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Langzeiterkrankung – Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub

EuGH: Urlaubsanspruch bei Langzeiterkrankung muss auch nachträglich erfüllt werden

Das Thema bezahlter Jahresurlaub und dessen Übertragbarkeit bei Langzeiterkrankungen ist ein wesentliches Anliegen im europäischen Arbeitsrecht. Im Kern dreht sich die Fragestellung um die Rechte von Arbeitnehmern, die aufgrund langfristiger gesundheitlicher Beeinträchtigungen ihren Jahresurlaub nicht in Anspruch nehmen konnten. Dabei steht insbesondere die Auslegung und Anwendung der Richtlinie 2003/88/EG und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union im Vordergrund. Diese Regelungen befassen sich mit den grundlegenden Aspekten der Arbeitszeitgestaltung und dem Schutz der Arbeitnehmerrechte, einschließlich des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in diesem Kontext wirft ein Licht auf die Balance zwischen Arbeitnehmerinteressen und den organisatorischen Anforderungen von Arbeitgebern, insbesondere in Fällen, in denen die übliche Übertragungsfrist für Urlaubsansprüche durch Langzeiterkrankung beeinflusst wird. Diese Problematik ist von hoher Relevanz, da sie grundlegende Fragen des Arbeitsrechts und der sozialen Gerechtigkeit innerhalb der Europäischen Union betrifft.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: C-271/22 bis C-275/22  >>>

Das Wichtigste in Kürze


Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass Arbeitnehmer, die wegen Langzeiterkrankungen ihren bezahlten Jahresurlaub nicht in Anspruch nehmen konnten, diesen Anspruch auch gegenüber privaten Arbeitgebern, die öffentliche Dienstleistungen erbringen, geltend machen können. Außerdem steht das Unionsrecht einer Übertragungsfrist von 15 Monaten für nicht genommenen Jahresurlaub aufgrund von Langzeiterkrankungen nicht entgegen.

Zentrale Punkte aus dem Urteil:

  1. Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub: Arbeitnehmer können diesen Anspruch gegenüber ihrem Arbeitgeber geltend machen, selbst wenn es sich um ein privates Unternehmen handelt, das öffentliche Dienstleistungen erbringt.
  2. Rolle der Charta der Grundrechte der EU: Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankert und wird durch Art. 7der Richtlinie 2003/88/EG konkretisiert.
  3. Gleichstellung bei Krankheit: Arbeitnehmer, die wegen einer Krankschreibung nicht arbeiten können, werden hinsichtlich ihres Urlaubsanspruchs denjenigen gleichgestellt, die gearbeitet haben.
  4. Übertragungsfrist von 15 Monaten: Es ist zulässig, dass nationale Rechtsvorschriften eine Übertragungsfrist von 15 Monaten für den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vorsehen, wenn dieser aufgrund einer Langzeiterkrankung nicht genommen wurde.
  5. Beschränkung auf zwei Bezugszeiträume: Die Forderungen nach bezahltem Jahresurlaub waren auf die Ansprüche beschränkt, die während höchstens zwei aufeinanderfolgenden Bezugszeiträumen erworben wurden.
  6. Bedeutung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber: Die Entscheidung berücksichtigt sowohl die Interessen der Arbeitnehmer an Erholungszeiten als auch die organisatorischen Bedürfnisse der Arbeitgeber.
  7. Europäisches Sozialrecht: Der Fall betont die Wichtigkeit des bezahlten Jahresurlaubs als grundlegenden Grundsatz im europäischen Sozialrecht.
  8. Verhältnismäßigkeit und gesetzliche Grundlage: Jede Einschränkung des Rechts auf bezahlten Jahresurlaub muss gesetzlich vorgesehen, verhältnismäßig und unter Beachtung des Wesensgehalts des Rechts erfolgen.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub bei Langzeiterkrankung

In Deutschland ist die Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub bei Langzeiterkrankung zeitlich begrenzt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass auch im Fall einer lang andauernden Krankheit ein Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub besteht. Allerdings hat der EuGH in einem weiteren Urteil zugelassen, dass die EU-Staaten die Übertragung von Urlaubsansprüchen zeitlich begrenzen dürfen.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat daraufhin den Übertragungszeitraum für deutsche Arbeitnehmer auf 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres festgelegt. Das bedeutet, dass der Urlaubsanspruch eines langzeiterkrankten Arbeitnehmers spätestens 15 Monate nach Ablauf des Jahres, in dem der Urlaubsanspruch erworben wurde, verfällt.

