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Krankheitsbedingte Kündigung – Unwirksamkeit mangels negativer Gesundheitsprognose

Landesarbeitsgericht Köln – Az.: 4 Sa 297/21 – Urteil vom 08.11.2022

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 21.04.2021 – 18 Ca 8437/19 – wird zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, krankheitsbedingten Kündigung.

Die im Zeitpunkt der Kündigung 35-jährige, geschiedene und zwei Kindern unterhaltsverpflichtete Klägerin ist seit dem 01.02.2013 zuletzt auf der Grundlage des Arbeitsvertrages vom 15.01.2015 als Lager-Mitarbeiterin zu etwa 2.195,95 EUR brutto beschäftigt. Die Beklagte betreibt ein Zentrallager für die Belieferung von Einkaufs Märkten mit Lebensmitteln. Im Beschäftigungsbetrieb von ca. 830 Mitarbeiter beschäftigt.

In den Jahren 2016 – 2019 kam es zu häufigen Kurzerkrankungen der Klägerin. Unter dem 16.10.2019 führten die Parteien ein Gespräch. Mit Schreiben vom 11.12.2019, der Klägerin zugegangen am 13.12.2019, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.03.2020.

Mit am 20.12.2019 beim Arbeitsgericht eingegangener Klage hat sich die Klägerin gegen die Rechtswirksamkeit der Kündigung gewendet.

Sie hat behauptet, unter Berufung auf das Zeugnis der Ärzte Frau Y und Herr Dr. G , die sie wie alle behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbunden hat, dass ihre verschiedenen Erkrankungen aus der Vergangenheit folgenlos ausgeheilt seien. So sei etwa eine zur Arbeitsunfähigkeit vom 11.12.2017 bis 19.01.2018 führende Erkrankung der Lendenwirbelsäule beruhend auf einer Fußfehlstellung durch Behandlung vollständig ausgeheilt ebenso wie eine Sehnenscheidenentzündung, die vom 02.02.2018 bis 28.02.2018 zur Arbeitsunfähigkeit geführt habe (vgl. zu beidem: S. 4 f. d SS v. 05.05.2020, Bl. 135 f. d.A.). Am 21.11.2017 sei sie einen einzelnen Tag wegen eines Knie-Scannings arbeitsunfähig gewesen und am 27. und 28.11.2017 wegen einer Wurzelkanalbehandlung (vgl. SS v. 22.02.2021, S. 3 f., Bl. 314 f. d.A.). Die Fehlzeiträume vom 21.05.2019 bis 08.06.2019 sowie vom 13.11.2019 bis 22.11.2019 beruhten auf mittelgradigen depressiven Episoden, welche insbesondere auf die Umstände am Arbeitsplatz zurückzuführen gewesen seien. Seit ihrer durchgehenden Beschäftigung in der Abteilung K -Z (beginnend am 01.10.2019) habe sich ihr Gesundheitszustand erheblich verbessert – sie fühle sich in der Abteilung äußerst wohl und habe sich gut in das Team integriert. Die depressiven Episoden seien abgeschlossen und ausgeheilt, wie ihr Arzt Dr. G bezeugen könne. Wiederum unter Berufung auf das Zeugnis von Frau Y hat sie behauptet, dass die zur Arbeitsunfähigkeit vom 11.07.2019 bis 30.07.2019 führende Nervenwurzelentzündung im Lendenwirbelsäulenbereich sowie die nachfolgende Erkrankung der Sehnenansätze (Arbeitsunfähigkeit vom 25.11.2019 bis 14.12.2019) ausgeheilt seien (S. 7 d. SS v. 05.05.2020, Bl. 138 d.A). Nicht an alle Arbeitsunfähigkeitsursachen könne sie sich erinnern. Jedenfalls bestehe nach der Bewertung der behandelnden Ärztin Frau Y keine Krankheit, die nicht in sich abgeschlossen und ausgeheilt sei (vgl. hierzu das entsprechende ärztliche Attest v. 23.03.2020 in Anlage K 6 zum SS v. 05.05.2020, Bl. 186 d.A.). Eine besondere Anfälligkeit für Atemwegserkrankungen hätten die behandelnden Ärzte bei ihr nicht feststellen können (vgl. SS v. 22.02.2021, S. 4, Bl. 316 d.A.). Die beiden behandelnden Ärzte hätten durchgehend eine positive Gesundheitsprognose aufgestellt und zudem eine besondere konstitutive Krankheitsanfälligkeit verneint.

