom 11.02.2020 – 21 Ca 13730/18 – abgewiesen. Soweit für das Berufungsverfahren von Bedeutung hat es ausgeführt, dass die zulässigen Klageanträge zu 1) und 2) unbegründet seien. Die Beklagte sei gemäß § 104 SGB VII nicht verpflichtet, an die Klägerin Schmerzensgeld zu zahlen. Die Beklagte habe nicht vorsätzlich gehandelt. Auch bei einer eventuell vorsätzlichen Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Unfall vorsätzlich herbeigeführt worden sei. Es liege kein Anhaltspunkt dafür vor, dass einer der Mitarbeiter der Beklagten vorsätzlich den Sturz der Klägerin beabsichtigt oder diesen billigend in Kauf genommen habe. Es bestehe keine Veranlassung die von der Klägerin aufgeworfenen Fragen dem EuGH zur Beantwortung vorzulegen. § 104 SGB VII verstoße nicht gegen die Rahmenrichtlinie 89/391/EWG, da sie keine Grundsätze zur Reichweite der Arbeitgeberhaftung oder der Ansprüche der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit erlittenen Arbeitsunfällen aufstelle. Die Nachteile eines fehlenden Schmerzensgeldanspruchs würden durch die Zurverfügungstellung eines stets solventen Schuldners für Personenschäden aufgewogen. § 104 SGB VII verstoße auch nicht gegen Art. 14 der EMRK.

Gegen dieses, ihrer Prozessbevollmächtigten am 19.02.2020 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18.03.2020 Berufung beim Landesarbeitsgericht München eingelegt und diese am Montag, den 20.04.2020, begründet.

Die Voraussetzungen des Haftungsausschlusses nach § 104 Abs. 1 SGB VII lägen nicht vor, da sich der bedingte Vorsatz nicht auf den konkreten Erfolg der Verletzung beziehen müsse. Derjenige, der eine Schutzvorschrift missachte, nehme in Kauf, dass eine Verletzung des von der Vorschrift Geschützten eintrete. Jedenfalls stelle § 104 Abs. 1 SGB VII europarechtswidriges Recht dar. Eine Regelung, die den Arbeitgeber von jeglicher Haftung für Schmerzensgeld im Falle von grob fahrlässigen Verstößen befreie, sei weder mit der Rahmenrichtlinie 89/391/EWG noch mit den Grundsätzen zur Arbeitssicherheit zu vereinbaren. Eine solche Regelung laufe dem Schutzgedanken der Richtlinie zuwider, wie er in der Präambel der Richtlinie zum Ausdruck kommt. Danach seien durch die Richtlinien Mindestvorschriften festgelegt, die die Verbesserung insbesondere der Arbeitsumwelt fördern, um die Sicherheit und die Gesundheit der Arbeitnehmer verstärkt zu schützen. Art. 5 Abs. 1 der Rahmenrichtlinie, wonach der Arbeitgeber verpflichtet sei, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen, werde durch den Haftungsausschluss des § 104 SGB VII konterkariert, wenn hierdurch auch die Haftung für Schmerzensgeld im Falle von fahrlässigen Verstößen gegen Schutzbestimmungen der Arbeitssicherheit ausgeschlossen werde. Wenn neben der Haftungsfreistellung über die Unfallversicherung auch das Schmerzensgeld entfallen solle, habe der Unternehmer keine Anreize für Schutzmaßnahmen. Darüber hinaus liege ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz auf Unionsebene vor. Die Anwendung des § 104 SGB VII führe zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, die sich im Dienst verletzten, und Dritten, die nicht in einem Arbeitsverhältnis zu dem Verletzer stünden. So hätte etwa ein Kunde einen Anspruch auf Schmerzensgeld, nicht aber der Mitarbeiter.

