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Coronapandemie – fristlose Kündigung Pflegekraft – Schutzausrüstung nicht getragen

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg – Az.: 12 Sa 46/21 – Urteil vom 10.12.2021

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 12. März 2021 (1 Ca 124/20) wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte das gemeinsame Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 30. März 2020 wirksam fristlos bzw. ob er es mit demselben Schreiben wirksam ordentlich zum 30. September 2020 kündigen konnte. Die Klägerin verlangt darüber hinaus von dem Beklagten, ihr die Vergütung für die Monate April bis September 2020 in Höhe von insgesamt 20.670,60 Euro brutto abzüglich 3.611,10 Euro netto zu zahlen und ihr ein Zwischenzeugnis auszustellen. Der Beklagte fordert von der Klägerin die Vergütung für den 31. März 2020 in Höhe von 36,77 Euro zurück.

Die Klägerin wurde am 17. September 1966 geboren. Sie ist geschieden und hat keine unterhaltsberechtigten Kinder. Bevor sie nach Deutschland kam, war die Klägerin in (…) als Ärztin tätig. Vom 01. Oktober 2008 bis zum 30. September 2011 absolvierte sie beim Beklagten erfolgreich die Ausbildung zur Pflegefachkraft. Seit dem 01. Oktober 2011 war sie in einem Altenheim des Beklagten als Pflegefachkraft beschäftigt. Ihr Monatsentgelt betrug zuletzt 3.455,10 Euro brutto. Das Arbeitsverhältnis der Parteien richtete sich nach den Arbeitsvertragsrichtlinien des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche Deutschland.

Der Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Er fällt unter den Geltungsbereich des Kirchlichen Gesetzes über Mitarbeitendenvertretungen in der Evangelischen Landeskirche in Baden (MVG). Es besteht eine Mitarbeitervertretung.

Der Beklagte hielt für die Beschäftigten in den Altenheimen bereits vor Beginn der Coronapandemie wegen vorübergehend auftretender Infektionskrankheiten, verursacht beispielsweise durch Grippeviren oder das Norovirus, persönliche Schutzausrüstungen vor. Eine persönliche Schutzausrüstung besteht aus dem MSRA-Anzug, einem Mund-Nasen-Schutz, einer Haube, einer Brille und Überschuhen. 2019 nahm die Klägerin an zwei Belehrungen über das Infektionsschutzgesetz teil.

Am 02. März 2020 fand im Altenheim der Klägerin eine Dienstbesprechung statt, die der Beklagte im Hinblick auf die Gefahr von Coronainfektionen veranlasst hatte. Die Klägerin war Teilnehmerin der Dienstbesprechung. Zum damaligen Zeitpunkt gab es bei den Bewohnern keine Verdachtsfälle. Themen der Dienstbesprechung waren u.a.:

  • sorgfältiger Infektionsschutz
  • Tragen und Umgang mit der persönlichen Schutzausrüstung
  • Umgang mit positiv getesteten Bewohnerinnen und mit Bewohnerinnen mit Symptomen
  • Entsorgung von Speiseresten infizierter Bewohnerinnen und Umgang mit deren Wäsche.

Am 20. März fand um 20:00 Uhr erneut eine Dienstbesprechung statt. Die Klägerin hatte um 13:45 Uhr bis 21:00 Uhr Dienst. Die aus der Dienstbesprechung resultierende schriftliche Dienstanweisung des Beklagten vom 20. März 2020 weist keine Gegenzeichnung der Klägerin auf (s. im Einzelnen Anlage B 2 zum Schriftsatz des Beklagten vom 15. Juni 2020, Prozessakte des Arbeitsgerichts (im Folgenden: Arb), Bl. 39).

Coronapandemie - fristlose Kündigung Pflegekraft - Schutzausrüstung nicht getragen
(Symbolfoto: verbaska/Shutterstock.com)

Die Klägerin arbeitete zuletzt im Wohnbereich 2 des Altenheims (Grundriss s. Anlage B 3, Arb Bl. 40). Der Wohnbereich verfügt über keinen eigenen Sozialraum für die Beschäftigten. Am 27. März 2020 war ein Bewohner des Wohnbereichs positiv auf das Coronavirus getestet. Ein anderer Bewohner wies Symptome auf. Dieser hatte sich zuvor aus anderen Gründen im Krankenhaus befunden. Der Beklagte wurde am 27. März telefonisch darüber informiert, dass eine Kontaktperson des Bewohners im Krankenhaus zwischenzeitlich positiv getestet worden sei. Bewohner, die mit den beiden Mitbewohnern Kontakt gehabt hatten, wurden in ihren Zimmern isoliert (s. Lageplan, Arb Bl. 40, jeweils ein gelber Punkt).

In dieser Situation führte der Beklagte an diesem Tag eine weitere Besprechung der Pflegefachkräfte von 13:45 Uhr bis 14:15 Uhr durch. Er wies auf die Dienstanweisung vom 20. März hin. Die Klägerin hatte von 13:45 Uhr bis 21:00 Dienst. Um 16:00 Uhr traf der Pflegedienstleiter die Klägerin in der Küche des Wohnbereichs ohne Schutzausrüstung an. Sie trug keine Atemschutzmaske. Er forderte sie auf, die Schutzmaske aufzusetzen und die vollständige Schutzausrüstung anzulegen. Als sich die Bereichsleiterin später in die Küche begab, hatte die Klägerin weder die Schutzmaske aufgesetzt noch die übrige Schutzausrüstung vollständig angezogen.

Im Wohnbereich lebten sieben demente Bewohner mit Bewegungsdrang, sog. Läufer, die weder dauerhaft in ihren Zimmern festgehalten noch dazu bewegt werden konnten, außerhalb der Zimmer Masken zu tragen. Diese Bewohner wurden zu einem späteren Zeitpunkt positiv getestet. Insgesamt erwiesen sich 15 Bewohner des Wohnbereichs 2 als infiziert. Sieben davon verstarben in Folge der Infektion.

