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Urlaubsverfall – Mitwirkungsobliegenheiten Arbeitgeber

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 2 Sa 394/20 – Urteil vom 15.07.2021

I. Die Berufung der Beklagten (einschließlich der Widerklage) gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 15.07.2020 – 9 Ca 1705/19 – wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über Ansprüche der Klägerin auf Urlaubsentgelt und Urlaubsabgeltung.

Die Beklagte ist vorrangig in häuslicher Alten- und Krankenpflege tätig. Die Klägerin wurde von der Beklagten am 01. Juli 2009 aufgrund Arbeitsvertrages vom gleichen Tag (Bl. 77 – 79 d. A.) als „Qualitätsbeauftragter/examinierte Pflegefachkraft“ eingestellt. Gemäß § 2 des Arbeitsvertrages beträgt das Bruttomonatsentgelt 3.100,00 € bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden. In § 6 des Arbeitsvertrages ist ein Jahresurlaub von 31 Arbeitstagen vereinbart bei einer 5-Tage-Woche. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete zum 31. August 2019.

Urlaubsverfall - Mitwirkungsobliegenheiten Arbeitgeber
(Symbolfoto: TippaPatt/Shutterstock.com)

Mit Schreiben vom 22. September 2019 legte die Klägerin der Beklagten Excel-Tabellen über den von ihr während des Arbeitsverhältnisses jeweils genommenen und übertragenen Resturlaub vor (Bl. 85 – 88 d. A.). Danach belief sich ihr Urlaubsanspruch unter Berücksichtigung der jeweils übertragenen Resturlaubstage Ende 2018 auf 52,5 Tage. Im Jahr 2019 nahm die Klägerin nach ihrer Angabe 46 Tage Urlaub, von denen 22 Tage auf den Monat August 2019 fielen, der ihr von der Beklagten nicht vergütet wurde.

Mit ihrer am 29. Oktober 2019 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat die Klägerin Urlaubsentgelt für die im Monat August 2019 genommenen 22 Urlaubstage in Höhe von 3.147,69 € (3.100,00 € x 3 Monate : 65 Arbeitstage x 22 Urlaubstage) sowie Abgeltung der noch verbleibenden 37,5 Urlaubstage (52,5 Tage Ende 2018 + 31 Tage für 2019 = 83,5 Tage abzüglich der im Jahr 2019 insgesamt genommenen 46 Tage) in Höhe von 5.365,38 € (3.100,00 € x 3 Monate : 65 Arbeitstage x 37,5 Urlaubstage) verlangt.

Wegen des wechselseitigen Vorbringens der Parteien erster Instanz wird auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Mainz vom 15. Juli 2020 – 9 Ca 1705/19 – und die erstinstanzlich eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an sie 3.147,69 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit 2. September 2019 zu zahlen;

2. die Beklagte zu verurteilen, an sie weitere 5.365,38 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Mit Urteil vom 15. Juli 2020 hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, dass die Urlaubsansprüche der Klägerin entgegen der Auffassung der Beklagten nicht nach § 7 Abs. 3 BUrlG verfallen seien. Die Vorschrift, die mit der vertraglichen Bezugnahme auf das Bundesurlaubsgesetz auf den gesamten Urlaubsanspruch der Klägerin zur Anwendung gelange, verlange nach richtlinienkonformer Auslegung für einen Verfall des Urlaubsanspruches am Ende des Kalenderjahres die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten der Arbeitgeberin. Seien die Mitwirkungspflichten hingegen nicht erfüllt worden, sei der Urlaubsanspruch für das jeweilige Urlaubsjahr unabhängig vom Vorliegen eines Übertragungsgrundes regelmäßig nicht i.S.v. § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG an das Urlaubsjahr gebunden. Dabei bestehe die Mitwirkungsobliegenheit darin, dass die Arbeitgeberin konkret und in völliger Transparenz dafür sorge, dass die Arbeitnehmerin tatsächlich in der Lage sei, ihren bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Sie müsse sie – erforderlichenfalls förmlich – dazu auffordern, ihren Urlaub zu nehmen, und ihr klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub verfalle, wenn sie ihn nicht nehme. Unstreitig sei bei der Beklagten nicht entsprechend verfahren worden, weshalb der Urlaub nicht verfallen sei. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei es auch nicht aufgrund der Position der Klägerin entbehrlich gewesen, die genannten Mitwirkungsobliegenheiten zu erfüllen. Die Klägerin sei Arbeitnehmerin der Beklagten gewesen ohne besondere Befugnisse und insbesondere – wie es bei Arbeitnehmerinnen üblich sei – ohne das Recht, sich selbst zu beurlauben. Es sei deshalb kein Grund ersichtlich, die Beklagte davon zu befreien, die Klägerin schriftlich auf den Umfang ihres Urlaubs sowie den Umstand, dass dieser zur Vermeidung des Verfalls bis zum Jahresende genommen werden müsse, hinzuweisen. Der Klägerin stehe mithin die zutreffend berechnete Klageforderung zu.

