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Krankheitsbedingte Kündigung – BEM

Betriebliches Eingliederungsmanagement: Ein Hebel gegen krankheitsbedingte Kündigung?

Im Arbeitsrecht werden häufig Fragen rund um die Themen Kündigung und insbesondere krankheitsbedingte Kündigung diskutiert. Ein wichtiger Aspekt betrifft die soziale Rechtfertigung einer Kündigung und die Rolle, die Unterhaltspflichten und Betriebsratsanhörungen dabei spielen. Zudem spielt das betriebliche Eingliederungsmanagement eine entscheidende Rolle im Kontext der Kündigung bei Krankheit. Diese Thematik wirft zentrale rechtliche Fragen auf und beleuchtet die Spannung zwischen Arbeitgeberinteressen und Arbeitnehmerschutz in der Arbeitswelt.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 4 Ca 6774/19   >>>

Das Wichtigste in Kürze


Das Urteil hebt hervor, dass eine krankheitsbedingte Kündigung vom Gericht als unrechtmäßig angesehen werden kann, wenn der Arbeitgeber seinen Pflichten im Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) nicht nachkommt und/oder wichtige Angaben, wie die Anzahl der unterhaltsberechtigten Kinder, fehlerhaft mitteilt.

Zentrale Punkte des Urteils:

  1. Das Gericht entschied, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses der betroffenen Zustellerin durch den Arbeitgeber aufgrund von Krankheit nicht gültig ist.
  2. Der Betriebsrat wurde vom Arbeitgeber fehlerhaft über die Anzahl der unterhaltsberechtigten Kinder der Mitarbeiterin informiert, was zu einer fehlerhaften Betriebsratsanhörung und daher zur Unwirksamkeit der Kündigung führte.
  3. Die Zulässigkeit einer krankheitsbedingten Kündigung hängt von mehreren Faktoren ab, einschließlich der Berechtigung der Prognose zukünftiger Erkrankungen und dem Ausmaß der daraus resultierenden Beeinträchtigungen der betrieblichen Interessen.
  4. Es wurde betont, dass mildere Mittel als die Kündigung berücksichtigt werden sollten, wenn diese zur Verfügung stehen, wie die Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder der Einsatz auf einer anderen Position.
  5. Das Urteil stellte fest, dass bei erfolgreichem betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet ist, die resultierenden Empfehlungen umzusetzen.
  6. Im Fall wurde festgestellt, dass eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes möglich und zumutbar war, insbesondere die Versetzung der Klägerin in einen Zustellbezirk mit einem E-Trike.
  7. Die Klägerin wird aufgrund des unzulässigen Kündigungsschutzes bezüglich der Weiterbeschäftigung bis zum Abschluss des Verfahrens unterstützt.
  8. Die Kosten des Verfahrens wurden der Beklagten als der unterliegenden Partei zugesprochen.

Die Gesichter der arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung in Stuttgart

Das Rechtssystem wurde jüngst durch eine arbeitsrechtliche Auseinandersetzung in Stuttgart beschäftigt. Eine Zustellerin, die seit 1999 bei der beklagten Firma arbeitete, erhielt am 23.10.2019 eine krankheitsbedingte Kündigung. Die Kündigung wurde vor dem Arbeitsgericht Stuttgart angefochten – und stellte hier das Kernproblem dar.

Die Geschichte hinter den Kulissen und der Weg zur arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung

Die Hintergrundgeschichte dieses Falls beginnt mit der wiederholten Erkrankung der Klägerin. Übereinkünfte und ärztliche Untersuchungen hatten nahegelegt, dass die Zustellerin nach einer Wiedereingliederung mit einem elektrischen Dreirad, dem sogenannten E-Trike, ausgestattet werden sollte. Dies konnte jedoch seitens des Arbeitgebers nicht realisiert werden. Als im Oktober 2019 eine Kündigung erfolgte, erfolgte dies aufgrund des Umstandes, dass die Klägerin nicht gesundheitlich in der Lage sei, ihren arbeitsvertraglichen Verpflichtungen nachzukommen.

