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Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen – Urlaubsübertragung – betriebliche Übung

Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz – Az.: 2 Sa 59/20 – Urteil vom 22.04.2021

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Trier vom 23. Januar 2020 – 3 Ca 697/19 – abgeändert und die Klage abgewiesen.

II. Die Kosten des Rechtsstreits (1. und 2. Instanz) hat der Kläger zu tragen.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger aus den Jahren 2017 und 2018 zusätzlicher Urlaub für schwerbehinderte Menschen von insgesamt 7 Tagen zusteht.

Der Kläger ist bei der Beklagten vollschichtig beschäftigt. In den ihm von der Beklagten für den jeweiligen Monat April der Jahre 2016, 2017, 2018 und 2019 erteilten Verdienstabrechnungen ist jeweils neben dem Urlaubsanspruch für das laufende Jahr auch ein „Rest“-Urlaubsanspruch ausgewiesen (Bl. 7 bis 14 d. A.).

Mit Bescheid vom 05. März 2019 (Bl. 5, 6 d. A.) wurde die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers mit einem Grad der Behinderung von 50 rückwirkend ab dem 11. August 2017 unter Aufhebung des zuvor ergangenen Bescheides vom 24. November 2017 festgestellt. Diesen Bescheid legte der Kläger der Beklagten noch im März 2019 vor, wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob dies am 20. März 2019 – so der Kläger – oder erst am 25. März 2019 – so die Beklagte – erfolgte. Zuvor war der Beklagten (nur) bekannt, dass der Kläger einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt hatte und dieser abgelehnt worden war. Erstmals Anfang April 2019 verlangte der Kläger von der Beklagten die Gewährung des Zusatzurlaubs für schwerbehinderte Menschen und stellte einen entsprechenden Urlaubsantrag. Daraufhin teilte die Beklagte mit Schreiben vom 10. April 2019 (Bl. 49 d. A.) mit, dass sein zusätzlicher Urlaub für schwerbehinderte Menschen für die Jahre 2017 und 2018 verfallen sei.

Mit seiner am 08. Juli 2019 beim Arbeitsgericht Trier eingegangenen Klage hat der Kläger die Feststellung begehrt, dass ihm für die Jahre 2017 und 2018 zusätzlicher Urlaub für schwerbehinderte Menschen von insgesamt 7 Tagen (anteilig 2 Tage aus dem Jahr 2017 und 5 Tage aus dem Jahr 2018) zustehe, und zur Begründung darauf verwiesen, es entspreche der betrieblichen Übung im Betrieb der Beklagten, dass im Urlaubsjahr nicht genommene Urlaubstage ohne Gründe weder mit Ablauf des Urlaubsjahres noch mit dem 31. März des Folgejahres verfallen, sondern unbegrenzt „mitgenommen“ würden.

Wegen des wechselseitigen Vorbringens der Parteien erster Instanz wird im Übrigen auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Trier vom 23. Januar 2020 – 3 Ca 697/19 – verwiesen.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, festzustellen, dass ihm für die Jahre 2017 und 2018 im Jahr 2019 zusätzlicher Urlaub für Schwerbehinderte von 7 Tagen zusteht.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Mit Urteil vom 23. Januar 2020 – 3 Ca 697/19 – hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben. Wegen der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf die Entscheidungsgründe seines Urteils verwiesen.

Gegen das ihr am 31. Januar 2020 zugestellte Urteil des Arbeitsgerichts hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 18. Februar 2020, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am 19. Februar 2020 eingegangen, Berufung eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 18. März 2020, beim Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz am 23. März 2020 eingegangen, begründet.

