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Urlauberteilung bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit

Landesarbeitsgericht Thüringen – Az.: 4 Sa 54/21 – Urteil vom 08.09.2021

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Suhl vom 1.10.2020 – 6 Ca 1492/19 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen mit der Maßgabe, dass der Tenor in der Hauptsache wie folgt zur Klarstellung neu gefasst wird:

Die Klage wird als derzeit unbegründet abgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin verlangt von der Beklagten die tatsächliche Erteilung von Urlaub i.H.v. 51 Urlaubstagen.

Die Klägerin war seit dem 23.11.1993 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängern als Kassiererin beschäftigt. Seit dem 28.11.2018 war sie arbeitsunfähig erkrankt. Mit Bescheid vom 5.11.2019 bewilligte die Deutsche Rentenversicherung Bund der Klägerin für die Zeit 1.6.2019 bis 31.10.2021 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Wegen der Einzelheiten des diesbezüglichen Rentenbescheids wird auf die zu den Akten gereichte Kopie hiervon (Bl. 25-27 der Akte) Bezug genommen. Mit Bescheid vom 15.6.2021 wurde die Rente wegen voller Erwerbsminderung bis zum 31.10.2024 verlängert (Bl. 119-124 der Akte).

Mit Schreiben vom 16.10.2019 verlangte die Klägerin die Gewährung von 16 Urlaubstagen aus dem Kalenderjahr 2018 und 35 Tagen aus dem Kalenderjahr 2019.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug, der dort geäußerten Rechtsansichten und der im ersten Rechtszug gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (Seiten 1-3 des Entscheidungsabdrucks – Bl. 54-56 der Akte) Bezug genommen.

Mit Urteil vom 1.10.2020 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen im Wesentlichen mit der Begründung, wegen der andauernden Arbeitsunfähigkeit der Klägerin sei der Urlaubsanspruch tatsächlich nicht erfüllbar.

Gegen dieses ihr am 22.2.2021 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit am 3.3.2021 beim Thüringer Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese, nachdem auf den am 12.4.2021 eingegangenen Antrag hin mit Beschluss vom 13.4.2021 die Berufungsbegründungsfrist bis zum 25.5.2021 verlängert worden war, mit am 19.5.2021 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Die vom Arbeitsgericht zu Grunde gelegte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach bei Arbeitsunfähigkeit der Urlaubsanspruch durch Freistellung von der Arbeitspflicht nicht erfüllt werden könne, widerspräche dem europarechtlich garantierten Urlaubsanspruch.

Zweck des europarechtlichen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub sei es, sich zu erholen und über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Bei arbeitsfähigen Arbeitnehmern sei anerkannt, dass dieser Erholungszweck nur erfüllt werden könne, wenn tatsächlich auch die Urlaubsvergütung zur Verfügung stehe. Dies müsse auch für arbeitsunfähige Arbeitnehmer gelten. Diese benötigen lediglich nicht zusätzlich noch eine Freistellung von der Arbeitsverpflichtung; die beschriebenen Zwecksetzungen des Urlaubsanspruchs würden erreicht, indem Arbeitsvergütung zur Verfügung gestellt würde. Aus den Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes ergebe sich nicht, dass Voraussetzung für die Erfüllung des Urlaubsanspruchs Arbeitsfähigkeit und die Möglichkeit, einen Arbeitnehmer freizustellen, sei. In § 9 BUrlG sei lediglich geregelt, dass ein während des Urlaubs erkrankter Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch weiter behalte. Aufgrund der bisher angenommenen Rechtslage würden arbeitsunfähigen Arbeitnehmern die finanziellen Mittel zur Erholung ohne Rechtsgrundlage vorenthalten.

Außerdem sei die Urlaubsgewährung ihr, der Klägerin, gegenüber erfüllbar, weil sie von Ihren vertraglich geschuldeten Arbeitspflichten befreit werden könne. Es sei anerkannt, dass die Befreiung von den geschuldeten Arbeitspflichten sich nicht auf die zuletzt eingenommene Stelle allein beziehe. Die Beklagte könne ihr, der Klägerin, im Wege des Direktionsrechts andere Tätigkeiten als die einer Kassiererin übertragen, für welche sie dann nicht arbeitsunfähig wäre, und sie sodann von diesen anderen Tätigkeiten durch Urlaubsgewährung freistellen. Sie sei auch verpflichtet, ihr, der Klägerin, einen leidensgerechten Arbeitsplatz zuzuweisen.

Ansprüche aus dem Kalenderjahr 2018 seien nicht zum 31.3.2020 verfallen, denn die Beklagte habe ihren arbeitgeberseitigen Mitwirkungsobliegenheiten für das Jahr 2018 nicht genügt.

Die Klägerin beantragt, das Endurteil des Arbeitsgerichts Suhl vom 1.10.2020 – 6 Ca 1492/19 – abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin 51 Urlaubstage zu gewähren, und bittet ausdrücklich um Zulassung der Revision.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil. Wegen der Einzelheiten wird auf die Berufungserwiderung nebst Anlagen (Bl. 101-114 der Akte) Bezug genommen.

Die Parteien haben mit am 1.7. (Beklagte) und 12.7.2021 (Klägerin) eingegangenen Schriftsätzen der Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt.