Die komplexe juristische Frage der Informationspflicht gegenüber dem Betriebsrat

Die rechtliche Herausforderung dieses Falles lag in der Frage, ob die Kündigung rechtens war oder nicht. Hier kommen mehrere Aspekte ins Spiel. Einerseits wurde überprüft, ob der Betriebsrat ordnungsgemäß über die Kündigungsabsicht informiert wurde – ein Prozess, der nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG Pflicht ist. Bei der krankheitsbedingten Kündigung gelten strenge Auflagen in der Informationspflicht gegenüber dem Betriebsrat, die in diesem Fall nicht eingehalten wurden.

Der dreistufige Prozess zur Beurteilung der sozialen Rechtfertigung der Kündigung

Anschließend untersuchte das Gericht die soziale Rechtfertigung der Kündigung. Relevant ist hier, ob die Klägerin aufgrund ihrer gesundheitlichen Verfassung dauerhaft nicht mehr zu arbeitsvertraglichen Leistungen in der Lage war und keine Alternative zur Kündigung existierte.

Das Gericht entschied, dass die Kündigung nicht rechtmäßig war. So hat die beklagte Partei dem Betriebsrat fehlerhafte Informationen zu den Unterhaltspflichten der Klägerin gegeben. Die Klägerin hat zwei unterhaltsberechtigte Kinder, während in den Informationen nur ein Kind angegeben war. Dies war der Beklagten jedoch bekannt, sodass die Informationspflicht verletzt wurde.

Des Weiteren war die Kündigung nicht sozial gerechtfertigt. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement hatte stattgefunden, bei dem festgestellt wurde, dass die Klägerin durch eine Umstellung auf einen E-Trike-Zustellbereich weiterarbeiten könnte. Die Unfähigkeit der Arbeitnehmerin, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, war somit nicht gegeben, sodass eine Kündigung nicht gerechtfertigt war.

Die Entscheidung des Gerichts erging zu Gunsten der Klägerin. Die Kündigung wurde als unrechtmäßig erklärt, und die Beklagte wurde verpflichtet, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens weiterhin als Zustellerin zu beschäftigen.

Wichtige Lehren für Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus dieser Auseinandersetzung

Dieser Fall ist besonders relevant für Unternehmen und Arbeitnehmer gleichermaßen. Es verdeutlicht die Wichtigkeit von richtiger Informationsübermittlung und korrekten Prozessen. Besonders bei krankheitsbedingten Kündigungen muss sorgfältig geprüft werden, ob eine Kündigung sozial gerechtfertigt ist sowie ob der Arbeitgeber seinen due Diligence Anforderungen nachgekommen ist.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Welche Anforderungen muss die Betriebsratsanhörung bei einer krankheitsbedingten Kündigung erfüllen?

Die Anforderungen an die Betriebsratsanhörung bei einer krankheitsbedingten Kündigung sind in Deutschland gesetzlich geregelt und müssen sorgfältig beachtet werden, um die Rechtmäßigkeit der Kündigung zu gewährleisten.

Zunächst muss der Arbeitgeber dem Betriebsrat (BR) die Fehlzeiten des Arbeitnehmers in der Vergangenheit benennen und – soweit bekannt – auch die Art/en der Erkrankung/en mitteilen. Waren Arbeitsunfälle für krankheitsbedingte Fehlzeiten ursächlich, ist der BR auch hiervon in Kenntnis zu setzen, es sei denn, diese sind für das Gesamtbild ohne Bedeutung. Ferner sind dem BR die aus den Fehlzeiten folgenden wirtschaftlichen Belastungen oder Beeinträchtigungen des Betriebsablaufs darzulegen. Dabei genügt nach der Rechtsprechung die Information über die jeweilige Krankheitsdauer in Kalendertagen, da daraus die Anzahl der ausgefallenen Arbeitstage ersichtlich ist und die Nennung der Entgeltfortzahlungskosten ohne nähere Aufschlüsselung; erforderlich und ausreichend ist eine Mitteilung der durchschnittlichen monatlichen Bruttovergütung oder der Lohngruppe des betroffenen Arbeitnehmers.

Darüber hinaus muss der Arbeitgeber den Grad der krankheitsbedingten Leistungsminderung gegenüber dem BR darstellen, da sich hieraus die betriebliche Beeinträchtigung in Form der Störung des Äquivalenzverhältnisses ableiten lässt.