Die Beklagte trägt vor, der geltend gemachte Zusatzurlaub sei entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts verfallen. Im Hinblick darauf, dass der Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen dasselbe Schicksal teile wie der gesetzliche Mindesturlaub, müsse der Zusatzurlaub im laufenden Kalenderjahr oder für den Fall des Vorliegens eines Übertragungstatbestandes bis zum 31. März des Folgejahres genommen werden. Danach sei der streitgegenständliche Zusatzurlaub verfallen. Hieran ändere auch der von ihrer Seite unterlassene Hinweis bezüglich eines möglichen Verfalls nichts. Sie habe nämlich unstreitig auf den gesetzlichen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen nach § 208 SGB IX und dessen Verfall noch nicht hinweisen können, weil dieser gerade im Hinblick auf den abgelehnten Antrag des Klägers noch nicht existent gewesen sei. In diesem Zusammenhang verweise sie darauf, dass der Arbeitgeber nach den zitierten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und nachfolgend des Bundesarbeitsgerichts den Arbeitnehmer lediglich auf den ihm „zustehenden bezahlten Jahresurlaub“ vor Ablauf des betreffenden Kalenderjahres hinzuweisen habe, insbesondere auf die Folgen einer nicht rechtzeitigen Inanspruchnahme. Mit dem Regelungsinhalt des § 208 Abs. 3 SGB IX solle lediglich die Akzessorietät zu dem gesetzlichen Urlaub nach dem Bundesurlaubsgesetz sichergestellt werden. Eine weitergehende Verpflichtung für den Arbeitgeber im Sinne eines „prophylaktischen Hinweises“ auf einen eventuell erst noch entstehenden Anspruch auf Zusatzurlaub könne daraus keinesfalls abgeleitet werden. Im Übrigen könne auch der Umstand, dass ein Beschäftigter einen ablehnenden Bescheid wegen der beantragten Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft angreifen könne, nicht zu der Hinweispflicht des Arbeitgebers führen. Denn die Ungewissheit über ein nicht rechtskräftig abgeschlossenes Verwaltungsverfahren könne ausschließlich den Antragsteller, mithin den Beschäftigten treffen. Weiterhin führe die Ungewissheit über das Ergebnis des Feststellungsverfahrens nach dem Schwerbehindertenrecht auch nicht zur Übertragung des Urlaubs. Die in den Entgeltabrechnungen ausgewiesenen Urlaubstage seien nicht dazu geeignet, einen etwaigen Anspruch zu begründen, weil es insoweit an einem anspruchsbegründenden Schuldanerkenntnis fehle. Soweit der Kläger pauschal behauptet habe, dass in ihrem Betrieb Urlaub generell nicht verfalle und dies der ständigen Übung entspreche, wie sie dies gegenüber sämtlichen Mitarbeitern praktizieren würde, handele es sich bei den diesbezüglichen Beweisangeboten um einen unzulässigen Ausforschungsbeweis. Die weiteren Ausführungen des Klägers würden sich auf die Mitarbeiter N. Z., C. S., M. K. und K. H. beschränken, wobei verkannt werde, dass eine Urlaubsübertragung nur in Ausnahmefällen ermöglicht worden sei und die vom Kläger benannten Mitarbeiter genau dazu zum Beleg dienten. Ausweislich der vorgelegten Übersicht der „Gesamtkranktage“ und der durchschnittlichen Mitarbeiteranzahl (Bl. 227 d. A.) habe sie leider einen geradezu katastrophalen Krankenstand in den Jahren 2015 bis 2019 feststellen müssen. Herr Z. sei Maschinenführer für die beiden Wickelmaschinen, mit denen die Bewehrungskörbe für sämtliche Stahlbetonfertigteile der Produktion hergestellt würden, also für fast alles. Dabei müsse er meist individuell nach Baustellen und den darauf abgestellten statischen Berechnungen achten. Trotz mehrfacher Versuche, einen zusätzlichen Ersatz für Herrn Z. und dessen Tätigkeit einzustellen, sei der bereits genannte Mitarbeiter, Herr C. S., der einzige Ersatzmann, der im Falle von Krankheit oder urlaubsbedingter Abwesenheit für Herrn Z. eingesetzt werden könne. Ausweislich der vorgelegten Übersicht der Urlaubs- und Krankentage 2015 bis 2019 (Bl. 225 d. A.) sei Herr S. in den Jahren 2015 bis 2019 an insgesamt 391 Tagen arbeitsunfähig erkrankt gewesen und damit als Ersatz für Herrn Z. insoweit ausgefallen. Dennoch bzw. gerade wegen der krankheitsbedingten Ausfälle von Herrn S. und der damit verbundenen Mehrbelastung habe sie es Herrn Z. ermöglicht, in dieser Zeit von 2015 bis 2019 im Mittel 36,8 Tage Urlaub pro Jahr zu nehmen. Eine Übertragung von Urlaub in die Folgejahre sei daher aus betrieblichen Gründen unumgänglich gewesen, so dass insoweit eine Ausnahmesituation vorgelegen habe. Herr C. S., der üblicherweise in der Produktion von Stahlbetonvortrieb-Rohren in zwei Gruppen mit je zwei Personen arbeite, sei der einzige Ersatz für Herrn Z. im Falle von Urlaub und Krankheit gewesen. Dass Herr S. bei den zuvor genannten 391 Kranktagen und Ersatzdiensten an den Wickelmaschinen trotzdem im Mittel 25,3 Tage Urlaub habe machen können, sei nur durch die massive Produktionsumstellung und Vernachlässigung einzelner Produktionszweige möglich gewesen. Da Herr S. aufgrund seiner langen Krankzeiten seinen Urlaub nicht komplett habe nehmen können, sei auch insoweit ein Ausnahmefall gegeben. Im Übrigen wäre es auch bei Herrn S. „unsozial“ gewesen, den Urlaub verfallen zu lassen. Der genannte Mitarbeiter M. K. arbeite in derselben Vierer-Gruppe wie Herr S. Allein die Auswirkung der Arbeitsunfähigkeit von Herrn S. (391 Tage) hätte genügt, den Urlaubsabbau zu verhindern. Zusätzlich seien aus der kleinen Gruppe die Mitarbeiter R. und N. ausgeschieden. Herr R. sei ausweislich der vorgelegten Übersicht nach langer und schwerer Krankheit zum 10. Februar 2020 mit Fehlzeiten in 2019 von 314 Tagen und Herr N. bereits zum 19. November 2017 ausgeschieden. Im Übrigen belege auch die vorgelegte Liste mit den Austritten von Mitarbeitern (Bl. 225, 226 d. A.), dass sie auch insoweit immer wieder mit Problemen bei der Personalplanung konfrontiert sei. Der Ersatz durch Einstellung neuer geeigneter Mitarbeiter sei nur zum Teil gelungen, weil es häufig an der Zuverlässigkeit fehle. In der Folge habe Herr K. seinen Urlaub nur zum Teil nehmen können. Da der Urlaub aus rein betrieblichen Gründen nicht habe genommen werden können, sei er jeweils in die Folgejahre übertragen worden. Herr K. H. arbeite als Anlagenführer an der Betonmischanlage, die den gesamten Beton für das Fertigteilwerk herstelle. Diese Anlage müsse mit zwei Personen besetzt sein. Herr H. sei in den Jahren 2015 bis 2019 ausweislich der vorgelegten Übersicht an insgesamt 220 Tagen arbeitsunfähig erkrankt gewesen. Da es bei der angespannten Personallage nur bedingt möglich sei, einen Ersatz auf die Betonmischanlage zu setzen, der zudem einen LKW fahren müsse, habe Herr H. seinen Urlaub nicht immer komplett nehmen können. Daher hätten auch bei ihm persönliche bzw. betriebliche Gründe zu der notwendigen Übertragung über den 31. März des Folgejahres hinaus geführt. In keinem der genannten Fälle habe es einen generellen Übertrag des Urlaubs in die nächsten Jahre gegeben. Vielmehr sei dies bei allen vier genannten Mitarbeitern nachweislich aus persönlichen bzw. betrieblichen Gründen vollzogen worden, um den Verfall des Urlaubs zu vermeiden. Damit gehe der Vortrag bezüglich einer betrieblichen Übung ins Leere, zumal lediglich bei den genannten vier Mitarbeitern von Seiten des Klägers genauere Ausführungen gemacht worden seien. Die Voraussetzungen zur Annahme einer betrieblichen Übung seien auch unter Berücksichtigung des Vortrags des Klägers gerade nicht gegeben. Vielmehr seien lediglich bei den genannten Mitarbeitern aus sachlich nachvollziehbaren Gründen (krankheitsbedingt, betriebsorganisatorisch) Ausnahmen von dem ansonsten eintretenden Verfall des Urlaubs zum 31. März des Folgejahres gemacht worden. Zudem gebe es gerade nicht eine generelle Möglichkeit für alle Mitarbeiter, über den 31. März des Folgejahres hinaus „Alturlaub“ noch zu nehmen. Im Übrigen sei die Sachlage beim Kläger bezüglich des zusätzlichen Schwerbehindertenurlaubes anders, weil die Schwerbehinderteneigenschaft erst zugesprochen worden sei, als der Zusatzurlaub für die Jahre 2018 und 2019 bereits verfallen gewesen sei. Daher hätte er den Urlaub auch theoretisch nicht nehmen können. Eine Übertragung habe mangels Existenz dieses Schwerbehindertenzusatzurlaubes nicht stattfinden können, selbst wenn persönliche oder betriebliche Gründe existiert hätten.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Trier vom 23. Januar 2020 – 3 Ca 697/19 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen - Urlaubsübertragung - betriebliche Übung
(Symbolfoto: Andrey_Popov/Shutterstock.com)