Der 27. März 2020 war ein Freitag. Am Abend um 21:45 Uhr mailte der damalige Vorstandsvorsitzende des Beklagten der Bereichsleiterin u.a.:

„Sie haben mir mündlich und schriftlich gerade berichtet.

Anders der Fall Frau U., die heute am 27.03.2020 im WB 2 Schutzmaske und Kittel ablegte, da sie „schwitze“ und umgehend durch Sie auf Einhaltung der Hygieneanweisungen und Tragen der Schutzmittel hingewiesen wurde. Sie gehörte demnach nicht zu den Mitarbeitenden der ESK und ESW, die sich freiwillig im o.g. Sinne äußerten.

· Frau U. wird fristlos wegen vorsätzlicher Nichteinhaltung der lt. Infektionsschutzgesetz angewiesenen Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen gekündigt. Sie darf ab sofort das Haus nicht mehr betreten. Etwaige Zugangsmittel, wie Schlüssel, sind einzuziehen.

…“

(Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den im erstinstanzlichen Kammertermin vom Zeugen V. übergebenen Ausdruck, Arb Bl. 358 Bezug genommen.)

Ins Cc setzte der Vorstandsvorsitzende insgesamt fünf Personen ein, darunter den Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung V. Dieser mailte dem Vorstandsvorsitzenden am nächsten Tag, Samstag, dem 28. März um 09:42 Uhr:

„vielen Dank für die Information. Glücklicherweise haben wir es mit einem nachvollziehbaren Infektionsweg zu tun.

Der Mitberatungsprozess der MAV für die fristlose Kündigung ist soeben in Gang gesetzt worden, damit diese Kündigung am Montag auch verwaltungstechnisch umgesetzt werden kann. Ein milderes Mittel in Form einer Abmahnung ist bei der bekannt eigenwilligen Dienstauffassung von Frau U. nicht angezeigt, da sie wissentlich und willentlich andere in Gefahr gebracht hat. Das widerspricht einer Dienstgemeinschaft. Dieses Durchgreifen ist auch ein klares Signal an alle verbleibenden MA.“

Der Vorstandsvorsitzende bedankte sich am Mittag per E-Mail. Am Abend um 18:46 Uhr sandte V. ihm die folgende E-Mail zu:

„Die Mitarbeitervertretung stimmt einer fristlosen Kündigung von Frau U. einstimmig zu. Dies gilt auch für eine hilfsweise ordentliche Kündigung.“

Nach dem Freitag war die Klägerin zum Frühdienst am Montag eingeteilt. Spätestens in der Nacht von Sonntag auf Montag traten bei ihr Symptome wie bei einer Erkältung oder einem grippalen Infekt auf. Sie suchte zu Dienstbeginn das Altenheim auf. Bevor sie dessen Tür erreichte, wurde sie von der Leiterin des Wohnbereichs 1 angesprochen. Sie tauschten sich aus. Die Klägerin begab sich in ärztliche Behandlung und ließ sich testen. Am 03. April erfuhr sie telefonisch vom Gesundheitsamt, dass das Testergebnis positiv sei und sie sich bis zum 11. April in häuslicher Quarantäne begeben müsse. Der entsprechende Bescheid des Gesundheitsamts vom 07. April wurde an diesem Tag in den Briefkasten der Klägerin geworfen. Die Klägerin hatte sich mit dem Corona-Virus infiziert.

Am Montag, dem 30. März telefonierte der Generalbevollmächtigte des Beklagten mit dem Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung wegen der beabsichtigten außerordentlichen Kündigung der Klägerin. Gemeinsam gingen sie Daten durch. V. teilte dem Generalbevollmächtigten mit, dass er wegen des Kündigungsvorhabens bereits in Kontakt mit dem Vorstandsvorsitzenden gestanden und er keine weiteren Fragen mehr habe.

Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Schreiben vom 30. März außerordentlich, vorsorglich auch ordentlich zum 30. September 2020. Das Kündigungsschreiben ging der Klägerin am 30. März zu. Die Kündigungsschutzklage ging am 15. April beim Arbeitsgericht ein und wurde dem Beklagten am 18. April 2020 zugestellt.

Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe an den Dienstbesprechungen vom 20. und 27. März nicht teilgenommen, weil sie Bewohner versorgt habe. Am 27. März habe sie den ganzen Tag, so lange sie sich in den Zimmern der Bewohner oder in den Fluren des Wohnbereichs 2 aufgehalten habe, die vollständige persönliche Schutzausrüstung einschließlich der Atemschutzmaske getragen. Als sie der Pflegedienstleiter und die Bereichsleiterin ohne Schutzmaske und mit unvollständiger Schutzausrüstung gesehen hätten, habe sie in der Küche Pause gemacht und ein Warmgetränk zu sich genommen. Sie habe nicht das Essen vorbereitet. Dafür sei sie nicht zuständig. Der Pflegedienstleiter habe sie angeschrien, die Maske aufzuziehen. Dabei habe er selbst keine Maske getragen.

Sie habe am 30. März lediglich Bescheid geben wollen, dass sie wegen der Symptome den Dienst nicht antrete, sondern einen Arzt aufsuche.

Ihr sei nicht bekannt, dass die Mitarbeitervertretung vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß anhört worden sei.

Die Klägerin hat beantragt,

1. es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung vom 30.03.2020 geendet hat.

2. hilfsweise: Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 30.03.2020 beendet wurde.

3. der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat April 2020 in Höhe von 3.455,10 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.05.2020 zu zahlen.

4. der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat Mai 2020 in Höhe von 3.455,10 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.06.2020 zu zahlen.

5. der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat Juni 2020 in Höhe von 3.455,10 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.07.2020 zu zahlen.

