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Überziehung der Pausenzeiten – Arbeitnehmerkündigung

ArbG Frankfurt – Az.: 24 Ca 6410/15 – Urteil vom 08.03.2016

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 31. August 2015 weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst ist.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Bedingungen des Arbeitsvertrages als Operator 3 innerhalb der Abteilung S… der Prozessgruppe 4/Automatische Kontrolle in Roter Schicht weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger EUR 2.218,85 netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. September 2015 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf EUR 19.533,25 festgesetzt.

Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen. Die Statthaftigkeit der Berufung nach dem Wert des Beschwerdegegenstandes bleibt hiervon unberührt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen außerordentlichen fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses, hilfsweise über Weiterbeschäftigung sowie über anteilige Vergütung für August 2015. Hilfsweise, für den Fall des Unterliegens mit seiner Kündigungsschutzklage und dem allgemeinen Feststellungsantrag, begehrt der Kläger die Erteilung eines qualifizierten Zeugnisses.

Bei der Beklagten handelt es sich um die deutsche Gesellschaft eines global tätigen Pharmakonzerns. Sie beschäftigt im streitgegenständlichen Betrieb regelmäßig weit mehr als zehn Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten. Im Betrieb ist ein Betriebsrat gewählt.

Der am xx.xx.1979 geborene Kläger ist seit dem 1. Oktober 2003, zuletzt auf Grundlage des als Anlage K2 (Bl. 17 ff. d. A.) vorgelegten Arbeitsvertrages der Parteien vom 25. August 2005, auf den vollinhaltlich Bezug genommen wird, bei der Beklagten, seit Juni 2013 als Operator 3 innerhalb der Abteilung S… der Prozessgruppe 4/Automatische Kontrolle in Roter Schicht, beschäftigt. Per Schreiben vom 22. Oktober 2014 wurde ihm mit Wirkung zum 1. Oktober 2014 bis einschließlich zum 30. September 2015 die Funktion des Teilprozessleiters in der Prozessgruppe Optische Kontrolle der S… übertragen. Auf das als Anlage A5 (Anlagenband) vorgelegte Schreiben wird vollinhaltlich Bezug genommen. Die vom Kläger zuletzt bezogene durchschnittliche Bruttomonatsvergütung beträgt EUR 4.328,60.

Im Zeitraum Juni 2011 bis 31. Januar 2014 absolvierte der Kläger eine IHK-Ausbildung zum Pharmakanten. Die Parteien schlossen bezüglich dieser Weiterbildung die als Anlage A3 (Anlagenband) vorgelegte Vereinbarung vom 5. April 2014, auf die vollinhaltlich Bezug genommen wird und in der es auszugsweise wie folgt heißt:

„…

Die Kosten der Fortbildung in Höhe von € 10.650,50 brutto werden vom Unternehmen in Erwartung einer dauerhaften Zusammenarbeit übernommen.

Sollten Sie das Arbeitsverhältnis kündigen, ohne hierfür einen wichtigen Grund zu haben, oder wird das Arbeitsverhältnis aus einem von Ihnen zu vertretenden Grund von uns gekündigt, verpflichten Sie sich, die vom Unternehmen getragenen Fortbildungskosten zu erstatten.

Für jeden vollen Tätigkeitsmonat nach Beendigung der Fortbildungsmaßnahme vermindert sich der Rückzahlungsbetrag um 1/24.