Der Kläger erwidert, das Arbeitsgericht sei unter Bezugnahme auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zu der zutreffenden Auffassung gelangt, dass seine Klage begründet sei. Die rechtliche Würdigung des Arbeitsgerichts mach er sich zu eigen. Darüber hinaus entspreche es der betrieblichen Übung im Betrieb der Beklagten, dass Urlaubsansprüche nicht verfallen würden, und zwar weder mit Ablauf des Urlaubsjahres noch mit dem 31. März des Folgejahres. Er beziehe sich zunächst auf die vorgelegten Verdienstabrechnungen für den jeweiligen Monat April der Jahre 2016 bis 2019, die jeweils höhere Resturlaubsansprüche als den Jahresurlaubsanspruch ausweisen und belegen würden, dass Urlaub im Betrieb der Beklagten nicht verfalle. Dies entspreche der ständigen Übung im Betrieb der Beklagten, wie sie gegenüber sämtlichen Mitarbeitern praktiziert werde. Die Beklagte habe auch eingeräumt, dass entgegen der gesetzlichen Regelung Urlaubsansprüche in ihrem Betrieb auch mit dem 31. März des Folgejahres nicht verfallen würden. Soweit die Beklagte behaupte, dass dies nur dann der Fall sei, wenn aus betrieblichen und persönlichen Gründen in Ausnahmefällen eine Urlaubsinanspruchnahme bis zum 31. Dezember des Urlaubsjahres oder bis zum 31. März des Folgejahres nicht möglich gewesen sei, sei dies indes unzutreffend. Tatsache sei, dass bei keinem Mitarbeiter der Beklagten je Urlaubsansprüche verfallen seien oder die Gewährung von Urlaubsansprüchen aus Vorjahren unter Verweis auf die Verfallsvorschriften des Bundesurlaubsgesetzes verweigert worden wäre. Auch ohne dass betriebliche oder persönliche Gründe die Urlaubsinanspruchnahme im Urlaubsjahr oder bis zum 31. März des Folgejahres gehindert hätten, könnten die Mitarbeiter der Beklagten die Urlaubsansprüche auch über die Übertragungszeitpunkte hinaus mitnehmen und nehmen. Die hierfür benannten Zeugen könnten aus eigenem Wissen bestätigen, dass im Betrieb der Beklagten auch ohne das Vorliegen von betrieblichen oder persönlichen Gründen Urlaubsansprüche über das Urlaubsjahr und den 31. März des Folgejahres hinaus mitgenommen werden könnten. Auch nach Lesart der Beklagten würde es einen persönlichen Grund für ihn darstellen, den Zusatzurlaub nicht bereits im Jahr 2017 oder 2018 genommen zu haben, weil der entsprechende Zusatzurlaubsanspruch erst im Jahr 2019 festgestellt worden sei. Darüber hinaus würde es eine rechtswidrige Diskriminierung schwerbehinderter Menschen darstellen, wenn die Beklagte ausgerechnet bei diesen deren Zusatzurlaub einem nachteiligeren Regime unterwerfen könnte, als die Urlaubsansprüche nicht behinderter Mitarbeiter. Er habe mit seinen ergänzenden Ausführungen zu den von ihm benannten Zeugen N. Z., C. S., M. K. und K. H. belegt, dass es sich bei der von ihm behaupteten betrieblichen Übung nicht um ein Behaupten ins Blaue hinein handele; wegen der diesbezüglichen ergänzenden Ausführungen des Klägers zur Übertragung und Inanspruchnahme von Urlaubsansprüchen aus den Vorjahren wird auf seinen Vortrag unter Ziffern a bis d des Schriftsatzes vom 14. Dezember 2020 (Seiten 2 bis 8 = Bl. 152 bis 158 d. A.) Bezug genommen. Wie bei allen anderen Mitarbeitern auch hätten bei keinem der Zeugen Z., S., K. oder H. betriebliche oder persönliche Gründe vorgelegen, welche entgegen dem gesetzlichen Fristenregime Veranlassung gegeben hätten, Urlaubsansprüche zu übertragen oder nicht verfallen zu lassen. Vielmehr hätten sämtliche Mitarbeiter auch nach Ablauf der Übertragungsfristen nicht nur den Jahresurlaubsanspruch aus den Vorjahren nehmen können, sondern auch teilweise aus Zeiträumen von mehr als drei Jahren. Wenn Mitarbeiter aus dem Betrieb der Beklagten ausgeschieden seien, seien Urlaubsansprüche, wie sie angesammelt gewesen seien, abgegolten worden. Es erweise sich daher als unzutreffend, wenn die Beklagte behaupte, sie behandele die Urlaubsansprüche ihrer Mitarbeiter nach dem gesetzlichen Fristenregime. Vielmehr würden im Betrieb der Beklagten Urlaubsansprüche nicht verfallen, sondern über Jahre hinweg mitgenommen werden. Dies gelte für sämtliche Mitarbeiter, auch wenn nicht alle bereit gewesen seien, ihm Verdienstabrechnungen zur Verfügung zu stellen. Soweit die Beklagte nunmehr den Versucht unternehme, die dargelegte betriebliche Übung mit einem hohen Krankenstand in den Jahren 2016 bis 2019 zu erklären, seien ihre Ausführungen als viel zu pauschal und unsubstantiiert zurückzuweisen. Insbesondere könne sich die Beklagte auf den von ihm bestrittenen katastrophalen Krankenstand nicht berufen, wenn dieser über Jahre hinweg Normalzustand sein solle, ohne dass die Beklagte hier für Abhilfe sorge. Soweit die Beklagte ausführe, es sei hinsichtlich des Zeugen S. „unsozial“ gewesen, den Urlaub verfallen zu lassen, habe sie derartige Erwägungen bei ihm offensichtlich nicht angestellt. Die Beklagte habe mit ihrer pauschalen und von ihm bestrittenen Behauptung, die erfolgten Übertragungen des Urlaubs hätten krankheitsbedingte oder betriebsorganisatorische Gründe gehabt, zumindest ihrer sekundären Darlegungs- und Beweislast nicht genügt. Insbesondere benenne die Beklagte nicht einen Mitarbeiter, dessen Urlaub verfallen wäre.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 Buchst. a ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist zulässig. Sie ist insbesondere form- sowie fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. 519, 520 ZPO).