Entscheidungsgründe

Die Kammer konnte nach Zustimmung der Parteien ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden.

Die Berufung ist nicht begründet, weil die Klage derzeit unbegründet ist.

Die Kammer lässt offen, ob die Urlaubstage aus dem Urlaubsjahr 2018 verfallen sind oder nicht, denn zu Gunsten der Klägerin unterstellt, sie habe 16 Resturlaubstage aus dem Urlaubsjahr 2018 sowie 35 Urlaubstage aus dem Urlaubsjahr 2019 ist die Klage, die sich ausweislich der Klarstellung der Klägerin auch im zweiten Rechtszug ausdrücklich auf die tatsächliche Erteilung von Erholungsurlaub abzielt, derzeit unbegründet. Die Klage lässt sich aufgrund der Erklärung der Klägerin auch nicht dahin auslegen, dass sie Abgeltung des Urlaubs in Geld verlangt.

Der geltend gemachte Anspruch der Klägerin ist derzeit nicht erfüllbar, weshalb derzeit die Klage unbegründet ist, denn derzeit kann die Beklagte nicht verpflichtet werden, tatsächlich Urlaub zu erteilen.

Auch in Ansehung der Neuerungen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Möglichkeit, Arbeitnehmer*innen von der Arbeitspflicht freizustellen, jedenfalls im bestehenden Arbeitsverhältnis eine unverzichtbare Voraussetzung für die Erfüllbarkeit des Urlaubsanspruchs (BAG 18.3.2014, 9 AZR 669/12, AP Nr 72 zu § 7 BUrlG). Der Erholungsurlaubsanspruch besteht aus zwei Komponenten, der Befreiung von der Arbeitspflicht und der Zahlung von Urlaubsentgelt. Freistellungskomponente und Zahlungskomponente sind im bestehenden Arbeitsverhältnis untrennbar miteinander verbunden und erst bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses löst sich diese Verbindung, der Freistellungsanspruch ist nicht mehr erfüllbar und der Zahlungsanspruch besteht fort (BAG 22.1.2019, 9 AZR 45/16, NZA 2019, 829). Da nach wie vor die Freistellungskomponente im bestehenden Arbeitsverhältnis zum

Urlaubsanspruch gehört, ist dieser nur erfüllbar, wenn die Komponente umgesetzt werden kann.

Diesem Ergebnis steht auch die Richtlinie 2003/88/EU nicht entgegen. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs steht Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten des nationalen Rechts nicht entgegen, nach denen Arbeitnehmer*innen im Falle der Arbeitsunfähigkeit nicht berechtigt sind, bezahlten Jahresurlaub zu nehmen (EuGH 20.1.2009 – C-350/06 und C-520/06, NZA 2009, 135; BAG 18.3.2014, 9 AZR 669/12, AP Nr 72 zu § 7 BUrlG; vgl. auch Erfk/Gallner BUrlG § 7 Rn 21).

Soweit die Klägerin meint, sie sei nicht generell arbeitsunfähig, sondern nur für ihre ursprüngliche Arbeitsaufgabe als Kassiererin und könne zunächst im Wege des Direktionsrechts versetzt bzw. mit einer anderen Tätigkeit betraut werden und von dieser dann zum Zwecke der Gewährung des Erholungsurlaubs freigestellt werden, übersieht sie die Bedeutung der Bestandskraft des Bescheides der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 5.11.2019. Die Klägerin erhielt zum Zeitpunkt der Entscheidung des Arbeitsgerichtes und auch noch im Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer Rente wegen voller Erwerbsminderung. Diese wird nur bewilligt, wenn die Voraussetzung der vollen Erwerbsminderung im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI erfüllt ist. Voll erwerbsgemindert sind Arbeitnehmer*innen, wenn sie wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Die Feststellung dieser Voraussetzungen schließt grundsätzlich auch Alternativbeschäftigungen der Klägerin aus. Bei dieser Sachlage hätte die Klägerin wesentlich substantiierter vortragen müssen, wie sie sich eine leidensgerechte Alternativbeschäftigung vorstellt und wie dies mit dem Bezug der Rente wegen voller Erwerbsminderung im Einklang stehen soll.

Dass bei derart dauerhaft arbeitsunfähigen und voll erwerbsgeminderten Personen unter Umständen, je nach Ausgang der derzeit laufenden Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH, der Urlaub möglicherweise irgendwann ersatzlos verfällt, weil der damit verbundene Zweck nicht mehr erreicht werden kann, nimmt auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich in Kauf.

Hierüber war allerdings nicht zu entscheiden, weil die Klägerin die tatsächliche Erteilung von Erholungsurlaub begehrt. Alle anderen von den Parteien erwähnten Umstände wie z.B. die Durchführung eines bEM und Ähnliches waren für die Kammer nicht entscheidungserheblich.

Die Klägerin trägt als unterlegene Partei die Kosten ihrer erfolglosen Berufung (§ 97 Abs. 1 ZPO). In der Entscheidung, auch die Frage des Verfalls des Urlaubs des Jahres 2018 offen zu lassen und die Klage insgesamt als derzeit unbegründet abzuweisen liegt kein kostenrechtlich beachtliches teilweises Obsiegen.

Die Revision war nicht zuzulassen. Die hier entscheidungserhebliche Rechtsfrage ist in Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs geklärt.

 

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