Tarifverträge können Regelungen vorsehen, wonach krankheitsbedingt nicht genommener Urlaub nach 15 oder 18 Monaten verfällt. Es ist jedoch wichtig, dass Arbeitgeber ihre Mitarbeiter rechtzeitig schriftlich darauf hinweisen, dass der Urlaub bis zum Ende des Übertragungszeitraums in vollem Umfang genommen werden muss und er ansonsten mit Ablauf des Urlaubsjahres oder Übertragungszeitraums erlischt.


Das vorliegende Urteil

EuGH – Az.: C-271/22 bis C-275/22 – Urteil vom 9. November 2023

1. Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind dahin auszulegen, dass ein Arbeitnehmer den in der erstgenannten Bestimmung verankerten und in der letztgenannten Bestimmung konkretisierten Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gegenüber seinem Arbeitgeber geltend machen kann, wobei es insoweit unerheblich ist, dass es sich bei diesem um ein privates Unternehmen handelt, das mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen betraut wurde.

2. Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ist dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder einzelstaatlichen Gepflogenheiten nicht entgegensteht, nach denen in Ermangelung einer nationalen Bestimmung, die eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung für die Übertragung von erworbenen Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub vorsieht, die aufgrund einer Krankschreibung wegen einer Langzeiterkrankung nicht geltend gemacht wurden, Forderungen nach bezahltem Jahresurlaub stattgegeben werden kann, die ein Arbeitnehmer innerhalb von 15 Monaten nach Ende des Bezugszeitraums, in dem der Anspruch auf diesen Jahresurlaub entstanden ist, gestellt hat und die auf zwei Bezugszeiträume in Folge beschränkt sind.

Gründe

Urteil

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) und von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen XT, KH, BX, FH sowie NW, den Klägern des Ausgangsverfahrens, auf der einen und der Keolis Agen SARL auf der anderen Seite wegen deren Weigerung, ihnen erworbene Urlaubstage zu gewähren, die sie aufgrund von Krankschreibungen nicht in Anspruch nehmen konnten, oder ihnen eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zu zahlen.

Unionsrecht

Art. 7 („Jahresurlaub“) der Richtlinie 2003/88 lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2)      Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

Französisches Recht

Nach Art. L. 3141-3 des Code du travail (im Folgenden: Arbeitsgesetzbuch) hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Urlaub von 2,5 Arbeitstagen je Monat effektiver Arbeitszeit beim selben Arbeitgeber.

Art. L. 3141-5 des Arbeitsgesetzbuchs bestimmt:

„Für die Bestimmung der Urlaubsdauer wird als effektive Arbeitszeit angesehen:

1.      die Zeit des bezahlten Urlaubs;

5.      die – auf eine ununterbrochene Dauer von einem Jahr beschränkte – Zeit, während der die Erfüllung des Arbeitsvertrags aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit unterbrochen ist;

…“

Art. L. 3245-1 des Arbeitsgesetzbuchs sieht vor:

„Der Anspruch auf Zahlung oder Rückerstattung des Arbeitslohns verjährt nach Ablauf von drei Jahren ab dem Tag, an dem der Anspruchsinhaber von den anspruchsbegründenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat oder hätte erlangen müssen. Der Anspruch umfasst die Beträge, die für die letzten drei Jahre ab diesem Tag geschuldet werden, oder, wenn der Arbeitsvertrag beendet ist, die Beträge, die für die drei Jahre vor der Beendigung des Vertrags geschuldet werden.“

Art. D. 3141-7 des Arbeitsgesetzbuchs lautet:

„Die Zahlung von Urlaubsentgelt unterliegt den Vorschriften über die Lohnzahlung des Zweiten Buches.“

Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

Keolis Agen ist ein privates Unternehmen, das mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs betraut wurde.