Im BEM-Gespräch vom 16.10.2019 habe sie zwar überwiegend normale Krankheiten ohne Bezug zu ihren dienstlichen Tätigkeiten als Ursache ihrer Arbeitsunfähigkeiten angegeben, allerdings zu einem Krankheitsbild von einer betrieblichen Ursache gesprochen. Da diese in Problemen mit dem Vorgesetzten des am Gespräch teilnehmenden Betriebsratsmitglieds A bestanden hätten und sie insoweit Repressalien befürchtet habe, habe sie um eine Erläuterung in dessen Abwesenheit gebeten, was abgelehnt worden sei.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, dass es der Kündigung an einer sozialen Rechtfertigung fehle. Die Beklagte verkenne, dass keine negative Zukunftsprognose gegeben sei wie sich schon in den zuletzt rückläufigen Arbeitsunfähigkeitszeiten und ihrer seit Ausspruch der Kündigung anhaltenden Arbeitsfähigkeit zeige. Im Rahmen der abschließenden Interessenabwägung sei zu berücksichtigen, dass sie alleinerziehend und gegenüber zwei (13 und 15 Jahre alten) Kindern unterhaltspflichtig sei. Verschärfend trete ihre äußerst schwierige finanzielle Situation (Wohlverhaltensperiode nach Privatinsolvenz) hinzu. Eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses stelle daher eine besondere Härte für sie da, weil sie angesichts ihrer relativ geringen Qualifikation schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt habe. Die von ihr mit Nichtwissen bestrittene Betriebsratsanhörung sei schon deswegen nicht ordnungsgemäß, weil dem Betriebsrat fälschlicherweise nur eine Unterhaltspflicht mitgeteilt worden sei.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt – nach Rücknahme eines allgemeinen Feststellungsantrags:

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 11.12.2019, ihr am 13.11.2019 zugegangen, nicht beendet wird;

2. die Beklagte zu verurteilen, sie bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Arbeitsvertragsbedingungen als Lagermitarbeiterin weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen

Sie hat behauptet, die Klägerin habe in 2016 an 21 Arbeitstagen krankheitsbedingt gefehlt, in 2017 sei es zu 58 krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeitstagen gekommen, in 2018 zu 84 und in 2019 bis zum Zeitpunkt der Anhörung des Betriebsrats am 03.12.2019 zu 52 Tagen. In 2016 habe sie 2.007,93 EUR an Entgeltfortzahlung geleistet, in 2017 5.460,68 EUR, in 2018 8.025,64 EUR und in 2019 5.091,70 EUR. Im BEM-Gespräch am 16.10.2019 habe die Klägerin angegeben, dass es keine betrieblichen Ursachen für ihren erhöhten Krankenstand gebe. Der Betriebsrat sei mit Schreiben vom 03.12.2019 zur Kündigung der Klägerin angehört worden (vgl. Anlage SB1 zum SS v. 11.05.2020, Bl. 212 ff. d.A.).

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass die Kündigung der Klägerin aus personenbedingten Gründen gerechtfertigt sei. Aufgrund der häufigen Kurzzeiterkrankungen in den letzten Jahren sei auch für die Zukunft mit entsprechenden Arbeitsunfähigkeitszeiten zu rechnen. Aufgrund der hohen zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten sei ihr die Fortführung des Arbeitsverhältnisses nicht zumutbar. Die Klägerin habe durchschnittlich 2,66 Bruttogehälter jährlich an Entgeltfortzahlung bezogen. Sie habe alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um sie zu unterstützen und ihren gesundheitlichen Einschränkungen Rechnung zu tragen. Im Vergleich zu den sonstigen am Logistikstandort verfügbaren Aufgaben seien die Tätigkeiten der Klägerin mit geringen physischen Belastungen verbunden. Bezüglich der Unterhaltspflichten der Klägerin habe sie gegenüber dem Betriebsrat auf die Lohnsteuermerkmale abstellen dürfen. Ihr Interesse an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses überwiege das Bestandsschutzinteresse der Klägerin – innerhalb der noch nicht siebenjährigen Bestandsdauer des Arbeitsverhältnisses seien die letzten drei Jahre durch weit überdurchschnittliche Ausfallzeiten geprägt gewesen.