Allgemeine Voraussetzungen der Betriebsratsanhörung bei Kündigung sind unter anderem die Angabe von Vorname, Name, Geburtsdatum, Geschlecht des Arbeitnehmers und die Stelle im Betrieb. Zudem muss der Arbeitgeber den Grund und die Umstände für die Kündigung darlegen.

Eine ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung ist für die Wirksamkeit einer Kündigung essentiell. Bereits kleine Fehler in der Anhörung können zur Unzulässigkeit der Kündigung führen.

Es ist auch zu beachten, dass eine Kündigung unwirksam ist, wenn sie ohne hinreichende Anhörung des Betriebsrats ausgesprochen wird.

Schließlich ist es wichtig zu wissen, dass die Anhörung des Betriebsrats vor der Kündigung zwingendes Recht ist und nicht vertraglich abbedungen werden kann. Ist die Kündigung wirksam, wenn der Betriebsrat vorher nicht angehört wurde? Nein, die Kündigung ist dann definitiv unwirksam. Die Anhörung des Betriebsrats ist zwingende Voraussetzung bei einer Kündigung. Unterbleibt die Anhörung ganz oder erfolgt sie erst nach Ausspruch der Kündigung, bleibt es bei der Unwirksamkeit, auch wenn die Kündigung ansonsten gute Gründe hatte.


Das vorliegende Urteil

Arbeitsgericht Stuttgart – Az.: 4 Ca 6774/19 – Urteil vom 12.02.2020

In der Rechtssache hat das Arbeitsgericht Stuttgart – 4. Kammer – auf die mündliche Verhandlung vom 12.02.2020 für Recht erkannt:

1.           Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 23.10.2019 nicht beendet werden wird.

Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Zustellerin weiterzubeschäftigen.

3.           Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

4.           Der Streitwert wird auf 13.964,00 EUR festgesetzt.

5.           Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung.

Die am geborene, ledige und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtete Klägerin ist seit dern 19.01.1999 bei der Beklagten als Postzustellerin beschäftigt. Zuletzt bezog sie ein durchschnittliches monatliches Bruttoentgelt von 3.49100 EUR. Die Beklagte beschäftigt in dem Betrieb, in dem die Klägerin eingesetzt ist, regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer.

In den ,Jahren 2016 bis einschließlich Oktober 2019 war die Klägerin an knapp 450 Arbeitstagen in 21 Krankheitszeiträumen arbeitsunfähig erkrankt (vgl. die Aufstellung BI. 28 der Akte). Der Beklagten entstanden hierdurch Entgeltfortzahlungskosten in Höhe von knapp 38.000,00 EUR (siehe BI. 30 der Akte).

Mit der Klägerin wurden in den Jahren 2016 bis 2019 SEM-Gespräche am 22.04.2016, 06.10.20-16, 10.11.2016, 01.03.2018 und 01.04.2019 geführt.

Bereits im SEM-Gespräch am 22.04.2016 war vereinbart worden, dass die Klägerin nach einer Wiedereingliederung in einem Zustellbezirk mit einem E-Trike eingesetzt wird. Auch in der darauffolgenden postbetriebsärztlichen Untersuchung am 01.06.2016 wurde festgestellt, dass aus arbeitsmedizinischer Sicht der Einsatz in einem Fahrradbezirk mit einem E-Trike empfehlenswert sei. In der Folgezeit konnte der Klägerin jedoch kein E-Trike zur Verfügung gestellt werden.

Eine weitere postbetriebsärztliche Untersuchung erfolgte am 08.05.2018. Die Empfehlung des Postbetriebsarztes lautete: Die Eignung in der Fuß- und Fahrradzustellung sei gegeben. Die Art des Fahrrades sei individuell zu entscheiden, da die Klägerin sowohl E-Trike als auch E-Bike geeigneit sei. Gegen die Verbundzustellung bestünden Bedenken, weil die Klägerin damit an ihre körpHrlichen Leistungsgrenzen käme.

Im Protokoll des letzten SEM-Gesprächs am 01.04.2019 ist u.a. Folgendes festgehalten:

„Frau wurde aufgrund des letzten Gesprächs überwiegend im Bmirk 62 eingesetzt, in dem sie auch unbedingt bleiben möchte.

Vor zwei Wochen wurde in ihrem Bezirk das neue Arbeitszeitmodel/ eingeführt, was zu Entlastung führt.