Einige der Kläger des Ausgangsverfahrens sind bei diesem Unternehmen mit einem unbefristeten Arbeitsvertrag beschäftigt, während die anderen unbefristet beschäftigt waren, bis sie für berufsunfähig erklärt und ihre Arbeitsverträge beendet wurden.

Während der Dauer ihrer jeweiligen Arbeitsverträge waren die Kläger des Ausgangsverfahrens über ein Jahr krankgeschrieben. Sie forderten daher von Keolis Agen die Gewährung des bezahlten Jahresurlaubs, den sie während ihrer jeweiligen Krankheitszeiten nicht in Anspruch nehmen konnten, bzw. diejenigen unter ihnen, deren Verträge beendet worden waren, eine finanzielle Vergütung als Abgeltung der nicht genommenen Urlaubstage. Diese Forderungen wurden innerhalb von 15 Monaten nach Ende des einjährigen Bezugszeitraums, in dem der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub entstanden war, gestellt und waren auf die Ansprüche beschränkt, die während höchstens zwei Bezugszeiträumen in Folge erworben worden waren.

Keolis Agen lehnte die Forderungen auf der Grundlage von Art. L. 3141-5 des Arbeitsgesetzbuchs ab, weil die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Krankschreibungen länger als ein Jahr angedauert hätten und nicht durch eine Berufskrankheit verursacht worden seien.

Da die Kläger des Ausgangsverfahrens der Ansicht waren, dass diese Ablehnung gegen das Unionsrecht verstoße, und zwar insbesondere gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 und Art. 31 Abs. 2 der Charta, erhoben sie Klage beim Conseil de prud’hommes d’Agen (Arbeitsgericht Agen, Frankreich), dem vorlegenden Gericht in den vorliegenden Rechtssachen.

Das vorlegende Gericht fragt sich zum einen, ob sich die Kläger des Ausgangsverfahrens gegenüber Keolis Agen, also einem privaten Unternehmen, das mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen betraut wurde, auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 berufen können.

Zum anderen weist es darauf hin, dass das nationale Recht für Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub, die während einer Krankschreibung wegen einer Langzeiterkrankung erworben worden seien, keine ausdrückliche Übertragungsfrist vorsehe. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere im Urteil vom 22. November 2011, KHS (C-214/10, EU:C:2011:761), könne eine Übertragungsfrist von 15 Monaten zulässig sein, wenn der Bezugszeitraum, in dem der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub entstanden sei, ein Jahr betrage. Von einer solchen Frist von 15 Monaten sei im Übrigen der Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) in seiner Rechtsprechung ausgegangen. Dagegen habe die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) in ihrer Rechtsprechung die Möglichkeit einer unbegrenzten Übertragung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub, die aufgrund einer Krankschreibung wegen einer Langzeiterkrankung angesammelt wurden, anerkannt. In Anbetracht dieser Unterschiede in der Rechtsprechung wirft das vorlegende Gericht zum einen die Frage auf, welche Übertragungsfrist als angemessen zugrunde gelegt werden kann, und zum anderen, ob in Ermangelung einer nationalen Bestimmung, die diese Frist begrenzt, möglicherweise eine unbegrenzte Übertragungsfrist mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Unter diesen Umständen hat das Arbeitsgericht Agen beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass er auf die Beziehungen zwischen einem privaten Verkehrsbetreiber, der lediglich mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen betraut wurde, und seinen Arbeitnehmern unmittelbar anwendbar ist, und zwar insbesondere unter Berücksichtigung der Liberalisierung des Sektors des Schienenpersonenverkehrs?

2.      Welche Übertragungsfrist ist für die im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 erworbenen vier Wochen bezahlten Urlaubs angemessen, wenn der Bezugszeitraum für Ansprüche auf bezahlten Urlaub ein Jahr beträgt?