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Auf das schriftliche Gutachten vom 24.11.2020 (Bl. 262 ff. d.A.), das Ergänzungsgutachten vom 20.03.2021 (Bl. 341 ff. d.A.) sowie die Erläuterungen des Sachverständigen im Kammertermin vom 21.04.2021 wird verwiesen. Im Übrigen wird auf den Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze sowie der Terminsprotokolle Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Die Voraussetzungen einer auf häufige (Kurz-) Erkrankungen der Klägerin gestützte krankheitsbedingte Kündigung hätten sich nicht erwiesen. Eine negative Gesundheitsprognose sei nach Beweisaufnahme nicht erwiesen, was aufgrund der Beweislast der Beklagten zur Klagestattgabe geführt habe. Unter Zugrundelegung der eingeholten Gutachten und nach Anhörung des Sachverständigen habe sich nicht im Sinne von § 286 Absatz 1 S. 1 ZPO zur Überzeugung der Kammer erwiesen, dass – vom Zeitpunkt der Kündigung aus beurteilt – für die Zukunft weitere erhebliche Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin im bisherigen Umfang, mindestens aber von mehr als etwa sechs Wochen im Jahr zu erwarten gewesen seien. Für die Überzeugungsbildung der Kammer sei – abweichend vom Ergebnis des Gutachtens – entscheidend gewesen, dass sie für ihre Überzeugungsbildung ein anderes Beweismaß verlangt habe, als der Gutachter seiner Würdigung zugrunde gelegt habe; eine im Bereich von 25 % liegende Wahrscheinlichkeit der Beklagten noch zumutbarer Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin (unter etwa sechs Wochen im Jahr) stelle insbesondere keine nur „theoretisch denkbare“ Möglichkeit der zukünftigen Entwicklung im Sinne der Rechtsprechung dar. Vielmehr sei eine Verbesserung ihres gesundheitlichen Zustandes hiernach nicht besonders unwahrscheinlich. Auch unter dem Gesichtspunkt der „besonderen Krankheitsanfälligkeit“ unabhängig von oder ergänzend zu den Aussagen des Gutachters lasse sich nicht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung in der Vergangenheit aufgetretene Arbeitsunfähigkeitszeiten feststellen. Inwieweit gewisse Erkrankungen der Klägerin auf Belastungen am Arbeitsplatz beruhten und inwieweit durch Änderung ihrer Abteilungszugehörigkeit insoweit Besserung zu erwarten gewesen sei, könne offenbleiben. Eben so erübrige sich nach alledem eine Abwägung der Bestandsschutzinteressen der Klägerin mit dem Auflösung Interesse der Beklagten.

Gegen dieses ihr am 12.05.2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18.05.2021 Berufung eingelegt und diese am 05.07.2021 begründet.

Die Beklagte ist der Auffassung, das Arbeitsgericht habe in seiner Entscheidung den zugrundeliegenden Sachverhalt nicht richtig gewürdigt und sei zu falschen Ergebnissen gekommen. Das Arbeitsgericht habe den Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen der einer krankheitsbedingten Kündigung zugrundeliegenden negativen Zukunftsprognose in eklatanter Weise verkannt.

