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Unwirksame fristlose Kündigung wegen versuchtem Prozessbetrug

Unwirksame Fristlose Kündigung: Ein Fall von Versuchtem Prozessbetrug

Der Fall dreht sich um einen Arbeitnehmer, Herrn R, dessen fristlose Kündigung durch den Arbeitgeber aufgrund eines angeblichen versuchten Prozessbetrugs ausgesprochen wurde. Herr R, der nach einem Unfall im Jahr 2016 arbeitsunfähig war, zeigte eine deutliche Verbesserung seines Gesundheitszustands, was durch ein ärztliches Attest bestätigt wurde. Trotz seiner Kenntnisse über den Ablehnungsbescheid bezüglich seiner Schwerbehinderung und seiner verbesserten Gesundheit, versuchte Herr R, durch einen zweiten Prozessvertreter, unrechtmäßige Vorteile zu erlangen.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 3 Sa 393/22  >>>

Das Wichtigste in Kürze


  • Unwirksame fristlose Kündigung: Der Fall betrifft eine fristlose Kündigung, die aufgrund eines Verdachts des Prozessbetrugs ausgesprochen wurde, jedoch als unwirksam beurteilt wurde.
  • Versuchter Prozessbetrug: Der Kläger soll versucht haben, durch falsche Angaben einen leidensgerechten Arbeitsplatz und Schadensersatz zu erhalten. Dieser Vorwurf konnte nicht ausreichend belegt werden.
  • Arbeitsfähigkeit des Klägers: Der Kläger wurde von einem Arbeitsmediziner als grundsätzlich arbeitsfähig eingestuft, mit Vorschlägen für mögliche Tätigkeiten wie Baustellenbelieferung und Baustellenreinigung.
  • Anhörung und Verdachtskündigung: Der Kläger wurde zu einem Anhörungsgespräch eingeladen, in welchem die Verdachtskündigung thematisiert wurde. Der Personalrat äußerte Bedenken gegen die außerordentliche Kündigung.
  • Berufung der Beklagten: Nach Zustellung des Urteils legte die Beklagte Berufung ein und vertiefte ihren erstinstanzlichen Vortrag, inklusive der Argumentation, dass der Kläger nicht arbeitsfähig sei.
  • Weiterbeschäftigungsanspruch: Aufgrund der unwirksamen Kündigung hat der Kläger nach ständiger Rechtsprechung einen Anspruch auf Weiterbeschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits.
  • Unzutreffende Einwände der Beklagten: Verschiedene Einwände der Beklagten, darunter die angebliche Unmöglichkeit, den Kläger zu beschäftigen, und die Unbrauchbarkeit der betriebsärztlichen Untersuchungen, wurden als unzutreffend beurteilt.

Verdachtskündigung und Anhörung

Unwirksame fristlose Kündigung wegen versuchtem Prozessbetrug
Unwirksame Kündigung: Arbeitnehmer R überwindet nachweislich Gesundheitshürden, wird jedoch wegen angeblichen Prozessbetrugs unrechtmäßig entlassen. (Symbolfoto: fizkes /Shutterstock.com)

Das Arbeitsgericht gab der Klage von Herrn R statt, erklärte die außerordentliche Kündigung für unwirksam und verurteilte den Arbeitgeber zur Weiterbeschäftigung und Zahlung der vertragsgemäßen Vergütung für das Jahr 2021. Ein zentraler Punkt in der Entscheidung des Arbeitsgerichts war die mangelnde ordnungsgemäße Anhörung des Klägers vor Ausspruch der Verdachtskündigung. Die Anhörung, die vom Arbeitgeber durchgeführt wurde, erfüllte nicht die gesetzlichen Anforderungen, da sie zu pauschal war und keinen dringenden Verdacht hinsichtlich des versuchten Prozessbetrugs begründete.

Berufung und Arbeitgeberargumente

Nach Zustellung des Urteils legte der Arbeitgeber Berufung ein und vertiefte seinen erstinstanzlichen Vortrag. Der Arbeitgeber behauptete, dass es keinen Anlass gab zu glauben, dass Herr R jemals wieder arbeitsfähig wäre, basierend auf den Aussagen des Betriebsarztes, dem GdB-Bescheid und den Äußerungen des Klägers selbst. Darüber hinaus argumentierte der Arbeitgeber, dass die vom Arbeitsgericht angeordnete Beschäftigungsverpflichtung nicht umsetzbar und rechtswidrig sei. Der Arbeitgeber führte weiterhin an, dass die Ergebnisse der ärztlichen Untersuchungen nicht aussagekräftig seien, da dem Betriebsarzt nicht mitgeteilt wurde, dass psychosomatische Beschwerden bei Herrn R im Vordergrund stehen würden.

Kündigung und Personalrat

Die Kündigung wurde vom Arbeitgeber ausdrücklich als Verdachtskündigung ausgesprochen, basierend auf der Behauptung, dass Herr R absichtlich und wider besseres Wissen eine Schwerbehinderteneigenschaft vortäuschte. Dies sollte ihm einen unrechtmäßigen Vorteil in Form eines leidensgerechten Arbeitsplatzes verschaffen. Die Kammer konnte jedoch nicht erkennen, warum dem Arbeitnehmer aufgrund dieser singulären Thematik die Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses verwehrt werden sollte, und erklärte die fristlose Beendigung für unverhältnismäßig.

Weiterbeschäftigung und Rechtsprechung

Die unwirksame Kündigung führte nach ständiger Rechtsprechung des BAG zu einem Anspruch auf Weiterbeschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits. Das Arbeitsgericht wendete die höchstrichterliche Rechtsprechung korrekt an und berücksichtigte dabei das positive und negative Leistungsbild, das vom betriebsärztlichen Dienst vorgegeben wurde. Der Einwand des Arbeitgebers, dass der ärztliche Untersuchungsbericht nicht aussagekräftig sei, wurde als unbegründet abgewiesen. Zudem wurde der Einwand, dass sich die vertraglich geschuldete Tätigkeit des Klägers konkretisiert habe, rechtlich als unzutreffend beurteilt, da eine solche Konkretisierung besondere Umstände erfordert, die über den bloßen Zeitablauf hinausgehen.

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Weiterbeschäftigungsanspruch bei unwirksamer Kündigung – kurz erklärt


Bei einer Kündigungsschutzklage besteht unter Umständen ein Weiterbeschäftigungsanspruch für den Arbeitnehmer. Das bedeutet, bis zur endgültigen Klärung, ob eine Kündigung rechtens ist oder nicht, kann der Arbeitgeber dazu verpflichtet sein, den gekündigten Arbeitnehmer weiterhin zu beschäftigen. Dieser Anspruch tritt insbesondere dann in Kraft, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist und der Arbeitnehmer ein überwiegendes schutzwürdiges Interesse an der Weiterbeschäftigung hat.

Wenn ein Arbeitsgericht entscheidet, dass die Kündigung unwirksam war, können unter bestimmten Voraussetzungen Schadensersatzansprüche gegen den Arbeitgeber entstehen. Die Höhe der Kompensation richtet sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalls.