Die Klägerin beantragt:

1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch 9.000,00 € zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit Klageerhebung.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den künftigen immateriellen Schaden aus dem Unfall an der Arbeitsstätte vom 30.12.2015 zu ersetzen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klage sei unbegründet. Sämtliche von der Klägerin geltend gemachten Ansprüche seien nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ausgeschlossen. Eine Haftung des Arbeitgebers komme danach nur ausnahmsweise in Frage, wenn dieser auch den Unfallerfolg mindestens billigend in Kauf genommen habe. Der vorsätzliche Verstoß gegen Unfallverhütungsvorschriften, der im Übrigen bestritten werde, rechtfertige eine solche Annahme nicht. Ein Haftungsausschluss des § 104 SGB VII verstoße nicht gegen Europarecht. In der Rahmenrichtlinie 89/391/EWG sei keine Aussage zur Reichweite der Arbeitgeberhaftung getroffen worden. Im Übrigen sehe das nationale Recht mit den §§ 25, 26 ArbschG Sanktionen für den Fall vor, dass Unternehmen rechtlich erforderliche Schutzmaßnahmen nicht ergriffen. Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz sei nicht gegeben. Eine Benachteiligung von Arbeitnehmern gegenüber außenstehenden Dritten könne nicht angenommen werden. Ein Ausschluss von Schmerzensgeldansprüchen sei dadurch kompensiert, dass dem Arbeitnehmer mit der Unfallversicherung stets ein solventer Schuldner für Personenschäden gegenüberstehe. Ein etwaiges Mitverschulden müsse sich der Arbeitnehmer nicht anrechnen lassen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die von ihnen eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.

I.

Die nach § 64 Abs. 2 lit. b) ArbGG statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. §§ 519, 520, 222 Abs. 2 ZPO, und damit zulässig.

II.

Die Berufung der Klägerin ist jedoch unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht und mit zutreffenden Erwägungen die Klage abgewiesen. Hierauf wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG Bezug genommen. Die Berufungsangriffe vermögen aus nachfolgenden Gründen keine andere rechtliche Bewertung rechtfertigen:

1. Nach § 104 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Unternehmer nach anderen gesetzlichen Vorschriften, d. h. nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 823 Abs. 1, 823 Abs. 2 BGB, zum Ersatz des Personenschadens, den eine Versicherungsfalls verursacht hat, nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt haben. Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs für die Annahme der vorsätzlichen Herbeiführung des Versicherungsfalls im Sinne des § 104 Abs. 1 SGB VII ein „doppelter Vorsatz“ erforderlich. Der Vorsatz des Schädigers muss nicht nur die Verletzungshandlung, sondern auch den Verletzungserfolg umfassen (vgl. zuletzt BAG, Urteil vom 20.11.2019 – 8 AZR 35/19 – Rn. 46 m.w.N.; vgl. auch BGH, Urteil vom 08.03.2012 – III ZR 191/11 – Rn. 14 m.w.N.). Insoweit wird auf die ausführliche Begründung des Bundesgerichtshofs Bezug genommen (vgl. Urteil vom 11.02.2003 – VI ZR 34/02 – unter II. 1. c) der Gründe = Rn. 12 ff.). Denn bereits unter Geltung der Vorgängerregelungen der §§ 636, 637 RVO konnte sich der Schädiger auf das Haftungsprivileg auch dann berufen, wenn er zwar vorsätzlich gehandelt hat, der eingetretene Schaden indes von seinem Vorsatz nicht umfasst war. Den Gesetzesmaterialien lässt sich nicht entnehmen, dass der Gesetzgeber in diesem Punkt eine Änderung beabsichtigt hat (vgl. BGH, Urteil vom 11.02.2003 – VI ZR 34/02 – unter II. 1. c) bb) (1) der Gründe = Rn. 18). Darüber hinaus hat der Gesetzgeber in Kenntnis der bisherigen Rechtsprechung zu den §§ 636, 637 RVO keine dem § 110 Abs. 1 Satz 3 SGB VII entsprechende Regelung in §§ 104, 105 SGB VII getroffen (- unter II. 1. c) bb) (3) der Gründe = Rn. 20). Insoweit wird auf die ausführliche Begründung des Bundesgerichtshofs Bezug genommen (vgl. Urteil vom 11.02.2003 – VI ZR 34/02 – unter II. 1. c) der Gründe = Rn. 12 ff.).