Die Beklagte meint, der Sachverständige in dem von dem Berufungsgericht eingeholten Sachverständigengutachten verkenne, dass es für die Beantwortung der Beweisfrage nicht auf die weitere Entwicklung des Krankheitsverlaufs nach Ausspruch der Kündigung ankomme, sondern dass darauf abzustellen sei, ob die Beklagte auf der Grundlage ihres damaligen Kenntnisstands im Dezember 2019 zurecht davon habe ausgehen können, dass weiterhin eine negative gesundheitliche Zukunftsprognose bei der Klägerin bestehen würde. Der Sachverständige bestätige – wie auch schon in seinen Schreiben vom 05.01.2022 – auf der Basis der Kenntnislage im Dezember 2019 die negative Zukunftsprognose. Soweit der Sachverständige jetzt auch auf spätere Entwicklungen im Krankheitsverlauf abstelle, komme es darauf nicht an.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 21.04.2021 – 18 Ca 8437/19 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Das Arbeitsgericht sei zu dem zutreffenden Ergebnis gekommen, dass die Kündigung vom 11.12.2019 bereits deshalb unwirksam sei, weil bereits auf erster Stufe eine negative Gesundheitsprognose für die Klägerin zum Kündigungszeitpunkt nicht bestanden habe; die Beweiswürdigung sei im Ergebnis alternativlos.

Das vom Berufungsgericht eingeholte Sachverständigengutachten verneine das Bestehen einer negativen Gesundheitsprognose zum Kündigungszeitpunkt noch eindeutiger, sodass es der Beklagten nicht gelinge der ihr obliegenden Beweislast nachzukommen. Das Fachgutachten gehe durchgehend vom zutreffenden Zeitpunkt der zu erstellenden Prognose (Zeitpunkt des Ausspruchs der streitgegenständlichen Kündigung vom 11.12.2019) aus. Im Übrigen entspreche es im Falle krankheitsbedingter Kündigungen ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung, dass im Rahmen von Prognoseentscheidungen auch die spätere Entwicklung nach Kündigungsausspruch in den Blick genommen werden könne und dürfe, insbesondere dann, wenn diese – wie hier – die Prognose bestätige.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens. Auf das schriftliche Gutachten vom 20. Mai 2022 (Bl. 545 ff. der Akte) wird verwiesen. Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und II ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II. Das Rechtsmittel bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die streitgegenständliche, von der Beklagten mit personenbedingten Gründen begründete Kündigung vom 11.12.2019 zurecht für sozialwidrig und damit rechtsunwirksam erachtet und die Beklagte zur Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens verurteilt.

1. Die von der Beklagten aus krankheitsbedingten Gründen ausgesprochene Kündigung vom 11.12.2019, die die Klägerin innerhalb der Drei-Wochen-Frist des § 4 Satz 1 KSchG mit einer Kündigungsschutzklage angegriffen hat und welche daher auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen war, hat das Arbeitsverhältnis nicht wirksam beendet. Sie ist – nachdem das Kündigungsschutzgesetz aufgrund Betriebsgröße und Beschäftigungsdauer der Klägerin nach §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG Anwendung findet – nicht gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG aus personenbedingten Gründen sozial gerechtfertigt.

a. Eine mit häufigen (Kurz-) Erkrankungen des Arbeitnehmers begründete Kündigung ist sozial nur gerechtfertigt, wenn im Kündigungszeitpunkt Tatsachen vorliegen, die die Prognose stützen, es werde auch künftig zu Erkrankungen im bisherigen – erheblichen – Umfang kommen – erste Stufe. Die prognostizierten Fehlzeiten müssen außerdem zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen – zweite Stufe. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung – dritte Stufe – ist schließlich zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber angesichts der Belange des Arbeitnehmers gleichwohl hingenommen werden müssen (vgl. BAG 16. Juli 2015 – 2 AZR 15/15 – Rn. 29 – juris; 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 16 – juris).

b. Auch nach von dem Berufungsgericht durchgeführter Beweisaufnahme durch Einholung eines Sachverständigengutachtens ist bereits in der ersten Stufe die von der Beklagten angestellte negative Gesundheitsprognose, auch in Zukunft sei mit Erkrankungen der Klägerin im bisherigen Umfang zu rechnen, nicht berechtigt.