Gegen das ihr am 8. Dezember 2020 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 28. Dezember 2020, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am gleichen Tag eingegangen, Berufung eingelegt und diese mit ihrem am 4. Februar 2021 beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz eingegangenen Schriftsatz vom „05.02.2021“ begründet. Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter und macht im Wege der Widerklage einen Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 508,08 € mit der Begründung geltend, dass ihre Vollkaskoversicherung die Regulierung des Schadens wegen eines von der Klägerin im Jahr 2019 verursachten Unfalls mit ihrem Dienstwagen abgelehnt habe, weil die Klägerin hierzu keinerlei Angaben habe machen können oder wollen.

Die Beklagte wiederholt ihren erstinstanzlichen Vortrag und trägt (ergänzend) vor, die Klägerin sei entgegen den Ausführungen des Arbeitsgerichts keine Arbeitnehmerin ohne besondere Befugnisse gewesen. Vielmehr habe der Klägerin die gesamte Personalplanung sowie auch die damit direkt zusammenhängende Urlaubsplanung und auch die Urlaubsgenehmigung oblegen, und zwar auch gerade für sich selbst und nicht nur für alle anderen Beschäftigten. Ausweislich der vorgelegten Stellenbeschreibung vom 21. November 2003 sei zwischen den Parteien gemäß den erstinstanzlichen Ausführungen klar gewesen, dass die Klägerin die gesamte Mitarbeiterführung, im konkreten Fall die Urlaubsplanung und alles was damit zu tun gehabt habe, unter sich gehabt habe. Hierzu habe auch die Bearbeitung von Urlaubsanträgen sowie deren Abstimmung im Betrieb gehört, und zwar auch und gerade für sich selbst. Die Klägerin sei insoweit in der Regel auch die einzige gewesen, die die entsprechenden Urlaubslisten geführt und über Urlaube für sich und andere aufgrund der gesetzlichen Lage sowie der betrieblichen Erfordernisse entschieden habe. Die Klägerin habe insoweit die vorgenannten Tätigkeiten in eigener Verantwortung ohne entsprechende permanente Weisung der Geschäftsführung wahrgenommen. Aus der Stellenbeschreibung ergebe sich für die Klägerin selbst auch, dass sie natürlich gehalten gewesen sei, sich laufend fortzubilden und gerade auch bezüglich der Übertragung von Resturlaub erforderlichen Regelungen auf dem neuesten Stand zu sein. Die entsprechende gesetzliche Regelung hätte sie natürlich nicht nur auf die von ihr geführten Mitarbeiter anwenden, sondern auch für sich selbst berücksichtigen müssen. Ihre Geschäftsführung habe die Klägerin gerade dazu eingestellt, die Personalführung auch bezüglich der Urlaubsgewährung professionell und qualitätsgesichert zu übernehmen. Es sei rechtsmissbräuchlich, dass sich die Klägerin nunmehr auf die von ihr – ohne Wissen der Geschäftsführung – eingeführte betriebliche Übung berufe. Die Klägerin hätte ihren Urlaub vollständig im jeweiligen Jahr nehmen können und müssen. Als die Klägerin den Betrieb verlassen habe, seien von ihr sämtliche Excel-Tabellen, aus der sich ihre Arbeitszeit sowie ihre genommenen Urlaubszeiten ergeben würden, von dem von ihr genutzten betriebseigenen PC gelöscht, aber offensichtlich kopiert und mit nach Hause genommen worden. In Bezug auf die von der Klägerin mit Schreiben vom 22. September 2019 zugeleiteten Excel-Tabellen sei aufgrund dessen für sie nicht mehr mit betriebseigenen Ausführungen erkennbar, ob der Urlaubsanspruch, der sich aus den ihr zugeleiteten Daten ergebe, tatsächlich bestehe. Im Hinblick darauf würden die Aufzeichnungen der Klägerin bezüglich der Übertragung von Urlaubszeiten bestritten. Unabhängig davon sei die sich aus den