Es ist zu beachten, dass Arbeitnehmer ihre Weiterbeschäftigung grundsätzlich innerhalb der Kündigungsfrist verlangen müssen. Dies erfolgt durch eine entsprechende Erklärung des Arbeitnehmers. In einigen Fällen kann ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gestellt werden, welcher jedoch nur in Ausnahmefällen Erfolg hat, wenn die Kündigung offensichtlich unwirksam ist.

Ein Weiterbeschäftigungsanspruch kann auch im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens geltend gemacht werden. Hierbei ist es wichtig, dass der Arbeitnehmer ein überwiegendes Interesse an der Weiterbeschäftigung nachweisen kann und die Kündigung offensichtlich unwirksam ist.


Das vorliegende Urteil

Landesarbeitsgericht Köln – Az.: 3 Sa 393/22 – Urteil vom 01.03.2023

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 20.01.2022 – 4 Ca 3415/20 – wird zurückgewiesen.

2. Die Hilfswiderklage der Beklagten wird abgewiesen.

3. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

4. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen arbeitgeberseitigen Kündigung vom 21.09.2020, (leidensgerechte) Weiterbeschäftigung des Klägers bei der Beklagten, Ansprüche des Klägers gegenüber der Beklagten auf Zahlung von Arbeitsentgelt für das Jahr 2021 sowie einen Anspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses, hilfsweise Endzeugnisses.

Der am .1964 geborene, verheiratete und noch einem von sieben Kindern zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist bei der Beklagten auf der Grundlage eines schriftlich abgeschlossenen zunächst befristeten Arbeitsvertrags vom 19. November 1999, später unbefristet seit dem 22.11.1999 als städtischer Arbeiter, zuletzt im Bereich Straßenunterhaltung/Brückenbau, beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden zumindest kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung die Bestimmungen des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) in der jeweils geltenden Fassung Anwendung. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Arbeitsverträge der Parteien Bezug genommen (Bl. 16 ff. d. A.). Die Beklagte beschäftigt in der Regel mehr als zehn Arbeitnehmer ausschließlich der zur Berufsbildung Beschäftigten; ein Personalrat ist eingerichtet. Der Kläger ist in die Entgeltgruppe E4 Stufe 5 TVöD eingruppiert; das aktuelle monatliche Bruttoarbeitsentgelt beträgt EUR 3.105,04.

Am 27.09.2016 erlitt der Kläger während der Arbeitstätigkeit einen Unfall; er wurde von einer Baggerschaufel am behelmten Kopf getroffen. Der Kläger war ab dem 27.09.2016 arbeitsunfähig erkrankt. Das Unfallereignis wurde mit Bescheid der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen vom 08.12.2017 als Arbeitsunfall anerkannt. Die Zahlung einer Unfallrente lehnte die Unfallkasse jedoch ab. Gegen die Ablehnung wandte sich der Kläger mit einer bei dem Sozialgericht Aachen eingereichten Klage (Az: S 10 U 165/19).

Auf einen Antrag des Klägers auf Anerkennung als Schwerbehinderter vom 26.04.2018 stellte die Städteregion A mit Bescheid vom 23.08.2018 wegen des Vorliegens einer psychosomatischen Störung das Vorliegen des Grads einer Behinderung von 30 bei dem Kläger fest und führte des Weiteren aus, dass die (weitere) Gesundheitsstörung „Zustand nach leichtgradigem Schädel-Hirn Trauma ohne organpathologische Folgen, Ausschluss eines BG Leidens, Gangstörung ärztlicherseits nicht dokumentiert“ nicht berücksichtigt werden könne, weil sie keinen Grad der Behinderung von 10 erreiche“. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid der Städteregion A verwiesen (Bl. 144 f. d. A.). Einen hiergegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Bezirksregierung M mit Widerspruchsbescheid vorn 26.03.2019 zurück. Dagegen erhob der Kläger bei dem Sozialgericht Aachen ebenfalls Klage. Die Prozessvertretung des Klägers in den sozialgerichtlichen Verfahren erfolgte durch den d mit Sitz in B .

Unter dem 08.10.2018 bot die Beklagte dem Kläger das Verfahren eines betrieblichen Eingliederungsmanagements an. Das Angebot zur Durchführung dieses BEM nahm der Kläger an. Zwischen den Parteien ist streitig, ob es in den Vorjahren Angebote der Beklagten zur Durchführung eines BEM gab und ob der Kläger diese Angebote abgelehnt hat.

Am 27.06.2019 und am 01.07.2019 wurde der Kläger auf Veranlassung der Beklagten arbeitsmedizinisch untersucht. Ausweislich der Untersuchungsmitteilung für den Arbeitgeber vom 13.08.2019 wurde ärztlicherseits u.a. folgendes festgestellt:

„Aus arbeitsmedizinischer Sicht ist Herr R in der Lage, die Wiedereingliederung zu beginnen, er ist nicht mehr in der Lage seine bisherige Tätigkeit vollumfänglich auszuüben. Die Tätigkeit im gleichen Aufgabengebiet ist nur möglich, wenn die Einschränkungen im negativen Leistungsbild im Sinne eines leidensgerechten Arbeitsplatzes berücksichtigt werden. Die Einschränkungen liegen bis auf weiteres vor, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf Dauer. …“

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die arbeitsmedizinische Untersuchungsmitteilung Bezug genommen (Bl. 37ff. d. A. im Verfahren 6 Ca 1904/20).

Der Kläger beantragte daraufhin bei der Beklagten am 27.01.2020 seine Wiedereingliederung. Diese fand in der Zeit vom 03.02.2020 bis zum 16.03.2020 statt. Am 16.03.2020 erstellte die behandelnde Ärztin des Klägers einen weiteren Wiedereingliederungsplan für die Zeit bis Ende April 2020. Die Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 13.03.2020 sowie 16.03.2020 mit, dass sie die Wiedereingliederung als gescheitert ansehe und beendete diese; eine Fortsetzung der Wiedereingliederung lehnte sie ab. Mit anwaltlichem Schreiben vom 15.04.2020 begehrte der Kläger von der Beklagten die Zurverfügungstellung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes. Die Beklagte wies die Ansprüche des Klägers mit Schreiben vom 28.04.2020 zurück und teilte mit, dass derzeit keine geeigneten freien Stellen vorhanden seien. Auf den außergerichtlichen Schriftwechsel wird verwiesen (Bl. 41ff. d. A. im Verfahren 6 Ca 1904/20). Der Kläger hatte mit der Wahrnehmung seiner Rechte zur Durchsetzung seines Beschäftigungsanspruchs Frau Rechtsanwältin H aus A beauftragt.

Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten (d ) vom 29.05.2020 nahm der Kläger in dem Verfahren vor dem SG Aachen betreffend die Anerkennung des Vorliegens einer Schwerbehinderung die erhobene Klage zurück.

Am 08.06.2020 erhob der Kläger, vertreten durch Frau Rechtsanwältin H , Klage bei dem Arbeitsgericht Aachen und verfolgte sein zunächst außergerichtlich geltend gemachtes Begehren der Zurverfügungstellung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes durch die Beklagte weiter. In der Klagebegründung wurde u.a. folgendes ausgeführt:

„Seit dem Unfall liegt bei dem Kläger eine Schwerbehinderung von 50 Prozent vor.