…“

Die zuletzt vom Kläger ausgeübte Funktion des Teilprozessleiters ähnelt der eines Schichtleiters. In dieser Funktion hatte er regelmäßig sieben Mitarbeiter zu betreuen. Zu seinen Aufgaben gehörten insbesondere die Anweisung und Beaufsichtigung seiner Mitarbeiter in der Produktion, die fachliche und organisatorische Führung der Mitarbeiter, die Überwachung der ordnungsgemäßen Durchführung der Tätigkeiten, die Festlegung des Arbeitsablaufs sowie die Einteilung der Aufträge an die Mitarbeiter. Er ist im Rahmen des aufgestellten Schichtplans an feste Arbeitszeiten gebunden und arbeitet in Wechselschicht in Früh-, Spät- und Nachtschicht. Die Nachtschicht im Bereich des Klägers beginnt um 21.45 Uhr und endet um 6.15 Uhr. Eine Schicht dauert acht Stunden zuzüglich einer unbezahlten Ruhepause von insgesamt 30 Minuten, die automatisch abgezogen werden. Ein Zeiterfassungsgerät muss nicht benutzt werden. Die Kontrolle der Einhaltung der Arbeits- und Pausenzeiten erfolgt durch die jeweiligen Vorgesetzten. Der Vorgesetzte des Klägers, Herr A, arbeitet jedoch nicht in Nacht- und Wochenendschichten. Der Kläger trägt während seiner Dienstzeiten ein dienstliches Mobiltelefon bei sich. Wenn er während seiner Pausenzeit hierauf kontaktiert wird, hat er seine Pause zu unterbrechen.

Am 10. Juli 2015 bemerkte Herr A, dass in der vorangegangenen Nachtschicht, welche vom Kläger geleitet worden war, eine deutliche Abweichung zwischen Ist und Soll in der Produktion aufgetreten war. Er wandte sich daraufhin per E-Mail an den Kläger, woraufhin die als Anlage A8 (Anlagenband) vorgelegte E-Mail-Korrespondenz vom 10. bis 13. Juli 2015, auf die vollinhaltlich Bezug genommen wird, entstand, innerhalb derer Herr A den Kläger mit E-Mail vom 13. Juli 2015 aufforderte, augenblicklich das Problem mit Arbeitsmotivation/Pausen seiner Mitarbeiter abzustellen.

In der Folgezeit entschloss sich die Beklagte dazu, den Ermittlungsdienst der B zur stichprobenartigen Überprüfung der Einhaltung der Pausenzeiten durch den Kläger einzuschalten. Während des Einsatzes des Ermittlungsdienstes vom 12. bis 23. August 2015 überzog der Kläger – nach dem nunmehr unstreitigen Vorbringen der Parteien in der mündlichen Verhandlung am 8. März 2016, wobei der genaue Umfang weiterhin streitig ist – seine Pausenzeiten mehrfach.

Am 26. August 2015 bat die Beklagte den Kläger daraufhin zu einem Personalgespräch, in dessen Rahmen der Kläger mit dem Verdacht der vorsätzlichen Pausenüberziehung konfrontiert wurde. Den angebotenen Abschluss eines Aufhebungsvertrages lehnte der Kläger ab. Die Beklagte hörte daraufhin den Betriebsrat mit den als Anlagenkonvolut A12 (Anlagenband), auf das vollinhaltlich Bezug genommen wird, vorgelegten Unterlagen, zur beabsichtigten außerordentlich fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger an. Der Betriebsrat widersprach der Kündigung mit dem als Anlage A13 (Anlagenband) vorgelegten Schreiben vom 31. August 2015, auf das ebenfalls Bezug genommen wird.

Mit dem als Anlage K4 (Bl. 22 d. A.) vorgelegten Schreiben vom 31. August 2015, das dem Kläger am 1. September 2015 zuging und auf das Bezug genommen wird, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstzulässigen Zeitpunkt. Von der klägerischen Vergütung für August 2015 behielt die Beklagte einen Betrag iHv. EUR 2.218,85 netto ein.