Aufzeichnungen ergebende Übertragung von 52,5 Urlaubstagen unzulässig gewesen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Klägerin für 2019 ein Anspruch von 21 Urlaubstagen zugestanden habe, von denen sie 46 Tage genommen habe, sei ihr Urlaubskonto 25 Tage ins Minus gerutscht. Die Klägerin habe damit keinen Anspruch auf Abgeltung von Resturlaub bzw. bezahlten Urlaub mehr. Die Klägerin habe somit den gesamten August unentschuldigt gefehlt und ihre Arbeit nicht erbracht. Die Ansprüche der Klägerin würden auch nicht unter Berücksichtigung der richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG unter Zugrundelegung der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bestehen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof betreffe explizit den Fall, dass der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in einem Über-/Unterordnungsverhältnis seien und der Arbeitgeber bzw. dessen beauftragte Person einen anderen Arbeitnehmer nicht offen und transparent dahingehen informiert habe, dass er seinen Urlaub rechtzeitig im Kalenderjahr zu nehmen habe und unter welchen konkreten Umständen Urlaub sodann nicht verfalle bzw. im darauffolgenden sowie ggf. den darauffolgenden Jahren noch genommen werden könne. Hier liege aber der besondere Fall vor, dass auf die Klägerin der vorgenannte Fall der Über-/Unterordnung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer betreffend die Planung und Genehmigung ihrer eigenen Urlaubszeiten nicht bestanden habe. Die Klägerin sei alleine für sich selbst und für alle Mitarbeiter des Betriebes betreffend die Planung der Urlaubszeiten verantwortlich gewesen. Zum einen sei sie dafür verantwortlich gewesen, dass die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten worden seien. Zum anderen sei sie auch für die Arbeitseinteilung verantwortlich gewesen. Sie sei diejenige gewesen, die für sich selbst und andere ggf. Überstunden angeordnet habe und Urlaubsansprüche in das nächste Jahr habe übertragen können. Sie sei die Alleinverantwortliche gewesen, die zum Zweck der Qualitätssicherung umfassende Kenntnisse über nahezu alle Belange des Betriebes hätte haben müssen. Insbesondere sei sie alleine dafür verantwortlich gewesen, dass die Regelungen des Bundesurlaubsgesetzes eingehalten würden. Die Klage sei daher hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche auf Urlaubsentgelt für den Monat August 2019 und Urlaubsabgeltung für weitere 37,5 Urlaubstage abzuweisen. Weiterhin habe die Klägerin ihr den mit der Widerklage geltend gemachten Schaden zu ersetzen. Aufgrund der Tatsache, dass die Klägerin zu dem von ihr im Jahr 2019 verursachten Unfall mit ihrem Dienstwagen keinerlei Angaben habe machen können oder wollen, habe ihre Vollkaskoversicherung die Regulierung des Schadens abgelehnt. Sie habe den Schaden bei dem Autohaus P. reparieren lassen, woraus die vorgelegte Reparaturrechnung vom 21. Juni 2019 in Höhe von 508,08 € resultiere. Die Klägerin habe es zu vertreten, dass ihre Vollkaskoversicherung den Schaden nicht getragen habe, indem sie zum Schadenshergang keinerlei Angaben gegenüber der Versicherung getätigt habe. Dies stelle eine vorsätzliche Pflichtverletzung ihr gegenüber dar. Daher habe die Klägerin den geltend gemachten Schaden zu ersetzen.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 15. Juli 2020 – 9 Ca 1705/19 – abzuändern und

1. die Klage abzuweisen,

2. auf die Widerklage die Klägerin zu verurteilen, an sie 508,08 € nebst 5 % Zinsen p. a. seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung (einschließlich der Widerklage) zurückzuweisen.