Beweis: Bescheid wird nachgereicht“

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Klagebegründung im Verfahren 6 Ca 1904/20 verwiesen (Bl. 1ff d. A. im Verfahren 6 Ca 1904/20). Die Prozessbevollmächtigte des Klägers teilte der Beklagten sodann mit außergerichtlichem Schreiben vom 27.08.2020 mit, dass eine Anerkennung des Klägers als Schwerbehinderter nicht erfolgt sei und nur ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt worden sei. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers übermittelte der Beklagten gleichzeitig den entsprechenden Feststellungsbescheid vom 23.08.2018 zur Kenntnis.

Am 31.08.2020 fand eine weitere arbeitsmedizinische Untersuchung des Klägers durch den betriebsärztlichen Dienst der Beklagten statt

In der Untersuchungsmitteilung für den Arbeitgeber vom 22.09.2020 heißt es u.a.:

„… Herr R ist grundsätzlich arbeitsfähig, dies wird auch durch das vorgelegte hausärztliche Attest bestätigt. Im Vergleich zur letzten Untersuchung im Juni 2019 ist eine deutliche Besserung des Allgemeinzustands eingetreten …“

Abschließend benennt der Arbeitsmediziner beispielhaft folgende Einsatzmöglichkeiten für den Kläger: „Tätigkeiten der Baustellenbelieferung, der Errichtung von Absperrungen, Pflasterarbeiten, Baustellenreinigung, Entsorgung, Reinigung von Grünanlagen etc.“ Wegen des weiteren Inhalts der Untersuchungsmittteilung im Einzelnen wird auf die vorgenannte Bescheinigung (Bl. 25 f. d. A.) Bezug genommen.

Die Beklagte lud den Kläger mit Schreiben vom 03.09.2020 zu einem Anhörungsgespräch am Montag, den 07.09.2020 ein. Mit einem weiteren, an Frau Rechtsanwältin H gerichteten Schreiben vom 08.09.2020 lud die Beklagte den Kläger ebenfalls zu einem Anhörungsgespräch wegen einer beabsichtigten Verdachtskündigung wegen des Verdachtes des Prozessbetruges für Montag, den 07.09.2020 um 11:00 Uhr ein, alternativ könne auch eine schriftliche Stellungnahme bis zu diesem Zeitpunkt eingereicht werden. Auf das Einladungsschreiben an Frau Rechtsanwältin H vom 08.09.2020 wird verwiesen (Bl. 271 d. A.). Der Kläger teilte der Beklagten telefonisch am 07.09.2020 mit, dass er an dem Gesprächstermin nicht teilnehmen werde. Am 09.09.2020 ging der Beklagten ein Schreiben des Klägers vom 06.09.2020 zu, in dem der Kläger der Beklagten mitteilte, dass er zu dem Anhörungsschreiben vom 03.09.2020 wegen nicht mitgeteilter Fakten keine Stellung nehmen könne. Wörtlich führte er hierzu aus „Wan, wo und wie entstanden meine angeblichen Behauptungen bezüglich der Schwerbehinderung? Wo sind die Fakten dazu??? Auf was soll ich Stellungnehmen?? …“ Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben des Klägers vom 06.09.2020 verwiesen (Bl. 148 d. A.).

Die Beklagte hörte den bei ihr eingerichteten Personalrat mit Schreiben vom 17.09.2020 zu einer beabsichtigten außerordentlichen Verdachtskündigung wegen des Verdachts des (versuchten) Prozessbetrugs an. Wegen der Einzelheiten wird auf das Anhörungsschreiben Bezug genommen (Bl. 149 ff. d. A.). Der Personalrat teilte der Beklagten mit Schreiben vom 21.09.2020 mit, dass er nach Anhörung des Klägers am 21.09.2020 Bedenken betreffend die beabsichtigte außerordentliche Kündigung erhebe und verwies u.a. darauf, dass „ihm bekannt sei, dass Herr R gegen den Feststellungsbescheid der 30 % Schwerbehinderung fristgerecht Widerspruch eingelegt hat und es sich auch hiermit um ein laufendes Verfahren handelt.“ Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf das Schreiben des Personalrates vom 20.09.2020 verwiesen (Bl. 272 d. A.).

Mit Schreiben vom 21.09.2020 kündigte die Beklagte das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis außerordentlich. Auf das Kündigungsschreiben wird verwiesen (Bl. 27f d. A.).

Der Kläger nahm zunächst mit Schriftsatz vom 25.09.2020, bei dem Arbeitsgericht Aachen an demselben Tag eingegangen, seine Klage im Verfahren 6 Ca 3415/20 mit den bis dahin gestellten Anträgen zurück und begehrte stattdessen Kündigungsschutz. In dem Klageänderungsschriftsatz vom 25.09.2020 heißt es u.a. wie folgt:

„Die Unterzeichnerin hatte zunächst von dem Kläger die Information erhalten, es läge ein Grad der Schwerbehinderung von 50 vor. Der Kläger hatte zu diesem Zeitpunkt ein anhängiges Verfahren zur Feststellung der Schwerbehinderung von mindestens dem Grad 50. Sodann legte er den ursprünglichen Bescheid vom 23.08.2018 vor. Laut diesem beträgt der Grad der Behinderung 30. Der Vortrag wurde ausweislich des Schreibens vom 27.08.2020 korrigiert.

Bestritten wird ausdrücklich, dass der Kläger zur Ursache der Arbeitsunfähigkeit seit mehr als drei Jahren vorsätzlich falsch vorträgt. Sowohl das Schädel-Hirn-Trauma als auch die psychosomatischen Störungen sind auf das Unfallgeschehen während der Arbeit zurückzuführen. Vor dem Unfallereignis hatte der Kläger erkennbar keine Einschränkungen.

Beweis: Einholung eines Sachverständigengutachtens

Ein vorsätzlicher Falschvortrag wird ausdrücklich bestritten. Hilfsweise wird vorgetragen, dass der ursprünglich geltend gemachte Anspruch auf Zuweisung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes bereits aufgrund der Rücksichtnahmepflicht des Arbeitgebers gern. § 241 Abs. 2 BGB erwächst. Der Arbeitgeber ist erst dann zur Kündigung berechtigt, wenn auch eine Beschäftigung an anderer Stellen nicht mehr möglich ist. Demnach muss vor etwaigen Sanktionen die Zuweisung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes geprüft werden; unabhängig von dem Vorliegen einer festgestellten (Schwer-)behinderung und dem jeweiligen Grad. Selbst wenn die Beklagte von irrtümlich mitgeteilten Tatsachen ausgehen sollte, bleibt die Frage, welcher Schaden der Beklagten hieraus entstanden ist.“

Auf den Schriftsatz vom 25.09.2020 im Verfahren zu Az. 6 Ca 1904/20 wird Bezug genommen. Mit einer weiteren, am 07.10.2020 bei dem Arbeitsgericht Aachen eingegangenen Klage des d begehrte der Kläger sodann ebenfalls Kündigungsschutz, Weiterbeschäftigung sowie die Erteilung eines Zwischenzeugnisses. Mit Schriftsatz vom 12.10.2020 zeigten die Prozessvertreter des d gegenüber dem Arbeitsgericht Aachen im Verfahren 6 Ca 1904/20 die Mandatsübernahme an und nahmen die Klage im Verfahren 6 Ca 1904/20 insgesamt zurück. Frau Rechtsanwältin H hatte zuvor im Verfahren 6 Ca 1904/20 mit Schriftsatz vom 01.10.2020 das Mandat niedergelegt. In der Folgezeit legten die Prozessvertreter des d im vorliegenden Verfahren ihr Mandat nieder. Mit Klageerweiterung vom 15.12.2021 seines jetzigen Prozessbevollmächtigten begehrt der Kläger des Weiteren die Zahlung von Vergütung für das Kalenderjahr 2021.