6. der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat Juli 2020 in Höhe von 3.455,10 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.08.2020 zu zahlen.

7. der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ein Zwischenzeugnis zu erteilen.

8. der Beklagte wird verurteilt an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat August 2020 in Höhe 3.455,10 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.09.2020 zu zahlen, abzüglich des durch die Bundesagentur für Arbeit ausgezahlten Betrages für den Monat August in Höhe von 1.407,00 EUR.

9. der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat September 2020 in Höhe 3.455,10 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.10.2020 zu zahlen, abzüglich des durch die Bundesagentur für Arbeit ausgezahlten Betrages für den Monat September in Höhe von 422,10 EUR.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

widerklagend:

Die Klägerin wird verurteilt, an den Beklagten 36,77 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemäß § 247 BGB hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

Der Beklagte hat vorgetragen,  (Schriftsatz vom 15. Juni 2020:) Der Vorstandsvorsitzende habe V. den Kündigungssachverhalt am 28. März erläutert und sämtliche Fragen hierzu beantwortet. Er habe die Interessenabwägung dargelegt. V. habe daraufhin das Gremium informiert.

(Schriftsatz vom 04. März 2021:) Im Nachgang sei der Vorsitzende der Mitarbeitervertretung darüber informiert worden, dass die Klägerin am 30. März trotz der vorhandenen Symptome versucht habe, ihren Dienst anzutreten.

Bei der Dienstbesprechung am 02. März 2020 sei das Programm behandelt und bei verbindlichen Weisungen mitgegeben worden. Der Klägerin seien die Anweisungen vom 20. März bekannt gewesen. Sie habe sowohl am 20. als auch am 27. März an den Dienstbesprechungen teilgenommen. Am 27. März sei die Klägerin von vier Personen ohne persönliche Schutzausrüstung, insbesondere ohne Schutzmaske, gesehen worden. Sie habe

in der Küche Essen gerichtet und dieses ohne aufgezogene Maske an die Bewohner verteilt. Außerdem habe sie sich ohne Maske auf den Fluren vor den Zimmern infizierter Heimbewohner und von Heimbewohnern mit Infektionsverdacht aufgehalten.

Er habe das Arbeitsverhältnis der Parteien auf Grund des Verhaltens der Klägerin außerordentlich kündigen müssen, weil die Klägerin als Pflegefachkraft in ständigem Kontakt zu einer durch das Corona-Virus besonders gefährdeten Personengruppe, den Heimbewohnern und -bewohnerinnen, gestanden habe. Unvorsichtiges Verhalten hätte tödliche Konsequenzen haben können. Ohne die ergriffene Maßnahme wären auch behördliche Reaktionen zu erwarten gewesen.

Die Klägerin hat beantragt, die Widerklage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen V., Bereichsleiterin, Pflegedienstleiter, N., F. und S. Wegen der Beweisthemen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 12. März 2021 (Arb Bl. 342 ff.) Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage mit Urteil vom 12. März 2021 abgewiesen und der Widerklage stattgegeben. Die außerordentliche Kündigung des Beklagten sei begründet. Die Klägerin habe sich am 27. März 2020 beharrlich geweigert, die komplette Schutzausrüstung einschließlich der Schutzmaske anzuziehen, obwohl sie zweimal vom Pflegedienstleiter und einmal von der Bereichsleiterin dazu aufgefordert worden sei. Angesichts des hohen Infektionsrisikos im Heim sei die beharrliche Weigerung, elementare Sicherheitsvorschriften einzuhalten, an sich ein wichtiger Grund, das Arbeitsverhältnis außerordentlich zu kündigen.

Eine Abmahnung der Klägerin wäre kein geeignetes Mittel gewesen, hierauf zu reagieren. Zum einen hätte auf Grund des beharrlichen Verhaltens der Klägerin auch nach einer Abmahnung die Befürchtung bestanden, die Klägerin werde sich weiterhin nicht an die erforderlichen Hygienemaßnahmen halten. Zum anderen sei ihre Vertragsverletzung wegen des damit verbundenen hohen Gesundheitsrisikos für die Heimbewohner so schwerwiegend gewesen, dass die Klägerin damit habe rechnen müssen, dass der Beklagte ihr Verhalten nicht hinnehmen werde. Das Interesse des Beklagten an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses überwiege das Interesse der Klägerin an einer wenigstens fristgemäßen Beendigung. Der Beklagte müsse die Heimbewohner im gesamten Haus vor einer Infektion mit dem Corona-Virus schützen. Die Klägerin weise zwar eine Betriebszugehörigkeit von 8,5 Jahren und ein Alter von 53 Jahren auf. Der Arbeitsmarkt für Pflegefachkräfte sei jedoch unabhängig vom Lebensalter derzeit gut.

Die Mitarbeitervertretung sei vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß beteiligt worden. Ihr Vorsitzender habe die E-Mail des Vorstandsvorsitzenden als Einleitung des Mitwirkungsverfahrens verstanden. Spätestens mit dem Dank des Vorstandsvorsitzenden auf die Mitteilung von V., er habe den Mitbestimmungsprozess eingeleitet, hätten beide Seiten zum Ausdruck gebracht, dass das Mitbestimmungsverfahren laufe. Die Unterrichtung der Mitarbeitervertretung sei zwar dürftig, aber ausreichend gewesen. Der notwendige Mindestinhalt (Kündigungsabsicht, Person der zu kündigenden Mitarbeiterin, Art der Kündigung, Kündigungssachverhalt) sei mitgeteilt worden.

Das Urteil des Arbeitsgerichts wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 12. Mai 2021 zugestellt. Die Berufung ging am 11. Juni, die Berufungsbegründung innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist am 30. Juli beim Landesarbeitsgericht ein. Die Berufungsbegründung wurde der Prozessbevollmächtigten des Beklagten am 05. August zugestellt. Die Berufungserwiderung erreichte das Landesarbeitsgericht innerhalb der verlängerten Berufungserwiderungsfrist am 01. Oktober 2021.