Es sind keine Anhaltspunkte seitens der Klägerin vorgetragen und auch nicht ersichtlich, dass der gesetzliche Vertreter der Beklagten oder die Reinigungskraft, deren Verhalten sich die Beklagten gem. § 278 BGB zurechnen lassen müsste, am 30.12.2015 in Bezug auf den Verletzungserfolg des Sturzes der Klägerin bedingt vorsätzlich gehandelt hat. Die ggf. vorsätzliche Missachtung von Unfallverhütungsvorschriften, auf die der Unfall zurückzuführen ist, genügt nicht. Dies führt zwar zur bewussten Fahrlässigkeit, rechtfertigt aber nicht die Annahme eines bedingten Vorsatzes hinsichtlich des Verletzungserfolges. Der bedingte Vorsatz unterscheidet sich von der bewussten Fahrlässigkeit dadurch, dass der bewusst fahrlässig handelnde Täter darauf vertraut, der als möglich vorauszusehende Erfolg werde nicht eintreten, und aus diesem Grund die Gefahr in Kauf nimmt, während der bedingt vorsätzlich handelnde Täter sie deshalb in Kauf nimmt, weil er, wenn er sein Ziel nicht anders erreichen kann, es auch durch das unerwünschte Mittel verwirklichen will (vgl. BGH, Urteil vom 08.03.2012 – III ZR 191/11 – Rn. 14). Selbst derjenige, der vorsätzlich eine zugunsten des Arbeitnehmers bestehende Schutzvorschrift missachtet, will deshalb regelmäßig nicht die Schädigung und den Arbeitsunfall des Arbeitnehmers selbst, sondern hofft, dass diesem kein Unfall widerfahren werde (vgl. BAG, Urteil – 8 AZR 35/19 – Rn. 51 m.w.N.).

2. Das Haftungsprivileg des § 104 SGB VII verstößt nicht gegen Normen des Unionsrechts.

a) Soweit Art. 5 Abs. 1 RL 89/391/EWG den Arbeitgeber verpflichtet, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen, ist ihm nach Auffassung des EuGHs ist nicht zu entnehmen, dass dem Arbeitgeber „eine verschuldensunabhängige Haftung auferlegt werden muss.“ Im Gegenteil gebe Art. 5 Abs. 1 RL 89/391/EWG keine bestimmte Art der Haftung bei Unfällen vor (vgl. zum Ganzen EuGH, Urteil vom 14.06.2007 – C-127/05 – Rn. 42, 47 – Slg. 2007, I-4619). Die Vorschrift sehe nur eine allgemeine Pflicht des Arbeitgebers zur Gewährleistung der Sicherheit vor, ohne eine Aussage darüber zu treffen, wie eine Haftung aussehen solle.

Auch nach der landesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung ist sowohl der Richtlinie 89/391/EWG als auch der Richtlinie 89/655/EWG nur die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Unfallverhütung zu entnehmen. Damit ist aber nichts darüber gesagt, welche Folgen die Mitgliedstaaten an die Behandlung der bei Missachtung dieser Grundsätze eintretenden Schäden knüpfen (vgl. LAG Köln, Urteil vom 29.09.1994 – 6 Sa 763/94 – unter II. 2. der Gründe; LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 01.06.2010 – 12 Sa 320/10 – unter II. 3. der Gründe). Die Richtlinien treffen keine Aussage über das Verhältnis von zivilrechtlichen Ansprüchen der Arbeitnehmer auf Ersatz von Personenschäden zu sozialversicherungsrechtlichen Ersatzregelungen (vgl. LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 01.06.2010 – 12 Sa 320/10 – unter II. 3. der Gründe). In diesem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass die Verordnung Nr. 1408/71/EWG zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ausdrücklich vorsieht, dass das nationale Sozialversicherungsrecht Haftungsfreistellungen bei Arbeitsunfällen regelt (vgl. LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 01.06.2010 – 12 Sa 320/10 – a.a.O.). Diese Auffassung findet in der Literatur Zustimmung (vgl. Ricke in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, 110. EL Juli 2020, § 104 SGB VII Rn. 2 d); Plagemann in Plagemann, MünchAnwaltshandbuch Sozialrecht, 5. Aufl. 2018, § 25 Rn. 2 Fn 3; EuArbRK/Klindt/Schucht, 3. Aufl. 2020, RL 89/391/EWG Art. 5 Rn. 4; Koch in Schaub, ArbHdb., 18. Aufl. 2019, § 61 Rn. 12).