Der Kläger hat im Wesentlichen vorgetragen, die außerordentliche Verdachtskündigung des Arbeitsverhältnisses vom 21.09.2020 sei rechtsunwirksam. Ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung im Sinne der §§ 626 Abs. 1 BGB, 34 TVöD liege nicht vor. Richtig sei, dass bei ihm ein Grad der Behinderung von 30 bestehe. Er habe erst im Rahmen des hier vorliegenden Rechtsstreites zur Kenntnis genommen, dass Menschen mit einem Grad der Behinderung von 30 nicht als schwerbehindert im Sinne des SGB IX, insbesondere im Rahmen der §§ 164 ff. SGB IX gelten. Er habe Frau Rechtsanwältin H nicht in Auslassung des wahren Lebenssachverhaltes beauftragt. Er habe auch nicht vorsätzlich falsch vorgetragen. Er sei der deutschen Sprache, insbesondere wenn es um Rechtsbegriffe gehe, nur eingeschränkt mächtig. Seine seit 2016 durchgehend bestehende Arbeitsunfähigkeit infolge Erkrankung basiere aus seiner Sicht auf dem unstreitigen Arbeitsunfall. Selbst wenn man einen versuchten Prozessbetrug annehmen wollte, sei zu berücksichtigen, dass dieser in hohem Maße untauglich gewesen sei, was die Täuschungsrelevanz entfallen lasse. Dies gelte umso mehr, als dass der angeblich versuchte Prozessbetrug nicht dazu gedient habe, ihm einen Vorteil zu verschaffen, auf den er gar keinen rechtlichen Anspruch habe.

Das Anhörungsschreiben vom 03.09.2020 sei jedenfalls nicht als taugliches Anhörungsschreiben geeignet gewesen.

Vorsorglich bestreite er zudem die Einhaltung der Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB.

Die ordnungsgemäße Anhörung des Dienststellenpersonalrates sowie des Personalrates werde bestritten. Bereits nach eigenem Vortrag der Beklagten liege eine ordnungsgemäße Anhörung des Personalrats nicht vor. Die Beklagte habe noch vor Ablauf der Stellungnahmefrist die Kündigung ausgesprochen. Die Stellungnahme des Personalrats sei nicht abschließend gewesen.

Ihm stehe auch ein Beschäftigungsanspruch zu. Eine leidensgerechte Beschäftigung sei der Beklagten möglich und auch zumutbar. Die Beklagte räume selbst ein, vakante Stellen zu haben. Warum ihm die Tätigkeiten als Mülllader, Straßenreinigungsarbeiter oder im Bereich der Straßenunterhaltung nicht mehr möglich seien, erschließe sich für ihn nicht. Er habe zu keinem Zeitpunkt Fort- bzw. Weiterbildungsmaßnahmen abgelehnt. Die Beklagte habe ihm auch zu keinem Zeitpunkt einen leidensgerechten Arbeitsplatz angeboten ebenso wenig wie sie bis zum heutigen Tage den Integrationsfachdienst hinzugezogen habe.

Zudem habe er einen Anspruch auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses, hilfsweise begehre er die Erteilung eines Endzeugnisses.

Für die Monate Januar bis Dezember 2021 könne er überdies das ihm zustehende tarifliche Arbeitsentgelt in Höhe von monatlich EUR 3.105,04 brutto abzüglich erhaltener Sozialversicherungsleistungen (Arbeitslosengeld und Leistungen nach SGB II) verlangen. Wegen der Berechnung der Arbeitsentgeltansprüche sowie der bezogenen Sozialversicherungsleistungen wird verwiesen (Bl. 252 ff. d. A.).

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 21.09.2020 nicht aufgelöst worden ist.

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch nicht durch weitere Beendigungstatbestände beendet worden ist, sondern über den 21.09.2020 hinaus fortbesteht.

3. Die Beklagte für den Fall des Obsiegens mit den Anträgen zu 1./2. zu verurteilen, ihn bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens gemäß des nach der Untersuchungsmitteilung des betriebsärztlichen Dienstes der Beklagten vom 22.09.2020 bestehenden Leistungsbildes (Positives Leistungsbild: Vollschichtige Tätigkeit in Früh- und Spätdienst/Wechselschicht; mittelschwere körperliche Belastung über die gesamte Schichtdauer, Heben und Tragen von Lasten in der Ebene von 10 – 15 kg Gewicht oder Hantierungen, die den gleichen Kraftaufwand erfordern; überwiegend stehende, gehende und sitzende Tätigkeit sowie ständig wechselnde Körperhaltungen, Arbeiten mit technischen Geräten zunächst unter Aufsicht und nach umfassender Schulung. Negatives Leistungsbild: Keine Nachtschichten; nur gelegentliche schwere körperliche Belastung für eine kurze Zeitdauer von < 10 Minuten, maximal dreimal pro Schicht; keine ständig stehenden, gehenden und knienden Tätigkeiten; keine Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an psychomentale Funktionen (Konzentrations-/Reaktionsvermögen, Umstellungs-/Anpassungsvermögen, Steuerung komplexer Arbeitsvorgänge; keine Tätigkeiten mit erhöhten kardiopulmonalen Belastungsfaktoren; keine Tätigkeiten mit Absturzgefahr; zunächst keine Fahrtätigkeit) zu beschäftigen.

4. Die Beklagte zu verurteilen, ihm ein Zwischenzeugnis zu erteilen, das sich auf Führung und Leistung erstreckt.

Hilfsweise für den Fall, dass die Feststellungsanträge zu 1. und 2. abgewiesen werden:

Die Beklagte zu verurteilen, ihm ein endgültiges Zeugnis, das sich auf Führung und Leistung erstreckt, zu erteilen.