Die Klägerin trägt vor, entgegen der Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts habe der Beklagte nicht nachweisen können, dass er sie vollständig und eindeutig darüber informiert habe, ob, wann und bei welchen Tätigkeiten das Personal eine (welche genau?) Schutzausrüstung und/oder Maske tragen müsse. Das Arbeitsgericht verwende häufig Formulierungen wie „gehen davon aus, dass …“ oder es sei „anzunehmen, dass…“ und äußere damit lediglich Vermutungen (zur Beweiswürdigung im Einzelnen s. Berufungsbegründung vom 30. Juli 2021, S. 2 f., Bl. 49 f. der Akte). Dem Beklagten wäre es möglich gewesen, sie abzumahnen.

Die Kündigungen des Beklagten seien auch deshalb unwirksam, weil die Mitarbeitervertretung nicht ordnungsgemäß beteiligt worden sei. Der Beklagte habe weder vorgetragen noch nachgewiesen, dass die Mitwirkung der Mitarbeitervertretung beantragt worden sei und dass die Mitarbeitervertretung sich in rechtswirksamer Weise beteiligt habe. V. habe weder ihre korrekten Sozialdaten noch die von dem Beklagten behaupteten Dienstanweisungen gekannt. Es sei auch nicht vorgetragen, wie der Vorsitzende der Mitarbeitervertretung das Gremium beteiligt habe.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 12. März 2021 (1 Ca 124/20) zu ändern und

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung seitens des Beklagten vom 30.03.2020 beendet wurde,

2. hilfsweise: festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung seitens des Beklagten vom 30.03.2020 beendet wurde,

3. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat April 2020 in Höhe von EUR 3.455,10 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.05.2020 zu zahlen.

4. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat Mai 2020 in Höhe von EUR 3.455,10 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.06.2020 zu zahlen.

5. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat Juni 2020 in Höhe von EUR 3.455,10 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.07.2020 zu zahlen, abzüglich des durch die Agentur für Arbeit ausgezahlten Betrages für den Monat Juni in Höhe von EUR 375,00.

6. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat Juli 2020 in Höhe von EUR 3.455,10 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.08.2020 zu zahlen, abzüglich des durch die Agentur für Arbeit ausgezahlten Betrages für den Monat Juli in Höhe von EUR 1.407,00.

7. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat August 2020 in Höhe EUR 3.455,10 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.09.2020 zu zahlen, abzüglich des durch die Bundesagentur für Arbeit ausgezahlten Betrages für den Monat August in Höhe von EUR 1.407,00.

8. den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin die monatliche Vergütung für den Monat September 2020 in Höhe EUR 3.455,10 brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.10.2020 zu zahlen, abzüglich des durch die Bundesagentur für Arbeit ausgezahlten Betrages für den Monat September in Höhe von EUR 422,10.

9. den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin ein Zwischenzeugnis zu erteilen;

10. die Widerklage des Beklagten abzuweisen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung wird zurückgewiesen.

Er trägt vor, das Arbeitsgericht habe die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu Recht als begründet erachtet. Die Klägerin sei ausgebildete Pflegefachkraft. Es gehöre zum Handwerkszeug einer Pflegefachkraft, dass im Falle von Infektionskrankheiten (insbesondere bei unbekannten Übertragungswegen) Schutzausrüstungen zu tragen seien.

Die Beweisaufnahme habe ergeben, dass die Klägerin sowohl am 20. als auch am 27. März 2020 angewiesen worden sei, die vollständige Schutzausrüstung zu tragen. Das habe sie am 27. März auch außerhalb der Küche nicht immer getan. Selbst wenn dies – entgegen mehrerer Zeugenaussagen – der Fall gewesen wäre, hätte es das Fehlverhalten der Klägerin nicht entschärft. Denn gerade in der Küche sei die Verpflichtung zum Tragen einer Mund-Nasen-Maske beim Zubereiten von Mahlzeiten für Patienten besonders wichtig. Durch das Austreten von Partikeln aus Mund und Nase könnten diese auf das Essen gelangen und dann in Kontakt mit den Patienten kommen, welche wie die Klägerin gewusst habe, im Falle einer Infektion hochgefährdet gewesen seien. Dementsprechend habe die Anweisung gelautet, die persönliche Schutzausrüstung sowie die Maske durchgängig, auch in der Küche zu tragen.

Eine Abmahnung der Klägerin sei wegen der Wiederholungsgefahr nicht angemessen gewesen. Er habe das weitere Verhalten der Klägerin angesichts des Infektionsrisikos nicht abwarten können.

Der Beklagte macht sich die Aussage des Zeugen V. zu Eigen. Dieser habe die ordnungsgemäße Mitwirkung der Mitarbeitervertretung bestätigt. Die Kündigung sei erst ausgesprochen worden, nachdem die Mitarbeitervertretung zugestimmt habe. Etwaige Mängel in der Beschlussfassung der Mitarbeitervertretung seien ihm nicht zuzurechnen.

(In der Berufungsverhandlung:) Das Telefonat des Generalbevollmächtigten mit dem Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung am 30. März 2020 habe mittags stattgefunden. Um 13:20 Uhr sei ihm (dem Beklagten) ein Beschluss der Mitarbeitervertretung mitgeteilt worden.

Zu den weiteren Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die Schriftsätze der Parteien, die diese in beiden Instanzen gewechselt haben, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die zulässige Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Karlsruhe vom 12. März 2021 (1 Ca 124/20) hat keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat zu Recht die Klage abgewiesen und der Widerklage stattgegeben. Die außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 30. März 2020 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf dieses Tages aufgelöst.