3.      Verstößt es nicht gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, wenn in Ermangelung einer nationalen gesetzlichen oder vertraglichen Bestimmung eine unbegrenzte Übertragungsfrist angewandt wird?

Vorlagefragen

Erste Frage

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass ein Arbeitnehmer den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gegenüber seinem Arbeitgeber auch dann geltend machen kann, wenn dieser ein privates Unternehmen ist, das mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen betraut wurde.

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 in einem Rechtsstreit zwischen Privaten grundsätzlich nicht geltend gemacht werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2015, Fenoll, C-316/13, EU:C:2015:200, Rn. 48).

Nach ständiger Rechtsprechung wird mit dieser Bestimmung jedoch das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub widergespiegelt und konkretisiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Folglich ist die erste Frage nicht nur im Hinblick auf Art. 7 der Richtlinie 2003/88, sondern auch auf Art. 31 Abs. 2 der Charta zu prüfen.

Wie sich unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 ergibt, hat jeder Arbeitnehmer Anspruch auf einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen. Dieser Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich gezogen werden (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Insoweit ist zu beachten, dass dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union nicht nur besondere Bedeutung zukommt, sondern dass er auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta, die nach Art. 6 Abs. 1 EUV den gleichen rechtlichen Rang wie die Verträge hat, ausdrücklich verankert ist (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Während Art. 31 Abs. 2 der Charta jedem Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub garantiert, setzt Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 diesen Grundsatz um, indem er die Dauer des Jahresurlaubs festlegt (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub, das in Art. 31 Abs. 2 der Charta für jede Arbeitnehmerin und jeden Arbeitnehmer verankert ist, ist, was sein Bestehen selbst anbelangt, zugleich zwingend und nicht von Bedingungen abhängig, da die Charta nicht durch unionsrechtliche oder nationalrechtliche Bestimmungen konkretisiert werden muss. In diesen sind nur die genaue Dauer des bezahlten Jahresurlaubs und gegebenenfalls bestimmte Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts festzulegen. Folglich verleiht Art. 31 Abs. 2 der Charta schon für sich allein den Arbeitnehmern ein Recht, das sie in einem Rechtsstreit gegen ihren Arbeitgeber in einem vom Unionsrecht erfassten und daher in den Anwendungsbereich der Charta fallenden Sachverhalt als solches geltend machen können (Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, C-684/16, EU:C:2018:874, Rn. 74 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Art. 31 Abs. 2 der Charta hat daher für die in den Anwendungsbereich der Charta fallenden Sachverhalte insbesondere zur Folge, dass das mit einem Rechtsstreit zwischen einem Arbeitnehmer und seinem privaten Arbeitgeber befasste nationale Gericht eine nationale Regelung unangewendet zu lassen hat, die den Grundsatz verletzt, dass einem Arbeitnehmer, wenn er nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen, ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums oder die finanzielle Vergütung, die als eng mit diesem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verbundener Anspruch am Ende des Arbeitsverhältnisses an dessen Stelle tritt, nicht genommen werden darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, C-684/16, EU:C:2018:874, Rn. 75 und 81).

In diesem Zusammenhang steht fest, dass ein Mitgliedstaat in bestimmten besonderen Fällen, in denen ein Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht von der Voraussetzung abhängig machen darf, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn. 59).

Dies ist insbesondere bei Arbeitnehmern der Fall, die wegen einer Krankschreibung während des Bezugszeitraums der Arbeit fernbleiben. Wie sich nämlich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, werden diese Arbeitnehmer hinsichtlich des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub solchen gleichgestellt, die in diesem Zeitraum tatsächlich gearbeitet haben (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn. 60).

Im vorliegenden Fall können die Kläger des Ausgangsverfahrens den in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten und in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 konkretisierten Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub somit gegenüber ihrem Arbeitgeber geltend machen, unabhängig davon, dass es sich bei diesem um ein privates Unternehmen handelt, das mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen betraut wurde, und hat das vorlegende Gericht eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die gegen diese Bestimmungen des Unionsrechts verstößt.

Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 31 Abs. 2 der Charta und Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen sind, dass ein Arbeitnehmer den in der erstgenannten Bestimmung verankerten und in der letztgenannten Bestimmung konkretisierten Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub gegenüber seinem Arbeitgeber geltend machen kann, wobei es insoweit unerheblich ist, dass es sich bei diesem um ein privates Unternehmen handelt, das mit der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen betraut wurde.

Zweite Frage

Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um die Festlegung der Übertragungsfrist, die auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 anwendbar ist, wenn der Bezugszeitraum ein Jahr beträgt.

Gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

Wie sich schon aus dem Wortlaut von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ist es damit Sache der Mitgliedstaaten, in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Voraussetzungen für die Wahrnehmung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen und dabei die konkreten Umstände zu bezeichnen, unter denen die Arbeitnehmer diesen Anspruch geltend machen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, LB [Verjährung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub], C-120/21, EU:C:2022:718, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Wie die Kläger des Ausgangsverfahrens, die französische Regierung und die Europäische Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt haben, ist es nicht Sache des Gerichtshofs, im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens die Übertragungsfrist festzulegen, die auf den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 anwendbar ist, da die Bestimmung dieser Frist zu den Voraussetzungen für die Wahrnehmung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gehört und folglich Sache des betreffenden Mitgliedstaats ist. Bei der Auslegung von Art. 7 dieser Richtlinie kann der Gerichtshof nur prüfen, ob die vom betreffenden Mitgliedstaat festgelegte Übertragungsfrist den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub beeinträchtigen kann.

Der Gerichtshof ist somit für die Beantwortung der zweiten Frage unzuständig.

Dritte Frage

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder einzelstaatlichen Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen in Ermangelung einer nationalen Bestimmung, die eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung für die Übertragung von erworbenen Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub vorsieht, die aufgrund einer Krankschreibung wegen einer Langzeiterkrankung nicht geltend gemacht wurden, Forderungen nach bezahltem Jahresurlaub stattgegeben werden kann, die ein Arbeitnehmer nach Ende des Bezugszeitraums, in dem der Anspruch auf diesen Jahresurlaub entstanden ist, gestellt hat.

Zulässigkeit

Die französische Regierung und die Kommission machen geltend, die dritte Frage sei unzulässig.

Nach Ansicht der französischen Regierung ist die Darstellung des rechtlichen Rahmens durch das vorlegende Gericht unzutreffend und stützt sich u. a. auf eine fehlerhafte Auslegung der Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofs (Frankreich), aus der nicht hervorgehe, dass das nationale Recht eine unbegrenzte Übertragung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub erlaube, die während einer Krankschreibung wegen einer Langzeiterkrankung angesammelt worden seien. In Ermangelung einer entsprechenden ausdrücklichen Bestimmung im nationalen Recht sei die in Art. L. 3245-1 des Arbeitsgesetzbuchs vorgesehene regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren anwendbar. Folglich sei die Vorlagefrage hypothetischer Natur und weise keinen Zusammenhang mit den Gegebenheiten der Ausgangsrechtsstreitigkeiten auf.

Die Kommission weist ihrerseits insbesondere darauf hin, dass XT, der Kläger des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache C-271/22, im Zeitraum vom 9. Januar 2017 bis zum 31. Oktober 2018 vor seiner Entlassung ununterbrochen krankgeschrieben gewesen sei, seine Kündigung am 3. Dezember 2018 erfolgt sei und er die Forderung nach einer Abgeltung am 3. Januar 2019, d. h. einen Monat nach der Kündigung und innerhalb von 13 Monaten nach dem Bezugszeitraum für die im Jahr 2017 erworbenen Ansprüche auf bezahlten Urlaub, gestellt habe. Somit erfordere der Ausgangsrechtsstreit keineswegs die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer etwaigen unbegrenzten Übertragung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub, so dass die dritte Vorlagefrage wegen ihrer hypothetischen Natur für unzulässig zu erklären sei.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 15. Dezember 2022, Veejaam und Espo, C-470/20, EU:C:2022:981, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht den sachlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die dritte Frage einfügt, klar festgelegt, indem es die Gründe für seine Auffassung angegeben hat, nach der das nationale Recht keine zeitliche Begrenzung für die Übertragung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub vorsehe. Es hat außerdem klar dargelegt, inwiefern eine Antwort auf diese Frage erforderlich sei, um über eine etwaige Übertragung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ansprüche entscheiden zu können. Unter diesen Umständen ist nicht offensichtlich, dass diese Frage hypothetischer Natur wäre oder in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand der Ausgangsrechtsstreitigkeiten stünde, so dass die in der vorstehenden Randnummer genannte Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit nicht in Frage gestellt werden kann.

Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts geht jedoch hervor, dass die Forderungen der Kläger des Ausgangsverfahrens innerhalb von 15 Monaten nach Ende des betreffenden Bezugszeitraums bei Keolis Agen gestellt wurden und auf Ansprüche für zwei Bezugszeiträume in Folge beschränkt waren. Daher ist davon auszugehen, dass die dritte Frage nur hinsichtlich dieser Umstände gestellt wird, die aus dem sachlichen Rahmen hervorgehen, in der sie dem Gerichtshof vorgelegt wurde.

Daraus folgt, dass die dritte Frage zulässig ist, soweit sie Forderungen nach bezahltem Jahresurlaub betrifft, die ein Arbeitnehmer innerhalb von 15 Monaten nach Ende des Bezugszeitraums, in dem der Anspruch auf diesen Jahresurlaub entstanden ist, gestellt hat und die auf zwei Bezugszeiträume in Folge beschränkt sind.

Beantwortung der Vorlagefrage

Wie sich aus der in Rn. 31 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, ist es Sache der Mitgliedstaaten, in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften die Voraussetzungen für die Wahrnehmung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen und dabei die konkreten Umstände zu bezeichnen, unter denen die Arbeitnehmer diesen Anspruch geltend machen können.

Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass die Festlegung eines Übertragungszeitraums für am Ende eines Bezugszeitraums nicht genommenen Jahresurlaub zu den Voraussetzungen für die Wahrnehmung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gehört und somit grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt (Urteil vom 22. November 2011, KHS, C-214/10, EU:C:2011:761, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

So hat der Gerichtshof präzisiert, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 grundsätzlich einer nationalen Regelung, die für die Wahrnehmung des mit dieser Richtlinie ausdrücklich verliehenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub Modalitäten vorsieht, die sogar den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums umfassen, unter der Voraussetzung nicht entgegensteht, dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch wahrzunehmen (Urteil vom 22. September 2022, LB [Verjährung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub], C-120/21, EU:C:2022:718, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Nach ständiger Rechtsprechung darf nämlich das in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub nur unter Einhaltung der in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen strengen Voraussetzungen eingeschränkt werden, d. h., diese Einschränkungen müssen gesetzlich vorgesehen sein, den Wesensgehalt des betreffenden Rechts achten sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sein und von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen tatsächlich entsprechen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 33, sowie LB [Verjährung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub], C-120/21, EU:C:2022:718, Rn. 36).