Mit Schriftsatz vom 15. September 2015 – bei Gericht vorab per Fax am selben Tag eingegangen und der Beklagten zugestellt am 23. September 2015 – hat der Kläger Klage erhoben. Er hat seine Klage erweitert durch Schriftsatz vom 19. Februar 2016 und die Fassung der Anträge in der Kammerverhandlung am 8. März 2016 geändert. Er behauptet, er habe seine Pausenzeiten nicht vorsätzlich und systematisch überzogen. Die angeblichen Beobachtungen der eingesetzten Ermittler seien prozessual nicht verwertbar, da ihr Einsatz rechtswidrig gewesen sei. Da er seine Nachtschichten regelmäßig eine Viertelstunde frühe beginne und eine Viertelstunde später beende, was der Beklagten bekannt sei und von ihr geduldet werde, stehe ihm ein gesetzlicher Pausenanspruch von 45 Minuten zu. Die Kündigung erweise sich zudem als unverhältnismäßig, weil die Beklagte ihn vorher hätte abmahnen müssen. Zudem sei der Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden. Der Einbehalt der EUR 2.218,85 netto von seiner Vergütung für August 2015 sei ohne Rechtsgrund erfolgt.

Der Kläger beantragt zuletzt,

  • festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 31. August 2015 weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst ist;
  • festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern fortbesteht;
  • hilfsweise, für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag zu 1., die Beklagte zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten Bedingungen des Arbeitsvertrages als Operator 3 innerhalb der Abteilung S… der Prozessgruppe 4/Automatische Kontrolle in Roter Schicht weiterzubeschäftigen;
  • hilfsweise, für den Fall des Unterliegens mit den Anträgen zu 1. und 2., die Beklagte zu verurteilen, ihm ein qualifiziertes Zeugnis zu erteilen;
  • die Beklagte zu verurteilen, an ihn EUR 2.218,85 netto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. September 2015 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Sie behauptet, im Juni 2015 sei der Vorgesetzte des Klägers, Herr A, von anderen Kollegen darauf angesprochen worden, dass der Kläger vornehmlich während der Nacht- und Wochenendschichten, die vorgegebenen Pausenzeiten erheblich überziehe. Daraufhin habe er am 1. Juli 2015 ein Gespräch mit dem Kläger geführt, in welchem er ihn auf die Einhaltung der Pausenzeiten angesprochen habe und der Kläger eingestanden habe, die Pausenzeiten um ein paar Minuten zu überziehen. Herr A habe daraufhin geantwortet, dass ihm mitgeteilt worden sei, dass wesentlich zu lange Pausen gemacht würden und habe ihn ausdrücklich aufgefordert, die vorgegebenen Pausenzeiten einzuhalten und darauf zu achten, dass die übrigen Mitarbeiter in der vom Kläger geleiteten Schicht ihre Pausenzeiten einhalten. Die Natur der Sache erfordere die Anwesenheit des Klägers bei seinen Mitarbeitern, da er seine Aufgaben nicht in Abwesenheit von der Produktionslinie erledigen könne. Die eingesetzten Ermittler hätten in der Nachtschicht vom 12. auf den 13. August 2015 eine Überschreitung der Pausenzeit des Klägers von mindestens 69 Minuten im Aufenthaltsraum beobachtet; in der Nachtschicht vom 13. auf den 14. August 2015 um mindestens 55 Minuten; in der Nachtschicht vom 21. auf den 22. August 2015 um 46 Minuten und in der Nachtschicht vom 22. auf den 23. August 2015 um mindestens 68 Minuten. In den Pausen der Nachtschichten vom 13. auf den 14. August 2015 sowie vom 22. auf den 23. August 2015 hätten die Ermittler zudem beobachtet, dass der Kläger mit weiteren Personen Karten unter Einsatz von Geld gespielt habe. Im Rahmen des Personalgespräches am 26. August 2015 habe der Kläger sein Fehlverhalten eingestanden, sich aber uneinsichtig gezeigt. Die Betriebsratsanhörung sei am 28. August 2015 durch Übergabe der als Anlagenkonvolut A12 vorgelegten Unterlagen an dessen Vorsitzenden erfolgt. Sie ist der Auffassung, die streitgegenständliche Kündigung habe das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der Kündigungserklärungsfrist außerordentlich aufgelöst. Die hilfsweise ordentliche Kündigung sei als verhaltensbedingte Kündigung gerechtfertigt. Insbesondere der Ausspruch einer vorherigen Abmahnung sei entbehrlich gewesen, da der Kläger davon habe ausgehen müssen, dass sie sein – vorsätzliches und systematisches – Fehlverhalten nicht hinnehmen werde. Durch sein Kartenspiel unter Einsatz von Geld habe der Kläger zudem gegen Nr. 26 lit. b) der Arbeitsordnung, nach der Glücksspiele im Werksbereich nicht gestattet sind, verstoßen und sich gegebenenfalls strafbar gemacht. Da durch die streitgegenständliche außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses die Bedingung zur anteiligen Rückzahlung der Fortbildungskosten eingetreten sei, habe sie zu Recht EUR 2.218,85 netto von der Vergütung des Klägers für August 2015 einbehalten dürfen. In Ergänzung des Sach- und Streitstandes, der Beweisanträge sowie der Rechtsausführungen der Parteien wird Bezug genommen auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien sowie die zu den Akten gereichten Anlagen und die Sitzungsprotokolle, soweit dies noch nicht ausdrücklich erfolgt ist.