1. Die außerordentliche Kündigung des Beklagten ist nicht nach § 45 Abs. 2 MVG unwirksam.

a) Gemäß § 46 b) MVG hat die Mitarbeitendenvertretung im Falle einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses ein Mitberatungsrecht. In den Fällen der Mitberatung ist der Mitarbeitendenvertretung die beabsichtigte Maßnahme gemäß § 45 Abs. 1 MVG rechtzeitig vor der Durchführung bekanntzugeben und auf Verlangen mit der Mitarbeitendenvertretung zu erörtern. Die Mitarbeitendenvertretung kann innerhalb vorgegebener Fristen zu der beabsichtigten Maßnahme Stellung nehmen. Wird die Mitarbeitendenvertretung nicht gemäß § 45 Abs. 1 MVG beteiligt, ist die Maßnahme gemäß § 45 Abs. 2 MVG unwirksam.

Der Zweck der Mitberatung besteht darin, dass die Mitarbeitendenvertretung die Sichtweise der Mitarbeitenden in die Überlegungen der Dienststelle vor Durchführung der Maßnahme einbringen und ggf. mit der Dienststelle erörtern kann (vgl. Evers-Vosgerau, in: Joussen u.a., MVG-EKD, Kirchengesetz über Mitarbeitervertretungen in der Evangelischen Kirche in Deutschland, 2020, § 45 Rn. 1).

b) Der Beklagte hat das Mitberatungsverfahren nach § 45 Abs. 1 MVG eingehalten, bevor er das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin außerordentlich kündigte. Mit E-Mail des Vorstandsvorsitzenden vom 27. März 2020 gab er dem Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung die beabsichtigte außerordentliche Kündigung bekannt.

aa) Die E-Mail enthielt – wie bereits das Arbeitsgericht erkannt hat – die für das Kündigungsvorhaben wesentlichen Angaben.

Damit die Mitarbeitendenvertretung ihr Mitberatungsrecht ausüben kann, hat der Arbeitgeber sie so über sein Kündigungsvorhaben zu informieren, dass sie sich hiervon ein eigenes Bild machen kann (vgl. Evers-Vosgerau, § 45 Rn. 4). Es gilt der Grundsatz der subjektiven Determination. Der Arbeitgeber muss der Mitarbeitendenvertretung die aus seiner Sicht tragenden Kündigungsgründe mitteilen (vgl. Evers-Vosgerau, a.a.O. – zu § 102 BetrVG: BAG – 06. Oktober 2005 – 2 AZR 280/04, NZA 2006, 431, Rn. 40).

Zu den tragenden Kündigungsgründen gehören grundsätzlich auch die persönlichen Daten der zu kündigenden Arbeitnehmerin, weil diese die abschließende Interessenabwägung beeinflussen und die Mitarbeitendenvertretung in die Lage zu versetzen ist, auch die Interessenabwägung eigenständig einzuschätzen. Von der Mitteilung der genauen Sozialdaten kann nur dann abgesehen werden, wenn es dem Arbeitgeber wegen der Schwere der Kündigungsvorwürfe auf die genauen Daten ersichtlich nicht ankommt und die Mitarbeitendenvertretung die ungefähren Daten kennt und deshalb die Kündigungsabsicht des Arbeitgebers auch ohne nähere Information ausreichend beurteilen kann (vgl. BAG, NZA 2006, 431, Rn. 41).

Die knappen Angaben des Beklagten in der E-Mail seines Vorstandsvorsitzenden vom 27. März 2020 erfüllen diese Voraussetzungen. U.a. dem Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung wurde mitgeteilt, dass das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin außerordentlich gekündigt werden solle, weil diese an diesem Tag Schutzmaske und Kittel abgelegt habe, obwohl sie auf die Einhaltung der Hygieneanweisungen und das Tragen der Schutzmittel umgehend hingewiesen worden sei. Sie habe die angewiesenen Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen vorsätzlich nicht eingehalten. Dass die E-Mail keine Angaben zu den Sozialdaten der Klägerin enthielt, machte die Unterrichtung der Beklagten nicht unvollständig. Dem Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung war die Klägerin bekannt. Er kannte ihre Betriebszugehörigkeit und konnte ihr Alter einschätzen. Dem Beklagten kam es nicht auf die Sozialdaten der Klägerin an. Der Mitarbeitervertretung wurde folglich die beabsichtigte außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses der Parteien mit der E-Mail vom 27. März 2020 im Sinne von § 45 Abs. 1 MVG bekanntgegeben.

bb) Allerdings leitete der Beklagte das Mitberatungsverfahren nach § 45 Abs. 1 MVG mit der E-Mail nicht ein. Das Verfahren wurde dennoch durchgeführt. Es wurde vom Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung eingeleitet.

Die E-Mail vom 27. März 2020 richtete sich an die Bereichsleiterin, nicht an die Mitarbeitervertretung. Sie konzentrierte sich zudem nicht allein auf die beabsichtigte außerordentliche Kündigung, sondern befasste sich im Zusammenhang mit der Coronapandemie mit weiteren zu ergreifenden Maßnahmen. V., der Vorsitzende der Mitarbeitervertretung, wurde vom Vorstandsvorsitzenden lediglich mit anderen Personen ins Cc gesetzt, ohne dass aus irgendwelchen Angaben für ihn zu erkennen gewesen wäre, dass die Zusendung der E-Mail nicht (wie bei den übrigen Cc-Adressaten) lediglich zur Kenntnisnahme, sondern deshalb erfolgte, um das Mitberatungsverfahren einzuleiten. Der Beklagte verweist in diesem Zusammenhang zwar auf Gepflogenheiten, konkretisiert diese allerdings nicht.

Es ist jedoch unschädlich, dass der Beklagte das Mitberatungsverfahren nicht eingeleitet hat. Das Mitberatungsverfahren bleibt auch dann ein Mitberatungsverfahren, wenn es von der Mitarbeitendenvertretung begonnen wird. Es erfüllt seinen Zweck unabhängig davon, wer zu dem Verfahren die Iniative ergreift.