Entgegen der Auffassung der Klägerin trifft die Verpflichtung des Arbeitgebers aus Art. 5 Abs. 1 RL 89/391/EWG durch die Haftungsbeschränkung des § 104 Abs. 1 SGB VII nicht ins Leere. Arbeitgeber, deren Haftung nach § 104 SGB VII beschränkt ist, haften gegenüber dem Sozialversicherungsträger für die infolge des Versicherungsfalls entstandenen Aufwendungen bis zur Höhe des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs, wenn der Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt worden ist, wobei sich das Verschulden anders als im Rahmen des § 104 SGB VII nur auf das den Versicherungsfall verursachende Handeln oder Unterlassen zu beziehen braucht, § 110 Abs. 1 S. 1 SGB VII. Darüber hinaus dienen die Bußgeld- und Strafvorschriften der §§ 25, 26 ArbSchG dazu, Sicherheit und Gesundheitsschutz der Beschäftigten bei der Arbeit durch Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu sichern und zu verbessern.

b) § 104 SGB VII verstößt auch nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz in Art. 20 GRC (Charta der Grundrechte der Europäischen Union), wonach alle Personen vor dem Gesetz gleich sind.

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGHs „verlangt der in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung oder Nichtdiskriminierung, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (…).“ (vgl. EuGH, Urteil vom 21.07.2011 – C – 21/10 – Rn. 47).

Die Klägerin hat zwar eine Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, die sich im Dienst verletzen, und Dritten, die nicht in einem Arbeitsverhältnis zu dem Verletzer stehen, dargelegt. Es fehlt aber jedwede Auseinandersetzung mit den Gründen für die Haftungsprivilegierung der Arbeitgeber gem. § 104 SGB VII. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts verstößt die Vorschrift nicht gegen den in Art. 3 Abs. 1 GG normierten allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz, weil der Haftungsausschluss verfassungsrechtlich nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern im Zusammenhang mit dem Leistungssystem der Unfallversicherung zu sehen ist, das an die Stelle der ausgeschlossenen zivilrechtlichen Ersatzansprüche wegen Personenschäden getreten ist. Die Haftungsbefreiung findet ihren sachlichen Grund in der sozialrechtlichen Leistung der in der Berufsgenossenschaft zusammengeschlossenen Arbeitgeber, die deren Beiträge allein aufzubringen haben. Die Berufsgenossenschaften, die für einen Arbeitsunfall einzustehen haben, erfüllen die Funktion einer Haftpflichtversicherung. Durch das System der Berufsgenossenschaften wird gewährleistet, dass der Geschädigte ohne Rücksicht auf die Leistungsfähigkeit des Unternehmers oder ein etwaiges eigenes Mitverschulden an der Entstehung des Arbeitsunfalls eine Entschädigung erlangt. Darüber hinaus werden im Interesse des Betriebsfriedens Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vermieden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.11.1972 – 1 BvL 4u.17/71, 1 BvR 355/71 – unter A. I. 2. der Gründe; zuletzt bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 27.02.2009 – 1 BvR 3505/08 – unter II. 2. der Gründe). Es sind keine Gründe vorgetragen worden oder ersichtlich, warum diese Gründe nicht auch im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach Art. 20 GRC zu berücksichtigen sind.

c) Eine Vorlage an den EuGH war nicht geboten.