Die Berufung der Beklagten hat auch in der Sache Erfolg. Die gemäß § 256 Abs. 1 ZPO zulässige Feststellungsklage ist unbegründet. Der Anspruch des Klägers auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus den Jahren 2017 und 2018 von insgesamt sieben (Arbeits-)Tagen ist jeweils zum Ende des betreffenden Urlaubsjahres nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG verfallen.

I. Die Feststellungsklage ist zulässig. Insbesondere besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse. Mit seiner Feststellungsklage beruft sich der Kläger auf einen ihm auch gegenwärtig weiterhin noch zustehenden Anspruch auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen von insgesamt sieben Arbeitstagen für die Jahre 2017 und 2018. Der gestellte Klageantrag aus der Klageschrift vom 05. Juli 2019 soll mit der im Antrag enthaltenen Formulierung „im Jahr 2019“ nach der Klagebegründung erkennbar lediglich zum Ausdruck bringen, dass die geltend gemachten Zusatzurlaubsansprüche aus den Jahren 2017 und 2018 nicht verfallen seien, sondern dem Kläger weiterhin zustehen würden, wie im Jahre 2019 bei Klageerhebung und mangels entsprechender Urlaubsgewährung auch heute noch. Der grundsätzliche Vorrang der Leistungsklage steht der Zulässigkeit des Feststellungsantrags nicht entgegen (vgl. BAG 12. April 2011 – 9 AZR 80/10 – Rn. 13-15, NZA 2011, 1050; BAG 04. November 2015 – 7 AZR 851/13 – Rn. 44, NZA 2016, 634).