Nach Kenntnisnahme der E-Mail vom 27. März 2020 ergriff V. als Vorsitzender der Mitarbeitervertretung die Initiative und leitete das Mitberatungsverfahren ein. Die Mitarbeitervertretung nahm von sich aus die Gelegenheit wahr, im Sinne des § 45 Abs. 1 MVG zur Kündigungsabsicht des Beklagten Stellung zu nehmen. Das Mitberatungsverfahren wurde ordnungsgemäß durchgeführt. Es schloss mit der Mitteilung des Vorsitzenden der Mitarbeitervertretung am Abend des 28. März ab, die Mitarbeitervertretung habe der Kündigung einstimmig zugestimmt.

c) Ob der Mitteilung des Vorsitzenden ein im Sinne des Mitarbeitendenvertretungsgesetzes – Baden wirksamer Beschluss des Gremiums vorausging, ist für die Beurteilung des Mitberatungsverfahrens unerheblich. Etwaige Fehler der Mitarbeitervertretung bei der Beschlussfassung können dem Beklagten nicht zugerechnet werden. Er trägt für die Beschlussfassung der Mitarbeitervertretung keine Verantwortung (vgl. BAG – 22. November 2012 – 2 AZR 732/11, NZA 2013, 665, Rn. 43).

Vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung des Beklagten vom 30. März 2020 wurde das Mitberatungsverfahren gemäß § 45 Abs. 1 MVG ordnungsgemäß durchgeführt. Die außerordentliche Kündigung ist nicht nach § 45 Abs. 2 MVG unwirksam.

2. Die außerordentliche Kündigung des Beklagten ist auch nicht aus materiellrechtlichen Gründen unwirksam. Sie erfüllt die Voraussetzungen, die § 626 Abs. 1 BGB an eine außerordentliche Kündigung stellt. Dem Beklagten war es bei Berücksichtigung aller Umstände und der beiderseitigen Interessen unzumutbar, das Arbeitsverhältnis der Parteien bis zum Ablauf der vertraglichen Kündigungsfrist von vier Monaten zum Quartalsende (§ 30 Abs. 1 AVR Diakonie i.V. mit § 2 Arbeitsvertrag) aufrechtzuerhalten.

a) Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich gekündigt werden, wenn es dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände und bei Abwägung der beiderseitigen Interessen nicht zumutbar ist, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist aufrechtzuerhalten.

Diese Kündigungsvoraussetzungen sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in zwei Schritten zu prüfen. Zunächst ist festzustellen, ob der Kündigungssachverhalt ohne seine Besonderheiten „an sich“, d.h. typischerweise geeignet ist, als wichtiger Grund die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu begründen. Kann dies bejaht werden, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob dem Kündigenden bei Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls und der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann (vgl. BAG – 10. Juni 2010 – 2 AZR 541/09, NZA 2010, 1227, Rn. 16; 25. Oktober 2012 – 2 AZR 495/11, NZA 2013, 319, Rn. 14).

b) Die Klägerin verletzte am 27. März 2020 ihre arbeitsvertraglichen Pflichten, als sie sich trotz wiederholter Weisungen ihrer Vorgesetzten weigerte, in der Küche die vollständige persönliche Schutzausrüstung einschließlich des Mund-Nasen-Schutzes anzuziehen. Die Klägerin hat nicht bestritten, eine derartige Weisung vom Pflegedienstleiter erhalten zu haben, und dennoch später, als sie von der Bereichsleiterin angesprochen wurde, immer noch nicht die vollständige persönliche Schutzausrüstung übergezogen zu haben.

Der Pflegedienstleiter hatte die Klägerin zweimal vergeblich angesprochen, die persönliche Schutzausrüstung anzuziehen. Dazwischen lagen etwa zehn Minuten, in denen er sich darum kümmern musste, dass sich die gerufenen Sanitäter weigerten, den an Covid 19 erkrankten Heimbewohner mitzunehmen. Nach der zweiten vergeblichen Aufforderung bat der Pflegedienstleiter die Bereichsleiterin, mit der Klägerin zu reden. Auch diese hatte keinen Erfolg.

Dieser vom Arbeitsgericht festgestellte Sachverhalt ergibt sich aus den Aussagen des Pflegedienstleiters und der Bereichsleiterin, die sich der Beklagte zu Eigen machte und die von der Klägerin insoweit nicht in Abrede gestellt wurden.

Als Arbeitnehmerin war die Klägerin auch in der Pause verpflichtet, die Verhaltensanweisungen ihrer Vorgesetzten zu befolgen (§ 106 GewO). Zudem war sie verpflichtet, auf die berechtigten Interessen des Beklagten Rücksicht zu nehmen (§ 241 Abs. 2 BGB). Sie wusste, dass die Verhaltensanweisungen auf der Verpflichtung des Beklagten beruhten, die Gesundheit der Heimbewohner zu schützen. Der Einwand der Klägerin, sie habe gerade ein Warmgetränk zu sich genommen, ist unerheblich. Das Trinken einer Tasse Kaffee oder Tee hinderte die Klägerin nicht, ihre persönliche Schutzausrüstung einschließlich des Mund-Nasen-Schutzes innerhalb von etwa zehn Minuten anzuziehen.

c) Das skizzierte Geschehen am 27. März 2020 kann der vorliegenden Entscheidung zu Grunde gelegt werden, obwohl es der Mitarbeitervertretung in der E-Mail des Vorstandsvorsitzenden vom 27. März so nicht mitgeteilt wurde.