aa. Treten während der letzten Jahre jährlich mehrere (Kurz-) Erkrankungen auf, spricht dies für eine entsprechende künftige Entwicklung des Krankheitsbildes, es sei denn, die Krankheiten sind ausgeheilt. Der Arbeitgeber darf sich deshalb auf der ersten Prüfungsstufe zunächst darauf beschränken, die Fehlzeiten der Vergangenheit darzustellen und zu behaupten, in Zukunft seien Krankheitszeiten in entsprechendem Umfang zu erwarten. Alsdann ist es Sache des Arbeitnehmers, gemäß § 138 Abs. 2 ZPO darzulegen, weshalb im Kündigungszeitpunkt mit einer baldigen Genesung zu rechnen war. Er genügt dieser prozessualen Mitwirkungspflicht schon dann, wenn er vorträgt, die behandelnden Ärzte hätten seine gesundheitliche Entwicklung positiv beurteilt, und wenn er diese von ihrer Schweigepflicht entbindet. Je nach Erheblichkeit des Vortrags ist es dann Sache des Arbeitgebers, den Beweis für die Berechtigung einer negativen Gesundheitsprognose zu führen (vgl. BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 17, mwN, juris; BAG 10.11.2005 – 2 AZR 44/05 -, juris Rn. 24; LAG Köln 12.03.2021 – 10 Sa 804/20 -, juris Rn. 37 mwN.). Vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls ist für die Erstellung der Gesundheitsprognose ein Referenzzeitraum von drei Jahren maßgeblich; ist eine Arbeitnehmervertretung gebildet, ist auf die letzten drei Jahre vor Einleitung des Beteiligungsverfahrens abzustellen. (vgl. BAG 25. April 2018 – 2 AZR 6/18 – Rn. 23; 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 32, zitiert nach juris). Maßgeblicher Zeitpunkt zur Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung ist der Zeitpunkt der Kündigungserklärung (BAG 27. Februar 2020 – 8 AZR 215/19 – Rn. 70 – juris; 26. Januar 2017 – 2 AZR 61/16 – Rn. 33, 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 3 – juris). Es ist aber – insbesondere, wenn dem Kündigungsgrund ein prognostisches Element innewohnt – nicht unzulässig, die spätere Entwicklung in de n Blick zu nehmen, soweit sie die Prognose bestätigt (BAG 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 – Rn. 32 – juris; 13. Mai 2004 – 2 AZR 36/04 – Rn. 27- juris).

bb. Dies zugrunde gelegt hat die Beklagte mit 58 krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeitstagen in 2017, 84 Arbeitsunfähigkeitstagen in 2018 und 52 Arbeitsunfähigkeitstagen bis zur Betriebsratsanhörung am 03.12.2018 ausreichende Fehlzeiten der Klägerin in der Vergangenheit dargelegt hat, denen eine Indizwirkung hinsichtlich künftiger Fehlzeiten zukommt.

cc. Die Klägerin hat – wie das Arbeitsgericht zu Recht erkannt hat – mit ihrer substantiierten Einlassung zur positiven Gesundheitsprognose, insbesondere ihrem Berufen auf die entsprechende Bewertung der beiden sie hauptsächlich behandelnden Ärzte und die Entbindung aller Behandler von der Schweigepflicht die Indizwirkung der bisherigen Fehlzeiten erschüttert.

Trägt der Arbeitnehmer selbst konkrete Umstände für seine Beschwerden und deren Ausheilung oder Abklingen vor, so müssen diese geeignet sein, die Indizwirkung der bisherigen Fehlzeiten zu erschüttern; er muss jedoch nicht den Gegenbeweis führen, dass nicht mit weiteren häufigen Erkrankungen zu rechnen sei (BAG 10. November 2005 – 2 AZR 44/05 – Rn. 31, zitiert nach juris).

dd. Die Beklagte hat den Beweis für die Berechtigung einer negativen Gesundheitsprognose nicht erbracht. Nach durchgeführter Beweisaufnahme unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen steht nicht zur Überzeugung der Berufungskammer gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO fest, dass die nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG zur sozialen Rechtfertigung erforderliche negative Gesundheitsprognose bei der Klägerin zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs vorgelegen hat. Es steht nicht fest, dass am 11. Dezember 2019 künftig mit häufigen Kurzerkrankungen der Klägerin von jährlich insgesamt mehr als sechs Wochen zu rechnen war.