II. Die Klage ist unbegründet. Dem Kläger steht kein Zusatzurlaub nach § 208 Abs. 1 SGB IX für die Jahre 2017 und 2018 zu, weil dieser nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG mit Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres verfallen ist.

1. Nach § 208 Abs. 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen Anspruch auf einen bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen im Urlaubsjahr. Aufgrund der mit Wirkung zum 11. August 2017 festgestellten Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch ist ein Anspruch des Klägers auf Zusatzurlaub von anteilig zwei Arbeitstagen für das Jahr 2017 (5 Arbeitstage x 4 volle Monate : 12 Monate = aufgerundet 2 Arbeitstage, § 208 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB IX) und fünf Arbeitstagen für das Jahr 2018 entstanden. Wird – wie hier – die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch rückwirkend festgestellt, finden nach § 208 Abs. 3 SGB IX auch für die Übertragung des Zusatzurlaubs in das nächste Kalenderjahr die dem Beschäftigungsverhältnis zugrundeliegenden urlaubsrechtlichen Regelungen Anwendung. Danach verfällt nicht genommener Zusatzurlaub auch im Falle der rückwirkenden Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit Ende des jeweiligen Urlaubsjahres, wenn er nicht nach den für das Beschäftigungsverhältnis geltenden Regelungen übertragen wurde. Dadurch soll eine Kumulation von Ansprüchen auf Zusatzurlaub aus vorangegangenen Urlaubsjahren ausgeschlossen werden (BAG 04. November 2015 – 7 AZR 851/13 – Rn. 60, NZA 2016, 634).

2. Nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG ist der Anspruch des Klägers auf den Zusatzurlaub von zwei Arbeitstagen aus dem Jahr 2017 zum 31. Dezember 2017 und von fünf Arbeitstagen aus dem Jahr 2018 zum 31. Dezember 2018 verfallen. Ein Übertragungstatbestand i.S.v. § 7 Abs. 3 S. 2 BUrlG liegt nicht vor, weil die Ungewissheit über das Bestehen der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch kein in der Person des Arbeitnehmers liegender Übertragungsgrund ist (BAG 21. Februar 1995 – 9 AZR 746/93 – Rn. 18, NZA 1995, 1008).

a) Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erlischt der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub (§§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG) bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG allerdings nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraumes (§ 7 Abs. 3 S. 2 und S. 4 BUrlG), wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Bei einem richtlinienkonformen Verständnis von § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Erfüllung der hieraus in richtlinienkonformer Auslegung abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ist grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes des § 7 Abs. 3 BUrlG (BAG 29. September 2020 – 9 AZR 113/19 – Rn. 22, NZA 2021, 279). Auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen nach § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX sind die Vorschriften über die Entstehung, Übertragung, Kürzung und Abgeltung des gesetzlichen Mindesturlaubs anzuwenden. Der Zusatzurlaubsanspruch nach § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX teilt das rechtliche Schicksal des gesetzlichen Mindesturlaubs, es sei denn, tarifliche oder einzelvertragliche Bestimmungen sehen für den Arbeitnehmer günstigere Bestimmungen vor (BAG 22. Januar 2019 – 9 AZR 45/16 – Rn. 24, NZA 2019, 829).

b) Auch wenn danach die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers nicht nur für den gesetzlichen Mindesturlaub, sondern grundsätzlich auch für den – nicht auf Unionsrecht beruhenden – Zusatzurlaubsanspruch aus § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX bestehen, gilt dies im Streitfall nicht, weil der Beklagten in den Urlaubsjahren 2017 und 2018 die erst später festgestellte Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers nicht bekannt war.

Die Beklagte hat erst im März 2019 aufgrund des vorgelegten Bescheids vom 05. März 2019 Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers erlangt. Zuvor war ihr lediglich bekannt, dass der Kläger einen Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft gestellt hatte und dieser abgelehnt worden war. Die Beklagte hat unwidersprochen vorgetragen, dass sie keine Kenntnis davon gehabt habe, dass der Kläger sich gegen die Ablehnung seines Antrags gewandt und Widerspruch eingelegt habe. Solange der Arbeitgeber nicht weiß, dass der Arbeitnehmer ein schwerbehinderter Mensch ist, besteht für ihn keine Verpflichtung, den Arbeitnehmer – gleichsam prophylaktisch – auf einen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen hinzuweisen und diesen ggf. vorsorglich zu gewähren (LAG Rheinland-Pfalz 14. Januar 2021 – 5 Sa 267/19 – Rn. 21, NZA-RR 2021,175; Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB IX 3. Aufl. § 208 Rn. 38.1).