Dies gilt in Bezug auf die erste Vorlagefrage schon deshalb, weil sie durch den EuGH durch Urteil vom 14.06.2007 – C-127/05 – bereits entschieden worden ist. Hinsichtlich der zweiten Vorlagefrage ist eine Vorlage deshalb nicht geboten, weil es nach Art. 20 GRC nicht allein auf die Ungleichbehandlung, sondern auf ihre objektive Rechtfertigung ankommt.

3. Ergänzend stützt die Kammer ihre Entscheidung darauf, dass die Klägerin ihrer Dar-legungs- und Beweislast für den geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch nicht ausreichend nachgekommen ist. Die Klägerin hat bislang nicht dargelegt und unter Beweis gestellt, dass und welche „schwere Verletzung am Steißbein“, die nicht eine Prellung ist, vorliegt. Das Attest vom 25.01.2016 stellt nur einen radiologischen Befund dar; erforderlich wäre die Mitteilung der Diagnose des OCM Orthopädische Chirurgie A-Stadt. Die Diagnose sollte im Schriftsatz vom 06.05.2019, S. 2 unter 2. mitgeteilt werden, was aber bis heute unterblieben ist. Es ist zwischen radiologischen Feststellungen und der Diagnose eines Krankheitszustandes zu unterscheiden. In der Klageschrift, auf die die Klägerin mit Schriftsatz vom 22.07.2020 verwiesen hat, wurde der behandelnde Arzt des OCM Orthopädische Chirurgie A-Stadt nicht namentlich benannt und kann deshalb nicht geladen werden. Trotz gerichtlichen Hinweises hat die Klägerin auch nicht mitgeteilt, welcher Arzt ihr gegenüber behauptet hat, dass der Sturz vom 30.12.2015 zu einer Verschlechterung ihres bestehenden – bislang nicht konkret benannten – Rückenleidens geführt hat. Nach der seitens der Klägerin zitierten Entscheidung des BGH (Urteil vom 19.04.2005 – VI ZR 175/04 – unter II.

2. b) der Gründe) wäre der Zustand der Klägerin vor und nach dem Unfall zu vergleichen, wobei ergänzend ein Sachverständigengutachten heranzuziehen wäre.

Im Übrigen hat die Beklagte bestritten, dass etwaige Feststellungen am 25.01.2016 und die Schwerbehinderung der Klägerin auf den Sturz der Klägerin am 30.12.2015 zurückzuführen seien. Der Schwerbehindertenausweis trifft hierzu keine Aussage. Dies hätte dem Bescheid über die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft und den Grad der Schwerbehinderung entnommen werden können. Vor dem Hintergrund, dass weder die Diagnose der Erkrankung aufgrund der Untersuchung vom 25.01.2016 noch die genauen Gründe der Schwerbehindertenanerkennung seitens der Klägerin vorgetragen wurden, musste der Zeuge X. vom OCM Orthopädische Chirurgie A-Stadt nicht über die Kausalität des Sturzes für die Schwerbehinderung vernommen werden.

Die Klägerin hat zudem bislang nicht ausreichend physische und psychische Beschwerden des Sturzes beschrieben, insbesondere fehlen die angekündigten Unterlagen über Kuraufenthalte, die belegen, dass sie im Februar 2019 und zu einem sonstigen Zeitraum zur Behandlung der Folgen des Sturzes in Kur gewesen sei.

Soweit die Klägerin eine der Beklagten zurechenbare Pflichtverletzung durch „abfällige Bemerkungen“ des Filialleiters ihr gegenüber am 30.12.2015 behauptet, hat sie trotz Hinweisbeschluss vom 01.07.2020 die angeblich gemachten Äußerungen nicht konkret wiedergegeben. Eine rechtliche Beurteilung, ob diese „abfällig“ waren, ist deshalb nicht möglich.

III.

Die Klägerin hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 64 Abs. 6 ArbGG.

IV.

Die Zulassung der Revision kam gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG nicht in Betracht, da die insoweit maßgeblichen Rechtsfragen höchstrichterlich geklärt sind.

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