5. die Beklagte zu verurteilen, an ihn EUR 39.586,73 brutto abzgl. auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangener EUR 2.148,72 sowie auf das Jobcenter der StädteRegion A übergegangener EUR 16.697,04 netto nebst 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat im Wesentlichen vorgetragen, die außerordentliche Kündigung vom 21.09.2020 sei wirksam und beende das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis mit deren Zugang. Ihr stehe ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB zur Seite. Der dem Verfahren 6 Ca 1904/20 zugrunde liegende Sachverhalt sei ausschlaggebend für die von ihr ausgesprochene außerordentliche Kündigung. Der Kläger habe zu seiner Schwerbehinderteneigenschaft objektiv wahrheitswidrig in einem gerichtlichen Verfahren vorgetragen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, der ihm von Rechts wegen nicht zustehe. Ein Arbeitnehmer, der in einem Rechtsstreit gegenüber seinem Arbeitgeber bewusst wahrheitswidrig Umstände behaupte, verletze die Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis erheblich. Der Kläger habe überdies vorsätzlich falsch vorgetragen. Der Kläger habe selbstverständlich gewusst, dass er nicht aufgrund des Arbeitsunfalles im Jahre 2016 erkrankt und auch nicht schwer behindert sei. Wenn der Kläger insoweit behaupte, er sei der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig und habe deshalb das Vorgetragene nicht verstehen können, sei auch das unwahr. Er lasse seit geraumer Zeit gerichtliche Verfahren, unter anderem um die Anerkennung einer Schwerbehinderung führen. Selbst wenn der Kläger rechtstechnisch den Unterschied zwischen einem GdB von 30 und einem von 50 nicht kennen sollte, habe er um die Ablehnung seiner Schwerbehinderung und um den Umstand gewusst, dass er nicht wegen des Unfalles aus dem Jahre 2016 bis heute arbeitsunfähig erkrankt sei. Über all seine Verfahren sei der Kläger in Kenntnis gewesen. Um den für ihn schlechten Ausgang des Verfahrens um seine behauptete Schwerbehinderung doch noch zu verkehren, habe er augenscheinlich einen zweiten Prozessvertreter beauftragt, der über das bisherige Verfahren ebenso wenig wie die Beklagte informiert gewesen sei und seinen falschen Tatsachenvortrag in den Prozess zu Az. 6 Ca 1904/20 eingeführt habe. Offenkundig habe er Frau Rechtsanwältin H über die verschiedenen Verfahren nicht in Kenntnis gesetzt, sondern sie in Auslassung des wahren Sachverhaltes beauftragt, einen schwerbehindertengerechten Arbeitsplatz und Schadensersatz einzuklagen.

Sie habe den Kläger vor Ausspruch zu dem Vorwurf des versuchten Prozessbetruges angehört. Mit Schreiben vom 03.09.2020 habe sie den Kläger im Hinblick auf arbeitsrechtliche Verfehlungen gebeten, einen Termin zur persönlichen Stellungnahme wahrzunehmen.

Eine Abmahnung sei entbehrlich gewesen. Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses sei ihr unzumutbar. Das massiv treuwidrige strafrechtlich relevante Verhalten des Klägers habe das Vertrauensverhältnis irreparabel geschädigt. Die vorzunehmende Interessenabwägung könne nicht zu einer Weiterbeschäftigung des Klägers führen. Er sei zwar seit 1999 bei ihr beschäftigt, doch sei das Arbeitsverhältnis nicht störungsfrei gewesen. Wegen des dienstlichen Verhaltens habe es mit seinem Vorgesetzten seit langer Zeit Differenzen gegeben. Zudem habe der Kläger am 29.12.2009 eine Abmahnung erhalten, da er städtische (kostenpflichtige) Müllsäcke für private Zwecke entwendet habe. Angebotene innerstädtische Fortbildungsmaßnahmen zur Verbesserung seiner Qualifikationen habe er ohne Angabe von Gründen unbeachtet gelassen. Verabredete BEM Termine habe er unentschuldigt verstreichen lassen. Der Kläger sei zudem gut eingebunden in eine kompakte Familienstruktur.

Die Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB habe sie eingehalten. Die Kündigung sei dem Kläger fristgerecht am 21.09.2020 zugestellt worden.

Der Personalrat sei mit Vorlage vom 17.09.2020 ordnungsgemäß beteiligt worden; die Maßnahme habe der Anhörung unterlegen. Die Stellungnahme des Personalrates vom 21.09.2020 sei als abschließend anzusehen. Sie habe diese am 21.09.2020 um 10:17 Uhr erhalten und eine Stunde später sei dem Kläger das Kündigungsschreiben zugestellt worden.

Der Kläger sei zunächst als Straßenreinigungsarbeiter eingestellt worden, dann habe er die Funktion eines Müllladers übernommen und zuletzt sei er als Arbeiter im Bereich Straßenunterhaltung eingesetzt gewesen. Diese Stellen seien zwar sämtlich vakant. Sie könne dem Kläger jedoch keine Stelle anbieten, die dieser im Allgemeinen und im Besonderen besetzen könne. Im Rahmen des BEM-Verfahrens habe der Kläger solche Einsätze abgelehnt ebenso wie Fort- bzw. Weiterbildungsmaßnahmen. Seine physischen und psychischen Beeinträchtigungen seien derart erheblich, dass geeignete Stellenangebote nicht gemacht werden könnten.

Schließlich sei sie nicht in der Lage, dem Kläger ein aktuelles Zeugnis zu erteilen, da dieser seit mehr als vier Jahren nicht mehr tätig gewesen sei.

Das Arbeitsgericht hat der Klage bis auf den sogenannten allgemeinen Fortbestehensantrag in vollem Umfang stattgegeben. Es hat die Unwirksamkeit der streitgegenständlichen außerordentlichen Kündigung festgestellt und hat die Beklagte zur Beschäftigung des Klägers unter Berücksichtigung der Untersuchungsmitteilung des Betriebsärztlichen Dienstes aus September 2020 verurteilt. Darüber hinaus hat es die Beklagte zur Erteilung eines Zwischenzeugnisses sowie zur Zahlung der vertragsgemäßen Vergütung für das Jahr 2021 verurteilt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, für die Wirksamkeit der als Verdachtskündigung ausgesprochenen streitgegenständlichen außerordentlichen Kündigung fehle es bereits an der erforderlichen vorherigen Anhörung des Klägers. Das von der Beklagten schriftsätzlich erwähnte Anhörungsschreiben vom 03.09.2020 genüge in Anbetracht seines pauschalen Inhalts nicht den an eine ordnungsgemäße Anhörung zu stellenden Anforderungen. Im Übrigen begründeten die von der Beklagten vorgetragenen Indiztatsachen jedenfalls keinen ausreichend dringenden Verdacht in Bezug auf den erhobenen Vorwurf des versuchten vorsätzlichen Prozessbetrugs. Wegen der Verpflichtung der Beklagten zur Weiterbeschäftigung des Klägers stützt sich das Arbeitsgericht auf die Rechtsprechungsgrundsätze des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts und stellt unter anderem darauf ab, dass nach dem eigenen Vortrag der Beklagten Stellen für Straßenreinigungsarbeiter, Mülllader sowie Arbeiter im Bereich der Straßenunterhaltung vorhanden und vakant seien. Vor diesem Hintergrund habe die Beklagte nicht ansatzweise substantiiert dargelegt, welche konkreten Hinderungsgründe einer leidensgerechten Beschäftigung des Klägers entgegenstünden. Den Vergütungsanspruch des Klägers hat das Arbeitsgericht schließlich unter Schadenersatzgesichtspunkten für begründet erachtet, denn die Beklagte habe es ihrerseits schuldhaft unterlassen, dem Kläger nach Erhalt der betriebsärztlichen Untersuchungsmitteilung im September 2020 zumindest ab Januar 2021 durch Ausübung ihres Direktionsrechts nach § 106 Abs. 1 GewO einen vorhandenen leidensgerechten Arbeitsplatz zuzuweisen. Wegen der weiteren Begründung im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils (Bl. 282 ff. d. A.) Bezug genommen.

Gegen dieses ihr am 17.06.2022 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 20.06.2022 Berufung eingelegt und hat dies am 17.08.2022 begründet.