(1) Der Sachverständigte Dr. med. E hat zur Erstellung seines ausführlichen Gutachtens vom 09. Dezember 2021 eine persönliche Anamnese, bestehend aus Familien-, Arbeits-, spezieller sowie vegetativer Anamnese, erstellt (S. 3 – 6 SVG). Er hat im Rahmen der Familienanamnese einschlägige Vorerkrankungen, im Rahmen der Arbeitsanamnese den beruflichen Werdegang der Klägerin sowie ihre Tätigkeiten bei der Beklagten und im Rahmen der speziellen Anamnese ihre Stellungnahme zu ihren Virusinfekten, muskuloskelettalen sowie psychischen Erkrankungen erfragt. Zudem hat er die Klägerin am 18.05.2022 persönlich untersucht. Als Ergebnis der körperlichen Untersuchung hat er dargelegt, dass eine Depression aufgrund des Verhaltens der Klägerin nicht erkennbar sei. Die orientierende Untersuchung insbesondere der Wirbelsäule zeige einen Normalbefund mit normaler Form und Beweglichkeit. Am rechten Ellenbogen finde sich ein leichtgradiger Druckschmerz im Bereich des radialen Epicondylus; die grobe Kraft sei allseits erhalten. Im Bereich der Thoraxorgane sei der Untersuchungsbefunde unauffällig.

Dem Gutachter lag das in erster Instanz eingeholte fachärztliche Gutachten des Dr. K vom 25. November 2020 sowie dessen ergänzende Ausführungen vom 20. März 2021 sowie die gesamten Gerichtsakten vor. Ihm war bekannt, dass bei der Klägerin zwischen dem 03.03.2015 und am 13.12.2019 insgesamt 222 Fehltage gegeben waren, die sich im Wesentlichen auf drei Krankheitsgruppen, nämlich muskuloskelettale Erkrankungen, Infekte und eine psychische Erkrankung verteilten.

Der Gutachter kam in seinem Sachverständigengutachten widerspruchsfrei und nachvollziehbar zu dem Schluss, dass im Dezember 2019 ärztlicherseits eine Prognose nicht eindeutig abgegeben werden konnte, dass aber andererseits keine chronischen Erkrankungen vorlagen, die stark auf eine schlechte Prognose schließen bzw. häufige Fehltage erwarten ließen. Eine Einschränkung sei dahingehend zu berücksichtigen, dass insbesondere die damalige offensichtlich reaktive Depression der Klägerin als auch die muskuloskelettalen Beschwerden, insbesondere die rezidivierende Lumbago der Klägerin kaum eine Prognose hinsichtlich Fehltagen zulassen. Retrospektiv betrachtet könnten sämtliche der im Zeitraum von 2015 – 2019 bestehenden Erkrankungen für die jetzige Eignung der Klägerin auch für schwere körperliche Tätigkeiten nicht mehr als beurteilungsrelevant angesehen werden.

(2) Aufgrund dieser plausiblen Darstellungen und Erläuterungen des Gutachters geht die Berufungskammer davon aus, dass nicht feststeht, dass zum Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs mit künftigen Fehlzeiten der Klägerin wie in der Vergangenheit zu rechnen war.

Der Gutachter erläutert plausibel, auf die Möglichkeit von Zusatzgutachten auf neurologisch-psychiatrischen und orthopädischen Fachgebiet keinen Gebrauch gemacht zu haben, da er es für sehr unwahrscheinlich halte, dass durch eine aktuelle Untersuchung der Klägerin chronische Krankheiten detektiert werden könnten, da sich aufgrund der Anamnese und der klinischen Untersuchung keine Hinweise auf derartige chronischen Erkrankungen ergeben hätten. Er legt dar, dass sich diese Beurteilung auch mit dem Attest der Hausärztin Frau Y , die von einem aus heilen dieser Krankheiten ausgehe, decke. Die Klägerin könne insbesondere für alle drei Krankheitsgruppen Gründe benennen, die möglicherweise dazu geführt haben, dass sich die Krankheitszeiten in den zu beurteilenden Jahren verstärkt manifestierten, nämlich das Einschleppen von Viren durch die Kinder aus der Schule, die multiplen psychischen Belastungen durch Privatinsolvenz, Probleme mit dem Sohn und arbeitsbedingte Probleme sowie die muskuloskelettalen Beschwerden, die erfolgreich therapiert worden seien.