Soweit der Kläger demgegenüber darauf verwiesen hat, dass er seinerseits aufgrund der noch nicht erfolgten Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft in den Jahren 2017 und 2018 den entsprechenden Zusatzurlaub nicht habe nehmen können, hat der Gesetzgeber dieses besondere Risiko nach § 208 Abs. 3 SGB IX dem Arbeitnehmer zugewiesen (vgl. Dau/Düwell/Joussen SGB IX 5. Aufl. § 208 Rn. 60). Dementsprechend können die „Verfallsregeln“ des Bundesurlaubsgesetzes entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht teleologisch dahingehend reduziert werden, dass sie nachträglich entstandene Zusatzurlaubsansprüche nicht umfassen. Vielmehr hat der Gesetzgeber durch die Regelung des § 208 Abs. 3 SGB IX klargestellt, dass die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderung nicht zur Folge haben soll, dass dem Arbeitnehmer in größerem Umfang aufgestaute Urlaubsansprüche zufallen sollen (Dau/Düwell/Joussen SGB IX 5. Aufl. § 208 Rn. 60). Wie bereits ausgeführt, soll durch Absatz 3 des § 208 SGB IX eine Kumulation von Ansprüchen auf Zusatzurlaub aus vorangegangenen Urlaubsjahren ausgeschlossen werden. Auch wenn die Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch durch das Versorgungsamt deklaratorischen und nicht konstitutiven Charakter hat, soll auch in den Fällen eines länger andauernden Feststellungsverfahrens und einer in ein oder unter Umständen auch mehreren vorangegangenen Urlaubsjahren rückwirkenden Feststellung der Eigenschaft im laufenden Urlaubsjahr ein Zusatzurlaub aus den vorangegangenen Jahren nicht beansprucht werden können. Dies soll durch die Anwendung urlaubsrechtlicher Regelungen gewährleistet werden (BT-Drs. 15/1783 S. 18).

Im Streitfall war die Beklagte mithin nicht verpflichtet, den Kläger auf den Zusatzurlaub des § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX für die Jahre 2017 und 2018 hinzuweisen, weil sie erst im März 2019 Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers erlangt hat und zu diesem Zeitpunkt der Zusatzurlaubsanspruch aus den Vorjahren bereits nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG verfallen war.

3. Der Zusatzurlaub aus den Jahren 2017 und 2018 ist auch nicht aufgrund einer vertraglichen Regelung bzw. betrieblichen Übung übertragen worden.

Nach § 208 Abs. 3 SGB IX finden im Falle der rückwirkenden Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch für die Übertragbarkeit des Zusatzurlaubs in das nächste Kalenderjahr „die dem Beschäftigungsverhältnis zugrunde liegenden urlaubsrechtlichen Regelungen Anwendung“. Soweit arbeitsvertraglich günstigere urlaubsrechtliche Übertragungsregeln getroffen worden sind, gelten diese danach auch für den Zusatzurlaub (Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB IX 3. Aufl. § 208 Rn. 40).

a) Eine arbeitsvertragliche Vereinbarung, nach der der Kläger den ihm zustehenden Urlaub außerhalb der in § 7 Abs. 3 S. 1 und S. 2 BUrlG bezeichneten Fristen nehmen kann, lässt sich aus den vom Kläger vorgelegten Entgeltabrechnungen des jeweiligen Monats April der Jahre 2016 bis 2019 nicht herleiten. Hierfür fehlt es an einer entsprechenden Willenserklärung der Beklagten.

aa) Ob ein bestimmtes willentliches Verhalten eine Willens- oder eine bloße Wissenserklärung darstellt, ist durch Auslegung nach den allgemeinen Regeln der §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Dabei sind insbesondere die bestehende Interessenlage und der mit der Erklärung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Eine Entgeltabrechnung stellt regelmäßig lediglich eine Wissens-, nicht aber eine rechtsgestaltende Willenserklärung dar. Dies gilt auch für Urlaubsansprüche, die der Arbeitgeber in einer Entgeltabrechnung ausweist. In aller Regel teilt der Arbeitgeber in der Entgeltabrechnung, zu deren Erteilung er unter den in § 108 Abs. 1 GewO genannten Voraussetzungen verpflichtet ist, dem Arbeitnehmer lediglich die Höhe des Entgelts und den Umfang sonstiger Ansprüche, etwa von Urlaubsansprüchen, mit. Der Mitteilung einer bestimmten Anzahl von Urlaubstagen kommt aber regelmäßig nicht der Bedeutungsgehalt zu, der Arbeitgeber wolle den ausgewiesenen Urlaub auch dann gewähren, wenn er ihn nicht schuldet (BAG 19. März 2019 – 9 AZR 881/16 – Rn. 16, NZA 2019, 1046).

bb) Danach handelt es sich im Streitfall bei den vom Kläger angeführten Entgeltabrechnungen um Wissenserklärungen, die als solche die ansonsten bestehende Rechtslage nicht zu ändern vermochten. Besondere Umstände, die ausnahmsweise auf einen Geschäftswillen der Beklagten schließen lassen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

b) Der Vortrag des Klägers lässt auch nicht den Schluss zu, es habe im Betrieb der Beklagten eine betriebliche Übung bestanden, dass im Urlaubsjahr nicht genommene Urlaubstage ohne Gründe weder mit Ablauf des Urlaubsjahres noch mit dem 31. März des Folgejahres verfallen, sondern unbegrenzt „mitgenommen“ werden können.

aa) Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus einem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen. Entscheidend für das Entstehen eines Anspruchs ist, wie die Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen mussten und ob sie auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durften. Ob dieser tatsächlich mit einem entsprechenden Verpflichtungswillen gehandelt hat, ist unerheblich (BAG 25. Juni 2019 – 9 AZR 546/17 – Rn. 31, NZA 2019, 1577; BAG 19. März 2019 – 9 AZR 881/16 – Rn. 24, NZA 2019, 1046).

Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen einer betrieblichen Übung zur Übertragung von Urlaub über die in § 7 Abs. 3 BUrlG genannten Fristen hinaus bzw. zur unbegrenzten Mitnahme von Urlaubsansprüchen auch nach Ablauf der gesetzlichen Verfallsfristen trägt der Arbeitnehmer als Anspruchsteller (BAG 21. Juni 2005 – 9 AZR 200/04 – Rn. 39, juris). Hierzu hat der Arbeitnehmer die Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers, die eine solche betriebliche Übung begründen sollen, zu konkretisieren und vorzutragen, in welchem Zeitraum der Arbeitgeber welchen Arbeitnehmern Urlaub in welchem Umfang aus welchem Zeitraum außerhalb des gesetzlichen Fristenregimes gewährt hat (BAG 25. Juni 2019 – 9 AZR 546/17 – Rn. 32, NZA 2019, 1577). Die Arbeitnehmer sind namentlich zu bezeichnen und hierauf bezogen die Jahre anzugeben, in denen der Urlaub des Vorjahres nach dem 31. März des Folgejahres gewährt und genommen wurde. Anderenfalls kann schon nicht beurteilt werden, ob der Arbeitgeber diese Vergünstigung wiederholt gewährt hat. Das Erfordernis einer solchen Konkretisierung ergibt sich auch daraus, dass eine betriebliche Übung als Anspruchsgrundlage nur in Betracht kommt, wenn auf die gewährte Leistung kein einzelvertraglicher oder kollektivrechtlicher Anspruch besteht. Das Vorbringen muss daher den Arbeitgeber in die Lage versetzen, mögliche Ausschlusstatbestände vorzutragen. Dazu gehört beispielhaft der Einwand, dass er einen vom Arbeitnehmer verlangten Urlaub entgegen § 7 Abs. 1 BUrlG rechtsgrundlos abgelehnt hat und er deshalb zur unbefristeten Nachgewährung dieses Urlaubs nach den Vorschriften über den Schuldnerverzug verpflichtet war (BAG 21. Juni 2005 – 9 AZR 200/04 – Rn. 39 und 40, juris).

bb) Nach diesen Grundsätzen lässt sich auf der Grundlage des Vortrags des darlegungs- und beweisbelasteten Klägers das Vorliegen der von ihm behaupteten betrieblichen Übung zur unbegrenzten „Mitnahme“ von Urlaubsansprüchen nicht feststellen.

(1) Soweit der Kläger aus dem Umstand, dass die vorgelegten Verdienstabrechnungen jeweils Resturlaubsansprüche in Höhe von mehr als dem Jahresurlaubsanspruch ausweisen, eine betriebliche Übung dahingehend ableitet, dass im Betrieb der Beklagten Urlaubsansprüche nicht verfallen würden, vermag allein die Ausweisung von – ggf. verfallenen – Urlaubsansprüchen in den Entgeltabrechnungen keine betriebliche Übung einer tatsächlichen Urlaubsnahme abweichend vom gesetzlichen Fristenregime zu begründen.

(2) Soweit der Kläger pauschal behauptet hat, dass die Mitarbeiter der Beklagten die Urlaubsansprüche auch über die Übertragungszeitpunkte hinaus „unbegrenzt mitnehmen“ könnten bzw. Urlaub im Betrieb der Beklagten nicht verfalle, genügt dies nicht den dargestellten Anforderungen an die dem Kläger obliegende Darlegungslast. Damit gibt der Kläger im Ergebnis nur seine Sicht einer betrieblichen Praxis wieder, die für die Beklagte nicht einlassungsfähig und vom Gericht nicht überprüfbar ist. Das gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass der Kläger nach seiner Klagebegründung die von ihm behauptete betriebliche Übung aus den erteilten Entgeltabrechnungen ableitet, in denen jeweils Resturlaubsansprüche in Höhe von mehr als dem Jahresurlaubsanspruch ausgewiesen seien. Selbst wenn dies bei den anderen Mitarbeitern auch der Fall sein sollte, folgt daraus noch keine betriebliche Übung, dass Urlaubsansprüche im Betrieb der Beklagten generell nicht verfallen. Soweit er für seine pauschale Behauptung eine Vielzahl von Arbeitnehmern der Beklagten als Zeugen benannt hat, ersetzen diese Beweisangebote nicht den erforderlichen Sachvortrag. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, durch Vernehmung von Zeugen die entscheidungserheblichen Tatsachen erst zu ermitteln (sog. unzulässiger Ausforschungsbeweis, vgl. BAG 21. Juni 2005 – 9 AZR 200/04 – Rn. 41, juris).

(3) Soweit der Kläger im Berufungsverfahren nach dem gerichtlichen Hinweisbeschluss in Bezug auf vier Arbeitnehmer (Herr Z., Herr S., Herr K. und Herr H.) näher vorgetragen hat, dass diesen in den vergangenen Jahren auch Urlaub aus Vorjahren außerhalb des gesetzlichen Fristenregimes gewährt worden sei, lässt die geschilderte Verfahrensweise der Beklagten bei lediglich vier Arbeitnehmern nicht den Schluss auf das Entstehen einer betrieblichen Übung zu.