Die Klägerin erwidert, das Arbeitsgericht sei insbesondere zu Recht davon ausgegangen, dass sie Arbeitnehmerin der Beklagten ohne Befugnis zur Selbstbeurlaubung gewesen sei und sie sich deshalb nicht selbst habe beurlauben dürfen. Sofern die Beklagte behaupte, ihr hätte die Urlaubsplanung und Urlaubsgenehmigung insgesamt oblegen, und somit auch für sich selbst, treffe dies nicht zu. Sie habe keineswegs über die Erteilung von Urlaub der anderen Mitarbeiter und schon gar nicht über ihren eigenen Urlaub entschieden. Wenn die Beklagte davon ausgehe, sie sei verpflichtet gewesen, sich über das gesamte Arbeitsrecht und seine ständigen Veränderungen zu unterrichten und ständig auf dem Laufenden zu halten, so dürfte die entsprechende Klausel eine überraschende Klausel und somit unwirksam sein. Sie habe im Hinblick auf die Urlaubsplanung und Urlaubsgewährung gar nichts eigenmächtig gemacht. Sie habe die Geschäftsführung im Rahmen der Rücksprache zur Urlaubsplanung umfassend informiert, so dass es auch nicht zutreffe, dass sie allein den Überblick über den Urlaub der Mitarbeiter gehabt habe. Von Machtvollkommenheit im Hinblick auf die Urlaubsgewährung könne nicht ansatzweise die Rede sein. Aufgrund der von der Geschäftsführung in jedem Einzelfall abgesegneten Urlaubsgewährung sei diese selbstverständlich auch über den aus dem Vorjahr übertragenen Urlaub im Bilde und damit einverstanden gewesen. Das gelte insbesondere auch für ihren Urlaub selbst. Es treffe nicht zu, dass sie von ihrem PC Excel-Tabellen bezüglich ihrer Arbeits- und Urlaubszeiten gelöscht habe. Die Übertragung des Urlaubs sei natürlich nicht unzulässig gewesen, sondern von der Beklagten ständig ausdrücklich abgesegnet worden. Die Widerklage sei bereits wegen § 533 ZPO als unzulässig abzuweisen. Die erstmals in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage sei nicht sachdienlich, weil sie in keinem Zusammenhang mit der erstinstanzlich erhobenen Klageforderung stehe. Im Übrigen sei der Schadensersatzanspruch nicht schlüssig dargelegt. Es sei weder angegeben, ob es sich um einen Brutto- oder Nettobetrag (im Hinblick auf einen möglichen Vorsteuerabzug) handele noch ob eine Selbstbeteiligung bestehe.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 Buchst. b ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist insbesondere form- sowie fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i. V. m. 519, 520 ZPO).

Die Berufung der Beklagten hat aber in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zu Recht der Klage stattgegeben. Die Klägerin hat gegen die Beklagte Anspruch auf das geltend gemachte Urlaubsentgelt für den im August 2019 genommenen Urlaub von 22 Arbeitstagen in Höhe von 3.147,69 € brutto und die begehrte Urlaubsabgeltung für die im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch verbliebenen 37,5 Urlaubstage in Höhe von 5.365,38 € brutto. Die erstmals in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage der Beklagten ist nach § 533 ZPO bereits unzulässig.

I. Die Klage ist begründet.

1. Nach der vorgelegten Tabelle (Bl. 85 – 88 d. A.), die der Beklagten auf ihre Anforderung hin von der Klägerin übermittelt worden ist, beliefen sich die noch offenen Resturlaubsansprüche der Klägerin Ende 2018 auf 52,5 Tage. Im Hinblick darauf, dass die Klägerin im Jahr 2019 zum 31. August 2019 und damit erst in der zweiten Hälfte des Kalenderjahres ausgeschieden ist, bestand für das Jahr 2019 der Anspruch auf den vollen Jahresurlaub von 31 Arbeitstagen gemäß § 6 des Arbeitsvertrages der Parteien, so dass sich insgesamt 83,5 Urlaubstage ergeben, von denen die Klägerin nach ihrem Vortrag bis zum 31. August 2019 46 Urlaubstage genommen hatte, darunter 22 Urlaubstage im August 2019, wonach noch 37,5 abzugeltende Urlaubstage verbleiben.