Die Beklagte wiederholt und vertieft zunächst ihren erstinstanzlichen Vortrag. Dabei wiederholt sie unter anderem ihre Rechtsauffassung, auf der Grundlage der ihr bekannten Tatsachen, insbesondere der Aussagen des Betriebsarztes, dem GdB-Bescheid sowie denn Äußerungen des Klägers habe für sie kein Anlass zu der Annahme bestanden, dass der Kläger seit dem 27.09.2016 jemals wieder seine Arbeitsfähigkeit erlangt hätte.

Konkret zur arbeitsgerichtlichen Entscheidungsbegründung sieht die Beklagte sehr wohl einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB für eine Verdachtskündigung als gegeben an. Hierzu meint sie, an dem falschen Prozessvortrag des Klägers und einem entsprechenden Vorsatz könne es keine begründeten Zweifel geben. Das massiv treuwidrige Verhalten des Klägers, das zusätzlich auch noch strafrechtliche Relevanz haben dürfe, begründe zweifelsfrei eine außerordentliche Kündigung. Es mangele auch nicht an einer ordnungsgemäßen Anhörung des Klägers, da das Anhörungsschreiben vom 03.09.2020 nicht zu beanstanden sei und Verdachtsmomente im Einzelnen im Anhörungsschreiben nicht aufgeführt werden müssten. Auch die Einschätzung des klägerischen Verhaltens durch das Arbeitsgericht als „grob fahrlässig“ sei eine reine Mutmaßung, die vollkommen neben der Sache liege.

Des Weiteren meint die Beklagte, dass jeglicher Beschäftigungsanspruch des Klägers von vornherein ausscheide, da er unstreitig seit dem Jahr 2016 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt sei. Jedenfalls nach Auffassung der Beklagten sei der Kläger nicht arbeitsfähig. Dabei seien ganz offenbar nicht die bekannten körperlichen Einschränkungen behindernd für seine Einsatzfähigkeit im A Stadtbetrieb, sondern im Wesentlichen seine psychosomatischen Leiden stark einschränkend. Hinzu komme, dass der Kläger andere Beschäftigungsangebote z.B. außerhalb des öffentlichen Verkehrsraums ohnehin abgelehnt hätte. Die vom Arbeitsgericht tenorierte Beschäftigungsverpflichtung sei für die Beklagte nicht umsetzbar und daher rechtswidrig. Die Beklagte meint, bereits aus Gründen arbeitgeberseitiger Fürsorge könne und dürfe sie den Kläger nicht beschäftigen. Außerdem sei das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung vom 31.08.2020 nicht aussagekräftig, da dem Betriebsarzt nicht mitgeteilt worden sei, dass beim Kläger offenbar psychosomatische Beschwerden im Vordergrund bestünden. Letztlich sei so das Ergebnis beider betriebsärztlicher Untersuchungen unbrauchbar. Bis der Kläger das Gegenteil darlege und beweise, sei er als nicht arbeitsfähig anzusehen. Zwingend vorhergehen müsse jedenfalls eine eingehende weitere fachärztliche Untersuchung im Hinblick auf die bislang im Einzelnen noch nicht bekannten weiteren psychosomatischen Einschränkungen, wegen derer der Kläger weiterhin sozialgerichtlich einen Anspruch auf Unfallrente sowie die Feststellung einer MdE verfolge. Im Übrigen zeigten bereits die Einschränkungen im positiven Leistungsbild der betriebsärztlichen Untersuchung, dass eine Tätigkeit des Klägers im Straßenbau jedenfalls ausscheide. Das gelte ohnehin aufgrund der psychosomatischen Einschränkungen des Klägers für jegliche Tätigkeit im öffentlichen Straßenraum, da diese ein hohes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit erfordere. Die am 26.09.2019 beklagtenseits angebotene Straßenreinigungstätigkeit habe der Kläger ohne Grundangabe abgelehnt. Das Gleiche gelte für anderweitige Tätigkeiten wie Betriebshofreinigung und Kantine. Wegen der ablehnenden Haltung des Klägers scheidet auch ein Einsatz in Grünanlagen oder bei Entsorgungstätigkeiten außerhalb des Straßenraums aus.

Schließlich ist die Beklagte der Auffassung, dass dem Kläger auch der geltend gemachte Zahlungsanspruch unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zustehen könne, und zwar weder als Annahmeverzugslohn noch als Schadenersatz. Sie meint, es könne keine Rede davon sein, dass sie es schuldhaft unterlassen habe, dem Kläger einen leidensgerechten Arbeitsplatz zuzuweisen. Ursächlich für die nicht erbrachte Arbeitsleistung sei allein die fehlende Arbeitsfähigkeit des Klägers. Außerdem erschienen die von der Bundesagentur für Arbeit bezogenen und in Abzug gebrachten Leistungen weit zu niedrig. Zur Höhe des Bruttoentgelts des Klägers meint die Beklagte, dass den Einschränkungen des Klägers auch vergütungsmäßig Rechnung getragen werden müsse. So hätte beispielsweise für eine Hofreinigungstätigkeit das Entgelt 2021 lediglich bei 2.217,87 EUR brutto monatlich gelegen.

Die Beklagte beantragt,

1. in Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Aachen vom 20.01.2022, mit Begründung zugestellt am 20.06.2022, die Klage abzuweisen;

2. hilfsweise widerklagend

festzustellen, dass der Kläger nach seinem Unfall vom 27.09.2016 zu keinem Zeitpunkt wieder volle Arbeitsfähigkeit erlangt hat, und zwar weder im Hinblick auf seine letzte Beschäftigung im Bereich Straßenunterhaltung und Brückenbau, noch im Hinblick auf eine andere Beschäftigung gem. Ziffer 2 des Urteils.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen und die Hilfswiderklage abzuweisen.

Der Kläger tritt der arbeitsgerichtlichen Entscheidung bei und wiederholt ebenfalls seinen erstinstanzlichen Vortrag. Dabei weist er insbesondere auf die betriebsärztlichen Untersuchungen in der Vergangenheit hin und hebt hervor, dass der eigene betriebsärztliche Dienst der Beklagten im Rahmen der Untersuchung vom 31.08.2020 seine Arbeitsfähigkeit festgestellt und hierüber die Beklagte auch unterrichtet habe. Auch sei es nachweislich unzutreffend und wahrheitswidrig vorgetragen, wenn die Beklagte behaupte, zu keinem Zeitpunkt Kenntnis von psychischen Beschwerden des Klägers gehabt zu haben. So habe der Zeuge C anlässlich der am 27.06. und 01.07.2019 durchgeführten Untersuchungen festgestellt, dass der Kläger arbeitsfähig sei und ein positives Leistungsbild skizziert. Gleichzeitig habe er hinsichtlich des negativen Leistungsbildes im Untersuchungsbericht vom 13.08.2019 darauf hingewiesen, dass keine Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an psychomentale Funktionen zugewiesen werden sollten.

Der Kläger rügt weiter, dass es zu keinem Zeitpunkt zu einem ordnungsgemäßen BEM-Verfahren gekommen sei. Bereits die entsprechenden Einladungsschreiben seien rechtlich nicht haltbar. Zudem vermenge die Beklagte unzulässigerweise die Begriffe BEM-Verfahren und Wiedereingliederung.