(3) Die Einwendung der Beklagten gegen das Gutachten des Sachverständigen Dr. med. E , der Sachverständige verkenne, dass es für die Beantwortung der Beweisfrage nicht auf die weitere Entwicklung des Krankheitsverlaufs nach dem Ausspruch der Kündigung ankomme, sondern dass darauf abzustellen sei, ob die Beklagte auf der Grundlage ihres damaligen Kenntnisstandes im Dezember 2019 zurecht davon ausgehen konnte, dass weiterhin eine negative gesundheitliche Zukunftsprognose bei der Klägerin bestehen würde, ist nicht nachvollziehbar. Wie zuvor ausgeführt, beantwortet der Sachverständige im Rahmen seiner zusammenfassenden Beurteilung die von der Beklagten zu beweisende Behauptung, eindeutig dahingehend, „dass im Dezember 2019 ärztlicherseits eine Prognose nicht eindeutig abgegeben werden konnte“ (Hervorhebung durch das Gericht). Zudem ist es aber – insbesondere, wenn dem Kündigungsgrund ein prognostisches Element innewohnt – nicht unzulässig, die spätere Entwicklung in den Blick zu nehmen, soweit sie – wie hier – die Prognose bestätigt (vgl BAG, Urteil vom 23. Januar 2014 – 2 AZR 582/13 -, BAGE 147, 162-171, Rn. 32). Auch ist hier die fallende Tendenz der krankheitsbedingten Fehlzeiten von 2018 auf 2019 zu berücksichtigen, die zudem dadurch bestätigt wird, dass die Klägerin nach Zugang der Kündigung noch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist durchgehend arbeitsfähig war.

(4) Die Ausführungen des Herrn Dr. E in dem Schreiben vom 05.01.0222, auf die die Beklagte in ihrem Vortrag nach Einholung des Gutachtens teilweise abstellt, sind nicht heranzuziehen, da dieses nicht Teil des erstellten Gutachtens ist, sondern nur der Klärung der Verfahrensweise im Hinblick auf die Frage der Erforderlichkeit einer persönlichen Untersuchung der Klägerin diente.

(5) Durch das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten wurde das Ergebnis des erstinstanzlichen Urteils bestätigt. Auf Fehler in der Beweiswürdigung durch das erstinstanzliche Gericht kommt es somit nicht (mehr) an. Insbesondere eine fehlerhafte Anwendung der Beweiswürdigungsgründe und des Beweismaßes sind zudem nicht gegeben.

c. Nachdem es bereits an einer negativen Zukunftsprognose der Klägerin iSd. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG fehlt, kommt es nicht darauf an, ob die weiteren Voraussetzungen für eine soziale Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung vorlagen. Nicht mehr entscheidungserheblich ist auch, ob die Beklagte ein ordnungsgemäßes betriebliches Eingliederungsmanagement nach § 167 Abs. 2 SGB IX durchgeführt hat. Ebenso kann dahinstehen, ob die Kündigung wegen nicht ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrates nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam war. Die Kündigung der Beklagten vom 11. Dezember 2019 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht wirksam beendet.

2. Da das Arbeitsverhältnis nicht durch die streitgegenständliche Kündigung beendet worden ist, hat die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens einen Anspruch, zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiter beschäftigt zu werden gemäß §§ 611, 242 BGB, Art. 1 und 2 GG (vgl. BAG GS 27. Februar 1985 – GS 1/84).

III. Nach allem bleibt es somit bei der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung. Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des von ihr erfolglos eingelegten Rechtsmittels zu tragen. Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 72 Abs. 2 ArbGG sind nicht gegeben, da die Entscheidung auf den Umständen des Einzelfalls beruht.

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