Eine weitergehende Erfüllung der Urlaubsansprüche hat die Beklagte nicht nachvollziehbar dargelegt. Soweit sie angeführt hat, dass die Klägerin im Jahr 2019 45 Urlaubstage genommen und zwei weitere Tage „von der Firma abwesend“ gewesen sei, lässt sich auf der Grundlage des Vortrages der Beklagten, die für den Einwand der Erfüllung die Darlegungs- und Beweislast trägt, nicht feststellen, dass die Klägerin – über die von ihr selbst berücksichtigten 46 Urlaubstage hinaus – noch einen weiteren Urlaubstag im Jahr 2019 genommen hat. Soweit die Beklagte die Aufzeichnungen in der vorgelegten Tabelle, die sie erstinstanzlich hinsichtlich der sich danach rechnerisch zum Ende des Jahres 2018 ergebenden 52,5 Tage im Ergebnis nicht bestritten hatte, im Berufungsverfahren erstmals pauschal im Hinblick auf fehlende betriebseigene Aufzeichnungen bestritten hat, ändert ihr pauschales Bestreiten jedenfalls nichts daran, dass eine weitergehende Erfüllung von Urlaubsansprüchen während des bestehenden Arbeitsverhältnisses von der Beklagten nicht nachvollziehbar dargelegt worden ist.

2. Der von der Beklagten in erster Linie erhobene Einwand, die Übertragung aufgelaufener Resturlaubsansprüche von insgesamt 52,5 Tagen zum Ende des Jahres 2018 sei unzulässig gewesen und sämtliche Resturlaubsansprüche aus den vergangenen Jahren seien verfallen, greift nicht durch. Das Arbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass die (Rest-)Urlaubsansprüche der Klägerin aus den vergangenen Jahren nicht verfallen sind, weil die Beklagte ihre Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erlischt der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BUrlG), wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Bei einem richtlinienkonformen Verständnis von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Erfüllung der hieraus in richtlinienkonformer Auslegung abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ist grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes des § 7 Abs. 3 BUrlG. Die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Er muss den Arbeitnehmer – erforderlichenfalls förmlich – auffordern, seinen Urlaub zu nehmen und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt. Hat der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entsprochen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt (st. Rspr., vgl. zuletzt BAG 16. Februar 2021 – 9 AZR 176/20 – Rn. 33 – 36).

Diese für den gesetzlichen Urlaubsanspruch geltenden Grundsätze sind hier auch auf den vertraglichen Mehrurlaub der Klägerin anzuwenden, weil die Parteien ihre Mitwirkungsobliegenheiten bei der Verwirklichung des vertraglichen Mehrurlaubs und die Voraussetzungen seiner Befristung nicht abweichend geregelt haben. Vielmehr haben die Parteien in § 6 des Arbeitsvertrages – ohne Unterscheidung zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und vertraglichem Mehrurlaub – lediglich darauf verwiesen, dass sich der Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz richtet, so dass von einem diesbezüglichen Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf vertraglichen Mehrurlaub auszugehen ist (vgl. BAG 19. Februar 2019 – 9 AZR 321/16 – Rn. 51 und 52).

b) Die Beklagte ist unstreitig den dargestellten Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen, so dass die (Rest-)Urlaubsansprüche der Klägerin nicht verfallen sind.