In dem besonderen Zusammenhang, in dem die betreffenden Arbeitnehmer aufgrund ihrer krankheitsbedingten Abwesenheit von der Arbeit daran gehindert waren, ihren Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, hat der Gerichtshof solche Einschränkungen zugelassen und entschieden, dass es nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub entspräche, wenn ein Arbeitnehmer, der während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, berechtigt wäre, unbegrenzt alle während des Zeitraums seiner Abwesenheit von der Arbeit erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt wird, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Der Anspruch eines während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub kann beiden Zweckbestimmungen nur insoweit entsprechen, als der Übertrag eine gewisse zeitliche Grenze nicht überschreitet. Über eine solche Grenze hinaus fehlte dem Jahresurlaub nämlich seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit; erhalten bliebe ihm lediglich seine Eigenschaft als Zeitraum für Entspannung und Freizeit (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2011, KHS, C-214/10, EU:C:2011:761, Rn. 31 und 33, sowie vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Unter den Umständen, dass ein Arbeitnehmer während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähig ist, hat der Gerichtshof somit – mit Blick nicht nur auf den Schutz des Arbeitnehmers, den die Richtlinie 2003/88 bezweckt, sondern auch auf den des Arbeitgebers, der sich der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten des Arbeitnehmers und den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Arbeitsorganisation ergeben können, ausgesetzt sieht – entschieden, dass Art. 7 dieser Richtlinie einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum vorsehen, nach dessen Ablauf diese Ansprüche erlöschen, sofern dieser Zeitraum für den Arbeitnehmer insbesondere die Möglichkeit gewährleistet, bei Bedarf über Erholungszeiträume zu verfügen, die längerfristig gestaffelt und geplant werden sowie verfügbar sein können, und er die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreitet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Mai 2012, Neidel, C-337/10, EU:C:2012:263, Rn. 41, und vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C-518/20 und C-727/20, EU:C:2022:707, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Insbesondere hat der Gerichtshof in Bezug auf einjährige Bezugszeiträume festgestellt, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt, weil solche einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten dem Zweck dieses Anspruchs nicht zuwiderlaufen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. November 2011, KHS, C-214/10, EU:C:2011:761, Rn. 43 und 44).

Im vorliegenden Fall ist in Rn. 40 des vorliegenden Urteils festgestellt worden, dass dem vorlegenden Gericht zufolge das nationale Recht zwar keine ausdrückliche zeitliche Begrenzung für die Übertragung von erworbenen Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub vorsieht, die aufgrund einer Krankschreibung wegen einer Langzeiterkrankung nicht geltend gemacht wurden, dass aber ebenfalls seinen Angaben zufolge die Forderungen der Kläger des Ausgangsverfahrens innerhalb von 15 Monaten nach Ende des betreffenden Bezugszeitraums bei Keolis Agen gestellt wurden und auf Ansprüche für zwei Bezugszeiträume in Folge beschränkt waren.

Da es nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen und insoweit eine zeitliche Begrenzung für die Übertragung dieses Anspruchs einzuführen, wenn sich dies als erforderlich erweist, um dem Zweck dieses Anspruchs nicht zuwiderzulaufen, und zwar unter Beachtung der in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen, wonach die Mitgliedstaaten u. a. dafür Sorge tragen müssen, dass eine solche Begrenzung gesetzlich vorgesehen ist, steht dieser Artikel nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten nicht entgegen, die es erlauben, Forderungen nach bezahltem Jahresurlaub stattzugeben, die innerhalb von 15 Monaten nach Ende des in Rede stehenden Bezugszeitraums gestellt wurden und allein auf erworbene Ansprüche beschränkt sind, die aufgrund einer Krankschreibung wegen einer Langzeiterkrankung während zwei Bezugszeiträumen in Folge nicht ausgeübt wurden.

In Anbetracht der in den Rn. 47 und 48 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist nämlich zum einen festzustellen, dass eine solche Übertragung dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht zuwiderläuft, da die Eigenschaft eines solchen Urlaubs als Erholungszeit für den betreffenden Arbeitnehmer gewahrt wird, und zum anderen, dass eine solche Übertragung den Arbeitgeber nicht der Gefahr der Ansammlung von zu langen Abwesenheitszeiten des Arbeitnehmers auszusetzen scheint.

Somit ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder einzelstaatlichen Gepflogenheiten nicht entgegensteht, nach denen in Ermangelung einer nationalen Bestimmung, die eine ausdrückliche zeitliche Begrenzung für die Übertragung von erworbenen Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub vorsieht, die aufgrund einer Krankschreibung wegen einer Langzeiterkrankung nicht geltend gemacht wurden, Forderungen nach bezahltem Jahresurlaub stattgegeben werden kann, die ein Arbeitnehmer innerhalb von 15 Monaten nach Ende des Bezugszeitraums, in dem der Anspruch auf diesen Jahresurlaub entstanden ist, gestellt hat und die auf zwei Bezugszeiträume in Folge beschränkt sind.

Kosten

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

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