Entscheidungsgründe

Überziehung der Pausenzeiten – Arbeitnehmerkündigung
(Symbolfoto: TommyStockProject/Shutterstock.com)

Die zulässige Klage – in zulässiger Weise gemäß §§ 261 Abs. 2, 260, 263 Alt. 1, 267 ZPO erweitert und geändert – ist hinsichtlich des Antrags zu 2. unzulässig, da in das Verfahren keine Folgekündigungen eingeführt wurden. Im Übrigen ist sie zulässig und begründet. Die streitgegenständliche Kündigung hat das Arbeitsverhältnis der Parteien in Ansehung des ultima-ratio-Grundsatzes weder außerordentlich noch ordentlich aufgelöst. Da der Kläger mit dem Kündigungsschutzantrag obsiegt und keine besonderen Umstände vorliegen, ist er antragsgemäß weiterzubeschäftigen. Da das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die streitgegenständliche Kündigung nicht aufgelöst ist, war die Beklagte nicht berechtigt, von der Vergütung für August 2015 EUR 2.218,85 netto einzubehalten. Wegen des Obsiegens des Klägers mit dem Antrag zu 1. fiel der Antrag zu 4. nicht zur Entscheidung an.

I.

Der Klageantrag zu 2. ist wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses unzulässig. Die Feststellungsklage nach § 256 ZPO setzt im Kündigungsschutzprozess wie jede andere Klage ein Rechtsschutzinteresse voraus. Dies besteht nicht schon deshalb, weil eine bestimmt bezeichnete Kündigung ausgesprochen worden und wegen dieser ein Kündigungsrechtsstreit anhängig ist. Es ist vielmehr erforderlich, dass der klagende Arbeitnehmer durch Tatsachenvortrag angeblich weitere Kündigungen oder Beendigungsgründe in den Prozess einführt oder wenigstens deren Möglichkeit glaubhaft macht und damit belegt, warum dieser, die Klage nach § 4 KSchG erweiternde Antrag – noch dazu alsbald – gerechtfertigt sein soll (BAG 27. Januar 1994 – 2 AZR 484/93 – AP KSchG 1969 § 4 Nr. 28).

Der Kläger hat keine über die bereits mit der Kündigungsschutzklage angegriffene Kündigung der Beklagten vom 31. August 2015 hinausgehenden Beendigungstatbestände in das Verfahren eingeführt. Der allgemeine Feststellungsantrag gemäß § 256 ZPO ist daher mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig abzuweisen.

Im Übrigen ist die Klage zulässig.

II.

Der Klageantrag zu 1. ist begründet. Die von der Beklagten unter dem 31. August 2015 ausgesprochene und dem Kläger am 1. September 2015 zugegangene außerordentliche fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses ist rechtsunwirksam und hat das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst.