Entgegen der Ansicht der Beklagten kann sie sich ihren Mitwirkungsobliegenheiten im Verhältnis zur Klägerin nicht dadurch vollständig entledigen, dass sie die Urlaubsplanung und Urlaubsgenehmigung nicht nur für alle anderen Beschäftigten, sondern auch für sich selbst einschließlich der hiermit verbundenen Verantwortlichkeiten auf die Klägerin überträgt. Selbst wenn man unterstellt, dass die Klägerin gemäß dem Vortrag der Beklagten für die Urlaubsbewilligung im Betrieb zuständig war und nicht nur den Urlaub für andere Mitarbeiter gewährte, sondern auch den ihr zustehenden Urlaub selbst nehmen konnte, ändert dies nichts daran, dass die Beklagte die Klägerin – erforderlichenfalls förmlich – dazu hätte auffordern müssen, ihren Urlaub zu nehmen, wenn sie sich gegenüber der Klägerin als ihrer Arbeitnehmerin auf einen Verfall von Urlaubsansprüchen berufen will. Auch und gerade im Hinblick darauf, dass von den Regelungen des § 7 Abs. 3 BUrlG zugunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden kann, hätte die Beklagte ungeachtet der Aufgaben, Pflichten und Position, die sie der Klägerin bei der Urlaubseinteilung und Urlaubsgewährung für alle Mitarbeiter und sich selbst im Betrieb übertragen haben will, dafür sorgen müssen, dass die Klägerin – ggf. förmlich – aufgefordert wird, ihren eigenen Urlaub tatsächlich rechtzeitig zur Vermeidung eines Verfalls in Anspruch zu nehmen. Mangels jeglicher Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten durch die Beklagte musste die Klägerin nicht davon ausgehen, dass sich die Beklagte ihr gegenüber auf einen Verfall von Urlaubsansprüchen beruft. Im Streitfall bedarf es keiner Entscheidung, inwieweit bei umfassend informierten Mitarbeitern der Personalabteilung oder Führungskräften Einschränkungen der Mitwirkungsobliegenheiten im Hinblick auf ihre Belehrung möglich und diese ggf. nur aufzufordern sind, ihren Urlaub tatsächlich rechtzeitig in Anspruch zu nehmen. Im Streitfall ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass von Seiten der Beklagten in irgendeiner Weise darauf hingewirkt worden ist, dass die Klägerin tatsächlich ihren Urlaub rechtzeitig in Anspruch nimmt. Die von der Beklagten vorgetragene Stellung der Klägerin im Betrieb und die ihr übertragenen Aufgaben und Pflichten bei der Urlaubsplanung, Urlaubseinteilung und Urlaubsgewährung führen jedenfalls nicht zu einem vollständigen Entfallen aller Mitwirkungsobliegenheiten der Beklagten, zumal deren Untätigkeit dem Erfordernis „völliger Transparenz“ nicht genügt und der Klägerin nicht hinreichend klar vor Augen führt, dass der von ihr selbst im Urlaubsjahr nicht genommene Urlaub verfallen soll.

3. Mithin kann die Klägerin das geltend gemachte Urlaubsentgelt für die 22 Urlaubstage im August 2019 und die begehrte Urlaubsabgeltung für die danach noch verbleibenden 37,5 Urlaubstage in der gemäß § 11 BUrlG errechneten unstreitigen Höhe verlangen.

Der Zinsanspruch beruht hinsichtlich des Urlaubsentgelts auf §§ 286 Abs. 1 und 2 Nr. 1, 288 Abs. 1 BGB und hinsichtlich der Urlaubsabgeltung auf §§ 291 i.V.m. 288 Abs. 1 BGB.

II. Die in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage der Beklagten ist gemäß § 533 ZPO unzulässig.

Nach § 533 Nr. 1 ZPO ist die Erhebung einer Widerklage in der Berufungsinstanz nur zulässig, wenn der Gegner einwilligt oder das Gericht dies für sachdienlich hält. Die Klägerin hat keine Einwilligung erklärt, sondern in ihrer Berufungserwiderung vom 8. Februar 2021 die Widerklage als unzulässig gerügt und im Termin vom 15. Juli 2021 erklärt, die erstmals in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage sei nicht sachdienlich, weil sie in keinem Zusammenhang mit der erstinstanzlich erhobenen Klageforderung stehe. Die Sachdienlichkeit kann insbesondere zu verneinen sein, wenn das Berufungsgericht bei Zulassung der Widerklage über einen völlig neuen Streitstoff entscheiden müsste. So liegt der Fall hier. Die Beklagte macht mit ihrer Widerklage erstmals in der Berufungsinstanz einen Schadensersatzanspruch geltend, der in keinem Zusammenhang mit der Klage und den streitgegenständlichen Urlaubsansprüchen steht. Im Übrigen hat die Klägerin im Termin vom 15. Juli 2021 zu Recht beanstandet, dass der Schadensersatzanspruch auch (noch) nicht schlüssig dargelegt sei, weil nicht angegeben sei, ob eine Selbstbeteiligung bestehe und es sich um einen Brutto- oder Nettobetrag (im Hinblick auf einen möglichen Vorsteuerabzug) handele. Weiterhin hätte die Beklagte auch zum Grad des Verschuldens in Bezug auf den behaupteten Schaden noch näher vortragen müssen. Unter dem maßgeblichen Gesichtspunkt der Prozesswirtschaftlichkeit erscheint die Zulassung der Widerklage als nicht sachdienlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen (§ 72 Abs. 2 ArbGG) nicht vorliegen.

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