Eine allgemein verbindliche Regelung, ab welcher Anzahl von Urlaubsgewährungen außerhalb des gesetzlichen Fristenregimes eine betriebliche Übung entstehen kann, gibt es nicht. Für die vorzunehmende Bewertung kommt es insbesondere auf die Zahl der Anwendungsfälle im Verhältnis zur Belegschaftsstärke an. In die Bewertung sind auch Art und Inhalt der gewährten Leistung bzw. Begünstigung einzubeziehen (vgl. hierzu BAG 28. Juli 2004 – 10 AZR 19/04 – Rn. 22, NZA 2004, 1152; BAG 17. November 2009 – 9 AZR 765/08 – Rn. 26, NZA – RR 2010, 293; LAG Köln 26. November 2015 – 7 Sa 624/15 – Rn. 32, juris). Im Streitfall reichen die vom Kläger geschilderten Fälle von lediglich vier Arbeitnehmern im Verhältnis zur Belegschaftsstärke mit einer durchschnittlichen Mitarbeiteranzahl in den Jahren 2015 bis 2019 von mehr als 60 Mitarbeitern zur Begründung einer betrieblichen Übung nicht aus.

Nach dem insoweit unbestrittenen Vortrag der Beklagten waren bei ihr im Jahr 2015 66 Mitarbeiter, im Jahr 2016 66 Mitarbeiter, im Jahr 2017 68 Mitarbeiter, im Jahr 2018 66 Mitarbeiter und im Jahr 2019 71 Mitarbeiter im Durchschnitt beschäftigt. Eine geringere Belegschaftsstärke hat der Kläger nicht behauptet. Die Beklagte hat in Bezug auf jeden einzelnen der vom Kläger angeführten vier Arbeitnehmer vorgetragen, dass der in diesen Ausnahmefällen erfolgten Übertragung von Urlaub in die Folgejahre jeweils die von ihr geschilderte besondere persönliche bzw. betriebliche Situation zugrunde gelegen habe. Der als Anspruchsteller darlegungs- und beweisbelastete Kläger hat zwar bestritten, dass die Übertragungen des Urlaubs krankheitsbedingte oder betriebsorganisatorische Gründe gehabt hätten, ohne aber seinerseits darzulegen, weshalb die von der Beklagten angeführten Gründe unzutreffend sein sollen. Auch wenn die Beklagten bei den genannten vier Arbeitnehmern in den vergangenen Jahren Urlaub aus den von ihr vorgebrachten Gründen über die gesetzlichen Übertragungsregeln hinaus übertragen und nachgewährt hat, ändert dies nichts daran, dass die Verfahrensweisen in solchen Einzelfällen, die sich auf individuelle Besonderheiten zurückführen lassen, Dritten noch keinen hinreichenden Anlass geben, hieraus auf einen verallgemeinernden Verpflichtungswillen der Beklagten allen Belegschaftsmitgliedern gegenüber schließen zu können (vgl. LAG Köln 26. November 2015 – 7 Sa 624/15 – Rn. 38, juris). Unabhängig davon lässt der Vortrag des Klägers auch dann nicht auf die von ihm behauptete betriebliche Übung schließen, wenn man davon ausgeht, dass die Beklagte bei den von ihm angeführten vier Arbeitnehmern jeweils Urlaub übertragen und außerhalb des gesetzlichen Fristenregimes gewährt hat, ohne dass hierfür betriebliche oder persönliche Gründe vorlagen. Im Hinblick darauf, dass die Beklagte in den Jahren 2015 bis 2019 im Durchschnitt mehr als 60 Mitarbeiter beschäftigt hat, lässt die geschilderte Urlaubsgewährung bei lediglich vier Arbeitnehmern nicht darauf schließen, dass die üblichen und im Bundesurlaubsgesetz verankerten Übertragungsregeln für sämtliche Mitarbeiter nicht gelten sollten. Hinsichtlich der konkreten Handhabung der Urlaubsgewährung bei allen übrigen Arbeitnehmern hat der Kläger keine substantiierten Angaben gemacht, die den Rückschluss auf das Entstehen einer betrieblichen Übung zuließen. In Anbetracht der grundsätzlichen Bindung des Urlaubsanspruchs an das betreffende Urlaubsjahr mit dem in §§ 1, 7 Abs. 3 BUrlG festgelegten Gebot zeitnaher Erfüllung sind zur Annahme einer betrieblichen Übung mit dem Inhalt, dass nicht in Anspruch genommene Urlaubsansprüche unbegrenzt in Folgejahre übertragen und genommen werden können, strenge Anforderungen zu stellen. Allein die praktizierte Urlaubsgewährung bei einzelnen Arbeitnehmern einer größeren Belegschaft – wie hier bei vier Mitarbeitern und einer Belegschaftsstärke von im Durchschnitt mehr als 60 Mitarbeitern – lässt noch nicht auf einen zurechenbaren, objektiven Bindungswillen des Arbeitgebers auch anderen gegenüber schließen. Soweit der Kläger rügt, die Beklagte genüge ihrer sekundären Darlegungs- und Beweislast nicht, weil sie keinen Mitarbeiter benenne, dessen Urlaub verfallen wäre, verkennt er, dass in den Regelfällen der gesetzlich intendierten Urlaubsgewährung im betreffenden Urlaubsjahr kein Verfall eintritt und die Beklagte aufgrund der dem Kläger als Anspruchsteller obliegenden Darlegungs- und Beweislast daher nicht verpflichtet sein kann, ihrerseits Fälle eines Verfalls von Urlaubsansprüchen zu schildern, um damit die vom Kläger – nicht schlüssig – vorgetragene betriebliche Übung zu widerlegen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

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