Gemäß §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG findet das Kündigungsschutzgesetz auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung. Der Kläger ist länger als sechs Monate bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte beschäftigt mehr als zehn Arbeitnehmer iSd. § 23 Abs. 1 KSchG. Nach § 4 S. 1 KSchG kann die Rechtsunwirksamkeit der ordentlichen Kündigung nur innerhalb von drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung geltend gemacht werden. Nach § 13 Abs. 1 S. 1 und 2 KSchG kann auch die Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung nur nach Maßgabe des § 4 S. 1 KSchG sowie der §§ 5 – 7 KSchG geltend gemacht werden.

Die Kündigungsschutzklage des Klägers ist am 15. September 2015 vorab per Fax beim Arbeitsgericht eingegangen und der Beklagten am 23. September 2015 zugestellt worden. Sie ist damit innerhalb der Drei-Wochen-Frist erhoben worden, vgl. § 167 ZPO.

Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.

Die Rechtsprechung konkretisiert den wichtigen Grund durch eine abgestufte Prüfung. Es wird zunächst geprüft, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Grund darzustellen. Dabei ist ohne Bedeutung, ob sich die Störung im Leistungs-, Vertrauens- oder im betrieblichen Bereich auswirkt. In einem zweiten Schritt ist sodann festzustellen, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht, also das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses das Interesse des Arbeitnehmers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses überwiegt (BAG 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09 – NZA 2010, 1227, mwN.).

Überzieht ein Arbeitnehmer wiederholt trotz Abmahnung seine Pausen durch Zeitunglesen, privates Telefonieren, Computerspiele u.Ä. – sog. Pausenbummelei – und ergibt sich daraus der nachhaltige Wille, den vertraglichen Verpflichtungen nicht oder nicht ordnungsgemäß nachkommen zu wollen, ist ein derartiges Verhalten geeignet, eine – unter Umständen auch außerordentliche – Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen (KR-Fischermeier, 11. Aufl. 2016, § 626 BGB Rn. 425; KR-Griebeling/Rachor, 11. Aufl. 2016, § 1 KSchG Rn. 439, jew. mwN.). Die sog. (Pausen-)Bummelei im Betrieb ist ein Fall beharrliche Arbeitsverweigerung, wenn sie nach erfolgter Abmahnung fortgesetzt wird. Wer während der Arbeit übermäßig telefoniert oder aus privaten Gründen im Internet surft, Computerspiele oder Kartenspiele durchführt, verletzt die Arbeitspflicht und kann gekündigt werden, insbesondere wenn gleichartige Pflichtverletzungen bereits vergeblich abgemahnt worden sind (MüKo BGB-Henssler, 6. Aufl. 2012 § 626 BGB Rn. 150; Staudinger/Preis, Neubearb. 2012 § 626 BGB Rn. 158, jew. mwN.).

Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall erweist sich die streitgegenständliche außerordentliche fristlose Kündigung als rechtsunwirksam. Zwar trägt die Beklagte einen Sachverhalt vor, der „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung zu bilden. Die von ihr behaupteten mehrfachen erheblichen – vom Kläger im geringeren Umfang zugestandenen – Überziehungen seiner Pausenzeiten – teilweise durch Kartenspiel unter Einsatz von Geld – stellen eine erhebliche Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten dar. Jedoch ist es ihr zuzumuten, den Kläger weiter zu beschäftigen. Nach den Umständen des Streitfalls hätte eine Abmahnung als Reaktion von ihrer Seite ausgereicht.

Bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Im Vergleich zu einer außerordentlichen fristlosen Kündigung kommen als mildere Mittel insbesondere eine Abmahnung oder eine ordentliche Kündigung in Betracht. Sie sind dann alternative Gestaltungsmittel, wenn schon sie geeignet sind, den mit der außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – nicht die Sanktion pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses – zu erreichen (BAG 23. Oktober 2014 – 2 AZR 865/13 – juris).

Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 651/13 – juris).