Des Weiteren ist der Kläger mit dem Arbeitsgericht der Auffassung, dass die streitgegenständliche Kündigung rechtsunwirksam ist und meint, es handele sich vorliegend in Wahrheit um eine Tatkündigung, die als Verdachtskündigung „getarnt“ sei. Den Hintergrund hierfür sieht er in der Versäumung der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB. Wolle man aber gleichwohl eine solche Verdachtskündigung annehmen, fehle es jedenfalls an einer ordnungsgemäßen Anhörung des Klägers. Auch eine einschlägige Abmahnung sei nicht vorhanden. Ferner rügt der Kläger die nicht ordnungsgemäße Anhörung des Personalrats. Diesen habe die Beklagte geschickt über die Arbeitsfähigkeit des Klägers getäuscht und verschwiegen, dass die eigenen betriebsärztlichen Untersuchungen eine Arbeitsfähigkeit des Klägers angenommen hätten. Aufgrund der bestehenden Arbeitsfähigkeit sieht er die Beklagte auch in der Verpflichtung zu seiner Weiterbeschäftigung. Dabei könne er auch im öffentlichen Straßenraum beschäftigt werden. Ein besonders hohes Maß an Konzentration oder Aufmerksamkeit sei insoweit nicht gefordert.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II. Das Rechtsmittel bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg. Die mit Ausnahme des allgemeinen Fortbestehensantrags zulässige Klage ist begründet. Insofern wird zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die ausführliche Begründung im arbeitsgerichtlichen Urteil Bezug genommen. Der Vortrag der Beklagten in der Berufungsbegründung gibt lediglich Anlass zu nachfolgenden, kurzen, ergänzenden Ausführungen:

1. Die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 21.09.2020 ist rechtsunwirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet. Es fehlt an Darlegung bzw. Nachweis der gesetzlichen Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB durch die Beklagte sowie an der ordnungsgemäßen Anhörung des Personalrats.

Die Beklagte stützt die Kündigung ausdrücklich als Verdachtskündigung auf die Behauptung, der Kläger habe absichtlich und wider besseres Wissen in einem anderen arbeitsgerichtlichen Rechtsstreit das Vorliegen einer Schwerbehinderteneigenschaft behauptet, um sich einen unrechtmäßigen Vorteil in Form eines leidensgerechten Arbeitsplatzes zu verschaffen. Völlig zu Recht und mit überzeugender Begründung hat das Arbeitsgericht insoweit jedenfalls die mangelnde Darlegung eines vorsätzlichen Verhaltens des Klägers im Sinne des beklagtenseitigen Vorwurfs reklamiert. Gegenteiliges zu diesem subjektiven Aspekt des Kündigungsvorwurfs hat die Beklagte auch in der Berufungsbegründung jedenfalls nicht nachgewiesen. Ein konkreter Beweisantritt fehlt.

Im Übrigen ist die Kündigung nach Auffassung der erkennenden Berufungskammer auch aus weiteren Gründen rechtsunwirksam. Die Kündigung erweist sich jedenfalls bei der auf der zweiten Prüfungsstufe vorzunehmenden umfassenden Interessenabwägung als unverhältnismäßig. So gilt auch hier – wie im gesamten Bereich der verhaltensbedingten Kündigungsgründe – der grundsätzliche Vorrang der Abmahnung vor dem Ausspruch einer Kündigung, soweit der Verhaltensvorwurf steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers betrifft. Entbehrlich ist eine Abmahnung nur dann, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (vgl. BAG, Urteil vom 20.05.2021 – 2 AZR 596/20, NZA 2021, 1178 mit weiteren Nachweisen). Derartige Anhaltspunkte für eine ausnahmsweise Abweichung vom Abmahnungserfordernis sind weder konkret vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Ausweislich der Kündigungsbegründung in der schriftlichen Personalratsanhörung hat die Beklagte eine Abmahnung für entbehrlich gehalten, weil sie dem Kläger bereits vor mehr als 10 Jahren eine Abmahnung erteilt hatte und er mehrfach Termine beim arbeitsmedizinischen Dienst nicht wahrgenommen habe. Ein Abweichen vom grundsätzlichen Abmahnungserfordernis ist danach offensichtlich nicht geboten.

Überdies ist die streitgegenständliche außerordentliche Kündigung aus einem weiteren Grund unverhältnismäßig. Nach Auffassung der erkennenden Kammer wäre der Beklagten jedenfalls eine Beschäftigung des Klägers für die Dauer einer sozialen Auslauffrist zumutbar gewesen. Anhaltspunkte für eine Unzumutbarkeit einer ordentlichen Abwicklung des Arbeitsverhältnisses sind nicht ersichtlich. Im Gegenteil hat die Beklagte ausweislich der Personalratsanhörung diese Alternative sogar erwogen, aber allein unter Berufen auf die vermeintliche Schwere der Pflichtverletzung verneint. Selbst wenn man die Rechtsauffassung der Beklagten unterstellt und von einer versuchten vorsätzlichen Straftat ausgeht, beruht diese auf einem speziellen Sachverhalt, der mit der Erbringung der Arbeitsleistung nicht in unmittelbarem Zusammenhang steht. Hintergrund ist allein die Einschätzung der Schwerbehinderungssituation des Klägers. Warum wegen einer solchen singulären Thematik dem Arbeitnehmer die Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses und die Erbringung seiner Arbeitsleistung für die Dauer einer hypothetischen Kündigungsfrist verwehrt werden sollte, vermag die Kammer nicht zu erkennen. Die ausdrücklich erklärte fristlose Beendigung ist daher auch aus diesem Grund unverhältnismäßig.

Schließlich scheitert die Wirksamkeit der Kündigung an der fehlerhaft durchgeführten Anhörung des Personalrats. Nach § 74 Abs. 2 Satz 1 LPVG NRW ist der Personalrat bei außerordentlichen Kündigungen anzuhören. Eine ohne Beteiligung des Personalrats ausgesprochene Kündigung ist gemäß § 72 Abs. 3 LPVG NRW unwirksam. Das Gleiche gilt für eine inhaltlich nicht den Anforderungen entsprechende Information des Personalrats (LAG Köln, Urteil vom 31.01.2019 – 7 Sa 455/18, juris). So liegt der Fall hier. Die Beklagte hat den Personalrat objektiv falsch informiert. So heißt es auf der ersten Seite der schriftlichen Anhörung vom 17.09.2020 wörtlich:

„Am 27.09.2016 erlitt Herr R einen Arbeitsunfall und ist seit dem 28.09.2016 durchgängig arbeitsunfähig erkrankt. Im Laufe seiner Erkrankung wurden mit Herrn R Gespräche im Rahmen des BEM-Verfahrens geführt, arbeitsmedizinische Untersuchungen zur Klärung seiner Einsatzfähigkeit sowie eine (letztendlich gescheiterte) Wiedereingliederungsmaßnahme durchgeführt. …“

Ausweislich des Ergebnisses der von der Beklagten selbst angeführten arbeitsmedizinischen Untersuchung des Klägers am 31.08.2020, also nur rund zwei Wochen vor der Anhörung des Personalrats war der Kläger aktuell grundsätzlich arbeitsfähig. Die Information des Personalrats dahingehend, dass der Kläger auch aktuell weiterhin arbeitsunfähig sei, war daher objektiv falsch.