aa) Zur Anhörung des Betriebsrats vor Ausspruch einer Kündigung nach § 102 Abs. 1 BetrVG hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass ein Nachschieben von Kündigungsgründen, die dem Arbeitgeber bei Ausspruch der Kündigung bereits bekannt waren, von denen er den Betriebsrat aber keine Mitteilung gemacht hat, unzulässig ist. Derartige „neue“ Kündigungsgründe könnten im Kündigungsschutzverfahren nicht berücksichtigt werden. Denn dem Betriebsrat solle mit der Anhörung Gelegenheit gegeben werden, im Vorfeld auf den Kündigungsentschluss des Arbeitgebers im Hinblick auf die diesem bekannten und deshalb seine Absicht beeinflussenden Umstände einzuwirken. Es würde dem Zweck des Anhörungsverfahrens widersprechen, könnte sich der Arbeitgeber im Kündigungsschutzverfahren auf „neue“ Gründe berufen, die ihm bereits vor Ausspruch der Kündigung bekannt gewesen seien und die deshalb seine Kündigungsentscheidung möglicherweise mitbeeinflusst hätten, zu denen aber der Betriebsrat mangels Information nicht habe Stellung nehmen können (vgl. BAG – 18. Juni 2015 – 2 AZR 256/14, NZA 2016, 287, Rn.47). Dieser Grundsatz gilt auch für das Mitberatungsverfahren nach § 45 Abs. 1 MVG. Denn das Mitberatungsverfahren verfolgt den gleichen Zweck wie das Anhörungsverfahren nach § 102 Abs. 1 BetrVG.

bb) Das Geschehen am 27. März 2020, die zweimalige Weisung des Pflegedienstleiters und die letzte vergebliche Aufforderung der Bereichsleiterin, stellt jedoch keinen „neuen“ Kündigungsgrund dar, auf den sich der Beklagte nicht berufen könnte. Es wird kein neuer, der Mitarbeitervertretung unbekannter Kündigungssachverhalt vorgetragen. Vielmehr wird der Sachverhalt, über den die Mitarbeitervertretung informiert wurde, vorsätzliche Nichteinhaltung der angewiesenen Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen trotz Hinweises auf die Einhaltung von Hygieneanweisungen und das Tragen der Schutzmittel, lediglich ergänzt. Das ist im Kündigungsschutzverfahren möglich (vgl. Fitting u.a., Betriebsverfassungsgesetz, 30. Aufl. 2020, § 102 Rn. 41 m.w.N.).

d) Die Pflichtverletzung der Klägerin am 27. März 2020 war schwerwiegend. Sie stellt an sich einen wichtigen Grund dar, das Arbeitsverhältnis außerordentlich zu kündigen. Die Klägerin kam vorsätzlich Maßnahmen nicht nach, die dem Schutz von Leib und Leben der durch das Corona-Virus besonders gefährdeten Heimbewohner und –bewohnerinnen dienten. Die Pflichtverletzung der Klägerin wird nicht dadurch abgeschwächt, dass die genauen Übertragungswege Ende März 2020 noch nicht mit letzter Sicherheit ermittelt waren. Gerade in der damit unsicheren, aber gefährlichen Situation war es in besonderem Maße geboten, alle angewiesenen Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten. Ebenso wenig mindert der Umstand, dass sich die Klägerin nach ihrem Vortrag in der Pause befand, ihre Pflichtverletzung und Verantwortung. Unabhängig von der Frage der Essenszubereitung war die Küche des Wohnbereichs allgemein zugänglich. Die zu minimierende Infektionsgefahr bestand erkennbar unabhängig von Pausenzeiten.

e) Bei der Prüfung der Frage, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmerin trotz erheblicher Pflichtverletzung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zugemutet werden kann, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse der Arbeitnehmerin an einer regulären Beendigung abzuwägen. Es hat eine Beurteilung des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Wichtiger Aspekte sind dabei das Gewicht und die Auswirkungen der in Frage stehenden Vertragspflichtverletzungen, der Grad des Verschuldens der Arbeitnehmerin, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Die außerordentliche Kündigung ist ausgeschlossen, wenn dem Arbeitgeber andere zumutbare weniger einschneidende Handlungsmöglichkeiten wie eine Abmahnung zur Verfügung stehen, um die eingetretene Vertragsstörung zu beseitigen (vgl. BAG, NZA 2010, 1227, Rn. 34; NZA 2013, 319, Rn. 15).

f) Die außerordentliche Kündigung des Beklagten war nicht deshalb von vornherein unverhältnismäßig, weil der Beklagte die Klägerin ungeachtet der beiderseitigen Interessen zunächst hätte abmahnen müssen.

aa) Die Arbeitnehmerin, die auf Grund eines steuerbaren Verhaltens ihre arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt, ist grundsätzlich vor Ausspruch einer Kündigung abzumahnen. Das gilt auch dann, wenn die Vertragsverletzung der Arbeitnehmerin das Vertrauen des Arbeitgebers in ihre Person beeinträchtigt, soweit mit der Wiederherstellung des Vertrauens gerechnet werden kann (vgl. BAG – 04. Juni 1997 – 2 AZR 526/96, DB 1997, 2386 (2387)). Einer Abmahnung bedarf es demnach nicht, wenn eine Verhaltensänderung in der Zukunft selbst nach einer Abmahnung nicht zu erwarten ist oder wenn es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass die Arbeitnehmerin erkennen konnte, der Arbeitgeber werde diese nicht hinnehmen und das Arbeitsverhältnis beenden (vgl. BAG, NZA 2010, 1227, Rn. 37).

bb) Eine Abmahnung der Klägerin war entbehrlich. Ihre Pflichtverletzung war derart schwerwiegend, dass sie nicht damit rechnen konnte, der Beklagte werde in der angespannten und gefährlichen Situation der sich vor Ort ausbreitenden Corona-Pandemie das Verhalten einer Pflegefachkraft hinnehmen, angewiesene Schutzmaßnahmen nicht umzusetzen. Es war für die Klägerin auch ohne eine Abmahnung erkennbar, dass sie mit der Weigerung, die persönliche Schutzausrüstung einschließlich des Mund-Nasen-Schutzes umgehend anzulegen, den Bestand ihres Arbeitsverhältnisses in Frage stellte.