Die durchzuführende Interessenabwägung geht in Ansehung dieser Grundsätze im Ergebnis zugunsten des klägerischen Interesses am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses aus. Er hat unstreitig Arbeitspflichtverletzungen begangen. Nach dem Vortrag der Beklagten sogar in erheblichem Ausmaß und schuldhaft. Jedoch hätte die Beklagte ihn nach Auffassung der Kammer vor Ausspruch der Kündigung abmahnen müssen. Das Arbeitsverhältnis der Parteien bestand zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits knapp zwölf Jahre beanstandungsfrei. Konkrete nachteilige Auswirkungen infolge der kündigungsrelevanten Pflichtverletzungen des Klägers hat die Beklagte zudem nicht dargelegt.

Zwar behauptet die Beklagte, der Vorgesetzte des Klägers habe am 1. Juli 2015 ein Gespräch mit diesem geführt, in welchem er ihn ausdrücklich aufgefordert habe, die vorgegebenen Pausenzeiten einzuhalten. Mit diesem Gespräch könnte die Beklagte jedoch allenfalls der sog. Rüge- und Dokumentationsfunktion einer Abmahnung genügt haben. Da sie sich jedoch nicht darauf beruft, ihm individualrechtliche Konsequenzen für den Fall einer erneuten Pflichtverletzung angedroht zu haben, würde dieses Gespräch – unterstellt es hätte so stattgefunden – nicht der sog. Warnfunktion, die einer Abmahnung ebenfalls immanent ist, genügen (vgl. BAG 19. Juli 2012 – 2 AZR 782/11 – NZA 2013, 91). Kündigungsrechtlich ist ein solches Ermahnungsgespräch ohne entscheidende Bedeutung.

Entsprechendes gilt hinsichtlich der E-Mail-Korrespondenz vom 10. bis 13. Juli 2015, insbesondere in Bezug auf die E-Mail der Beklagten vom 13. Juli 2015, in der sie den Kläger aufforderte, augenblicklich das Problem mit Arbeitsmotivation/Pausen seiner Mitarbeiter abzustellen. Gegenständlich war insofern bereits nicht die Einhaltung der Pausenzeiten des Klägers, sondern die seiner Mitarbeiter. Überdies drohte die Beklagte dem Kläger wiederum keine Konsequenzen im Hinblick auf den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses an.

Die Kammer verkennt nicht, dass das Thema Überziehung von Pausenzeiten nach dem Vortrag der Beklagten kein neues war und diesbezüglich beim Kläger eine gewisse Sensibilisierung hätte eintreten müssen. Dass ihm der „Ernst der Lage“ in Bezug auf den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses nicht bewusst war, zeigt sich jedoch insbesondere daran, dass er – zeitlich nachfolgend – in der Zeit vom 12. bis 23. August 2015 seine Pausenzeiten mehrfach überzog. Die Beklagte legt insofern nicht schlüssig dar, inwiefern vorliegend ausnahmsweise davon auszugehen sein soll, dass das künftige Verhalten des Klägers durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses durch Ausspruch einer Abmahnung nicht positiv hätte beeinflusst und künftige Störungen nicht hätten vermieden werden können. Dass der Kläger in den Pausen mitunter Karten unter Einsatz kleinerer Geldbeträge gespielt haben soll, vermag auch in Anbetracht der Arbeitsordnung, welche Glückspiele im Werksbereich untersagt, das Erfordernis einer Abmahnung nicht entfallen zu lassen.

Schließlich liegt auch keine Wiederholungsgefahr vor. Die Kammer geht davon aus, dass der Kläger sich den Ausspruch der Kündigung zur Warnung gereichen lassen und sich künftig vertragstreu verhalten wird, um nicht den Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses ernsthaft zu gefährden.

Aufgrund dessen erweist sich auch die hilfsweise ordentliche Kündigung als rechtsunwirksam. Sie ist durch das Verhalten des Klägers nicht iSv. § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Der Beklagten war es aus den dargelegten Gründen zuzumuten, auf das mildere Mittel der Abmahnung zurückzugreifen (vgl. BAG 25. Oktober 2012 – 2 AZR 495/11 – juris).