2. Folge der unwirksamen Kündigung ist nach der ständigen BAG-Rechtsprechung auf der Grundlage der vom Arbeitsgericht zitierten Grundsatzentscheidung des Großen Senats aus dem Jahr 1985 der Anspruch auf Weiterbeschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits. Diese höchstrichterliche Rechtsprechung hat das Arbeitsgericht zutreffend dargestellt und unter Berücksichtigung des seitens des Betriebsärztlichen Dienstes vorgegebenen positiven und negativen Leistungsbildes angewandt. Der Einwand der Beklagten, der ärztliche Untersuchungsbericht sei nicht aussagekräftig, da der Kläger dem Betriebsarzt offensichtlich nicht mitgeteilt habe, dass bei ihm psychosomatische Beschwerden im Vordergrund stünden, geht genau so offensichtlich ins Leere wie er seitens der Beklagten ins Blaue behauptet wird. Konkreten Vortrag für ihre Behauptung hält die Beklagte nicht. Das Gegenteil wird demgegenüber aus der schriftlichen Untersuchungsmitteilung des Betriebsarztes deutlich. Dort heißt es im negativen Leistungsbild nämlich wörtlich: „Keine Tätigkeiten mit hohen Anforderungen an psychomentale Funktionen“.

Rechtlich unzutreffend ist in diesem Zusammenhang der Einwand der Beklagten, die vertraglich geschuldete Tätigkeit des Klägers habe sich seit Dezember 2011 auf eine Tätigkeit im Bereich „Straßenunterhaltung und Brückenbau“ konkretisiert. Eine solche Konkretisierung ist zwar rechtlich möglich, verlangt aber nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts über den bloßen Zeitablauf hinaus die Darlegung hinzutretender besonderer Umstände, aus denen sich ergibt, dass der Arbeitnehmer künftig nicht mehr in anderer Weise eingesetzt werden soll (vgl. BAG, Urteil vom 29.09.2004 – 1 AZR 473/03, NZA-RR 2005, 616). An einer solchen Darlegung fehlt es jedoch.

Unerheblich ist ferner der Einwand der Beklagten, der Kläger habe zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich am 26.09.2019 ihm angebotene Straßenreinigungstätigkeiten ohne Grund abgelehnt. Selbst eine unterstellte derartige seinerzeitige Ablehnung eines Beschäftigungsangebots ändert nichts an der aktuell bestehenden Beschäftigungsverpflichtung auf der Grundlage des betriebsärztlicherseits festgestellten Leistungsprofils.

Auch die grundlegenden Bedenken der Beklagten bezüglich einer Beschäftigung des Klägers im öffentlichen Straßenraum teilt die erkennende Kammer in dieser Pauschalität nicht. Sie ergeben sich insbesondere auch nicht aus dem negativen Leistungsbild des betriebsärztlichen Untersuchungsberichts. Anderenfalls hätte der Betriebsarzt nicht ausdrücklich Baustellentätigkeiten, die offensichtlich im öffentlichen Straßenraum stattfinden, als mögliche Einsätze deklariert.

3. Wie vom Arbeitsgericht zutreffend tituliert, hat der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erteilung eines Zwischenzeugnisses. Die Beklagte ist dem in der Berufungsinstanz nicht entgegengetreten.

4. Der Kläger hat gegen die Beklagte – wie ebenfalls vom Arbeitsgericht zutreffend tituliert – auch einen Anspruch auf Zahlung von 38.586,73 EUR brutto abzüglich auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangener 2.148,72 EUR sowie auf das Job-Center der Städte Region A übergegangener 16.697,04 EUR netto. Hierbei handelt es sich um die vertragsgemäße Vergütung des Klägers für das Kalenderjahr 2021, die die Beklagte dem Kläger als Schadenersatz gemäß §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 249 ff. BGB schuldet.

Die Beklagte wendet zunächst grundsätzlich die vermeintlich fehlende Arbeitsfähigkeit des Klägers ein. Dieser Einwand trägt nach den obigen Ausführungen zur betriebsärztlich bescheinigten grundsätzlich bestehenden Arbeitsfähigkeit des Klägers nicht.

Im Übrigen hält sie die Forderungen des Klägers für der Höhe nach „ersichtlich weit übersetzt“. Das gilt zunächst für den aus ihrer Sicht nicht nachvollziehbaren Entgeltanspruch. Diese Bedenken teilt die erkennende Berufungskammer nicht. Der Kläger hat bereits erstinstanzlich mit Schriftsatz vom 14.12.2021 seinen monatlichen Bruttoentgeltanspruch schlüssig vorgetragen. Gleiches gilt für die in Abzug gebrachten Leistungen an Arbeitslosengeld sowie des Job-Centers der Städte Region A . Im Termin zur mündlichen Berufungsverhandlung hat er zusätzlich auf konkrete Nachfrage des Vorsitzenden persönlich erklärt, keine weiteren Leistungen der Arbeitsagentur erhalten zu haben.

Schließlich greift auch der Einwand der Beklagten, eine (exemplarisch angeführte) Hofreinigungstätigkeit sei lediglich nach EG Stufe 5 mit 2.217,87 EUR brutto monatlich zu vergüten, nicht. Maßgebliche Grundlage für die Berechnung des klägerischen Schadens bleibt die vertraglich geschuldete Monatsvergütung. Das gilt jedenfalls solange wie diese nicht einvernehmlich oder rechtswirksam einseitig geändert worden ist. Dies ist jedoch unstreitig bislang nicht geschehen.

Der Zinsanspruch des Klägers zu seinem Schadenersatzanspruch folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.

5. Die damit anfallende Hilfswiderklage der Beklagten ist unzulässig. Sie erfüllt nicht die gesetzlichen Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO.

Nach dieser Vorschrift kann sich die gerichtliche Feststellung nur auf ein Rechtsverhältnis richten. Hierunter ist die aus einem konkreten Lebenssachverhalt resultierende Beziehung einer Person zu einer anderen Person oder Sache zu verstehen, die ein subjektives Recht enthält oder aus der ein solches Recht entspringen kann. Nur das Rechtsverhältnis selbst kann Gegenstand der Feststellung sein. Dabei muss sich diese nicht notwendig auf das Rechtsverhältnis insgesamt erstrecken, sondern kann auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus dem Rechtsverhältnis oder auf bestimmte Verpflichtungen aus ihm beschränkt sein. Kein Rechtsverhältnis im Sinne des § 256 Abs. 1 ZPO sind dagegen abstrakte Rechtsfragen, bloße Elemente eines Rechtsverhältnisses oder rechtliche Vorfragen. Die Klärung solcher Fragen liefe darauf hinaus, ein Rechtsgutachten zu erstellen. Das ist den Gerichten verwehrt (grundlegend BAG, Beschluss vom 08.03.2022 – 1 ABR 19/21, NZA 2022, 1068). Genau um die Klärung solcher Vorfragen bzw. um einzelne Elemente aus dem Rechtverhältnis des Klägers zur Beklagten geht es hier aber.

III. Nach allem bleibt es somit bei der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung und die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des von ihr erfolglos eingelegten Rechtsmittels zu tragen. Anlass für die Zulassung der Revision besteht gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG nicht, da die Entscheidung auf den Umständen des Einzelfalls beruht.

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