g) Auch bei Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen bestand für den Beklagten ein wichtiger Grund, das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich zu kündigen. Sein Interesse an einer sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses überwog das Interesse der Klägerin an dessen fristgemäßer Beendigung zum 30. September 2020.

aa) Das Alter der Klägerin ist für die Interessenabwägung von untergeordneter Bedeutung. Wie bereits das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt hat, besteht auf dem Arbeitsmarkt ein hoher Bedarf an Pflegefachkräften. Es konnte daher zum Kündigungszeitpunkt prognostiziert werden, dass das fortgeschrittene Alter der Klägerin sich nicht nachteilig auf ihre Arbeitssuche auswirken würde.

Die Klägerin hatte aber auf der Grundlage einer 11,5 jährigen Betriebszugehörigkeit (einschileßlich des Ausbildungszeitraums) ein erhebliches Interesse an der Einhaltung der Kündigungsfrist. Nach 11,5 Jahren Betriebstreue konnte sie vom Beklagten grundsätzlich ein gewisses Maß an Rücksichtnahme verlangen, dass es ihr auch im Konfliktfall durch Einhaltung der Kündigungsfrist ermöglichte, nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine nahtlose Weiterbeschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber zu finden.

bb) Dieses berechtigte Interesse der Klägerin trat aber hinter das Interesse des Beklagten an einer sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses zurück. Die Klägerin hatte vorsätzlich weisungswidrig gesundheits- und lebenserhaltende Schutzmaßnahmen nicht eingehalten. Damit hatte sie den Beklagten angesichts der Situation am 27. März 2020 mit einem infizierten Heimbewohner, einem Verdachtsfall und einer dynamischen Entwicklung unter Zugzwang gesetzt. Der Beklagte musste schnell und eindeutig reagieren. Er musste sicherstellen, dass im Heim alle Vorsichtsmaßnahmen zuverlässig eingehalten wurden, um nach Möglichkeit weitere Infektionen von Heimbewohnern mit dem für sie lebensbedrohlichen Corona-Virus zu verhindern.

Das konnte der Beklagte bei einer halbjährigen Weiterbeschäftigung der Klägerin nicht gewährleisten. Die Klägerin hatte trotz klarer Weisungen in Kenntnis der Gefährlichkeit einer Corona-Infektion für die Heimbewohner und –bewohnerinnen eine Ausnahme für sich gesehen. Der Beklagte konnte sich nicht mehr auf sie verlassen. Er konnte nicht ausschließen, dass die Klägerin bei einer halbjährigen Weiterbeschäftigung erneut die (beschwerlichen) Hygiene- und Schutzmaßnahmen unterlaufen würde. Zudem zwang das Verhalten der Klägerin den Beklagten, mit der außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses auch gegenüber den übrigen Beschäftigten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass er eigenmächtige Ausnahmen von den angewiesenen Hygiene- und Schutzmaßnahmen nicht dulde.

Das Interesse des Beklagten an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses, um so einen zuverlässigen bestmöglichen Schutz der Heimbewohner zu gewährleisten, überwog das Interesse der Klägerin an einer fristgemäßen Beendigung des Arbeitsverhältnisses und damit an einer möglichst nahtlosen Weiterbeschäftigung an anderer Stelle. Die außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 30. März 2020 erfüllt die Voraussetzungen des § 626 Abs. 1 BGB. Dem Beklagten war es angesichts des Verhaltens der Klägerin nicht zumutbar, das gemeinsame Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist aufrechtzuerhalten.

Die außerordentliche Kündigung des Beklagten hat das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Ablauf des 30. März 2020 aufgelöst. Das Arbeitsgericht hat den hiergegen gerichteten Kündigungsschutzantrag zu Recht abgewiesen.

3. Die Berufungsanträge Ziff. 2 bis 9 fallen nicht zur Entscheidung an. Sie wurden nur für den Fall gestellt, dass die Klägerin mit dem Kündigungsschutzantrag Erfolg habe. Die Anträge setzen jeweils voraus, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien über den 30. März 2020 fortbestand.

4. Soweit die Klägerin mit der Berufung angreift, dass das Arbeitsgericht der Widerklage stattgegeben hat, hat die Berufung ebenfalls keinen Erfolg. Die Widerklage ist zulässig. Der Beklagte hat, wenn auch erst in der Berufungsverhandlung, den Gegenstand der Widerklage, Rückforderung der Überzahlung für den 31. März 2020, hinreichend im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO bestimmt.

Die Widerklage ist auch begründet. Die Klägerin hat weder bestritten, die Vergütung für den 31. März 2020 erhalten zu haben noch die Höhe der Forderung in Frage gestellt. Sie ist gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 BGB verpflichtet, dem Beklagten den überzahlten Betrag in Höhe von 36,77 Euro nebst Zinsen zurückzuzahlen. Das Arbeitsgericht hat der Widerklage im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Die Berufung der Klägerin ist insgesamt zurückzuweisen.

II.

1. Die Klägerin hat entsprechend § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, weil ihre Berufung ohne Erfolg geblieben ist.

2. Die Revision ist gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zuzulassen. Sowohl die Frage, ob die Mitarbeitervertretung das Mitberatungsverfahren nach § 45 Abs. 1 MVG eigenständig rechtswirksam einleiten kann, als auch die Frage, ob das Arbeitsverhältnis während der Corona-Pandemie bei weisungswidrigem Nichttragen der persönlichen Schutzausrüstung ohne vorangegangene Abmahnung außerordentlich gekündigt werden kann, sind von grundsätzlicher Bedeutung.

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