III.

Der Kläger hat einen Anspruch auf tatsächliche Weiterbeschäftigung bis zur rechtskräftigen Beendigung des Kündigungsrechtsstreits als Operator 3 innerhalb der Abteilung S… der Prozessgruppe 4/Automatische Kontrolle in Roter Schicht.

Nach der Rechtsprechung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts besteht ein Weiterbeschäftigungsanspruch, wenn ein die Unwirksamkeit der Kündigung feststellendes Instanzurteil ergeht und keine besonderen Umstände vorliegen, die ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers begründen, den Arbeitnehmer nicht weiter zu beschäftigen (BAG 27. Februar 1984 – GS 1/84 – AP BGB § 611 Nr. 14 Beschäftigungspflicht). Die Beklagte hat keine hinreichenden Gründe dafür geltend gemacht, dass ihr Interesse an einer Nichtbeschäftigung des Klägers dessen Beschäftigungsinteresse überwiegt, so dass dem Antrag des Klägers auf Weiterbeschäftigung statt zu geben ist.

IV.

Da der Kläger mit dem Antrag zu 1. obsiegt, war nicht über den hilfsweise, für den Fall des Unterliegens mit den Anträgen zu 1. und 2., gestellten Antrag zu 4. zu entscheiden.

V.

Der Antrag zu 5. ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf anteilige Vergütung für August 2015 iHv. EUR 2.218,85 netto aus § 611 Abs. 1 BGB iVm. dem Arbeitsvertrag der Parteien. Soweit die Beklagte von der Vergütung des Klägers für August 2015 wegen eines von ihr behaupteten Anspruchs EUR 2.218,85 netto in Abzug gebracht hat, ist dieser damit konkludent erklärte Aufrechnungsversuch jedenfalls mangels schlüssiger Darlegung des Bestehens einer Gegenforderung unwirksam, vgl. § 387 BGB. Insbesondere steht der Beklagten kein anteiliges Rückforderungsrecht hinsichtlich der Kosten für die Fortbildung des Klägers iHv. EUR 2.218,85 netto zu, denn die streitgegenständliche Kündigung ist rechtsunwirksam. Der diesbezügliche Zinsanspruch des Klägers iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz, § 247 BGB, seit dem 1. September 2015 folgt aus §§ 280 Abs. 1, 2, 286 Abs. 1, 2 Nr. 1, 288 Abs. 1, 614 BGB.

VI.

Die Beklagte hat gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG iVm. § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO die gesamten Prozesskosten zu tragen, da sie überwiegend unterliegt und die Zuvielforderung des Klägers verhältnismäßig geringfügig war und keine höheren Kosten verursacht hat. Der gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzende Wert des Streitgegenstandes in Höhe von EUR 19.533,25 setzt sich gemäß § 42 Abs. 2 S. 1 GKG aus drei Bruttomonatsgehältern (3 x EUR 4.328,60 = EUR 12.985,80) für die mit dem Klageantrag zu 1. geltend gemachte Kündigungsschutzklage zusammen. Der Klageantrag zu 2. ist daneben nicht zu bewerten, da er den gleichen Gegenstand wie der Klageantrag zu 1. betrifft. Der Weiterbeschäftigungsantrag zu 3. ist mit einem Bruttomonatsgehalt in Ansatz zu bringen; der Antrag zu 5. in Höhe der eingeklagten EUR 2.218,85. Der Antrag zu 4. fiel nicht zur Entscheidung an und ist daher nicht zu bewerten. Die Statthaftigkeit der Berufung folgt hinsichtlich des Antrags zu 1. bereits aus § 64 Abs. 2 lit. c) ArbGG. Der Ausspruch über die Statthaftigkeit der Berufung im Urteilstenor beruht hinsichtlich der übrigen Anträge auf § 64 Abs. 2 lit. b) ArbGG. Gründe, die Berufung gemäß § 64 Abs. 3 ArbGG gesondert zuzulassen, liegen nicht vor.

 

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