Bei Frau stehen jetzt aktuell zwei OPs an. Nach Arbeitsaufnahme nach diesen OPs erwarten wir eine deutliche Reduzierung der Ausfallzeiten (Test für 6 Monate, ob neues Arbeitszeitmodell Verbesserung bringt). Wenn keine deutliche Besserung eintritt wird Frau in einen Briefzustellbezirk mit E-Bike oder E-Trike umgesetzt. Sie wird dafür dann in einen anderen ZSP umgesetzt.“

Nach dern SEM-Gespräch am 01.04.2019 war die Klägerin bis zum 19.10.2019 an insgesamt 84 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt. Die Erkrankungen im Jahr 2019 betrafen (größtenteils) die Körperbereiche Füße, Knöchel sowie Knie.

Der im Betrieb der Beklagten gebildete Betriebsrat wurde mit Anhörungsschreiben der Beklagten vom 16.10.2019 über die Erkrankungssituation der Klägerin und die beabsichtigte ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses informiert. In dem Anhörungsschreiben heißt es (BI. 39 der Akte):

,,Familienstand: ledig, unterhaltsberechtigte Kinder: ein“

In den von der Beklagten der Klägerin übersandten Lohnabrechnungen ist unter anderem folgender Lohnposten aufgeführt (vgl. die Abrechnung 10/2019, BI. 90 der Akte):

„Besitzstand LohnNergüt. darin berücksichtigt Sozialzuschlag für 2

Kinder“

Der Betriebsrat widersprach der Kündigung mit Schreiben vom 21.10.2019. Das Widerspruchsschreiben lautet auszugsweise wie folgt (BI. 43 der Akte):

„Die Vereinbarung des letzten BEM-Gesprächs, Einsatz mit E-Bike oder E-Trike, wurde von der Einsatzstelle nicht umgesetzt.“

Das Arbeitswerhältnis wurde von der Beklagten mit Schreiben vom 23.10.2019, das der Klägerin am 24.10.2019 zugestellt worden ist, zum 30.04.2020 ordentlich gekündigt.

Die KWgerin hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei bereits aufgrund fehlerhafter Betriebsratsanhörung unwirksam. Mit Blick auf die SEM-Verfahren bestünden zudem

Bedenken. Insbesondere sei der Empfehlung des Einsatzes in einem E-Trike-Zustellbezirk wiederholt nicht nachgekommen worden. Es sei auch nicht im Ansatz erkennbar, wieso die Beklagte von einer negativen Gesundheitsprognose ausgehe. Sämtliche Krankheiten seien ausgeheüt. Die Klägerin habe nunmehr- nach langer Fehlbehandlung – eine ambulante Reha erfolgreich absolviert. Künftige Beeinträchtigungen seien nicht zu befürchten.

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,

1.           Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 23.10.2019 nicht beendet wird.

2.           Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1. wird die Beklagte verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Zustellerin weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, die Klägerin sei deutlich erkennbar gesundheitlich auf Dauer nicht mehr in der Lage, ihre arbeitsvertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen. Es überwiege das Interesse der Beklagten an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch eine ordentliche Kündigung. Die Klägerin sei extrem anfällig für Erkrankungen im Bereich des Bewegungsapparates. Ihre Tätigkeit bei der Beklagten stelle eine erhöhte Belastung für den Bewegungsapparat dar, weil die Klägerin im Rahmen der Zustellung von Sendungen ständig ihren Bewegungsapparat in erhöhtem Maße beanspruche und belaste. Die Klägerin sei als alleinerziehende Mutter von zwei Kindern bis zuletzt auf ihren Wunsch hin in dem Verbundbezirk, in dem sich ihre Wohnung befinde, eingesetzt worden. Die Betriebsratsanhörung sei ordnungsgemäß erfolgt, auch wenn versehentlich die falsche Kinderzahl angegeben sei. In dem Anhörungsschreiben vom 16.10.2019 sei der der Kündigung zugrundeliegende Sachverhalt jedenfalls ausführlich geschildert worden.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst deren Anlagen sowie die Sitzungsniederschriften verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die zulässige Klage ist vollumfänglich begründet.

1.           Die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 23.10.2019 wird das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht mit Wirkung zum 30.04.2020 auflösen. Die Kündigung ist bereits nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG wegen fehlerhafter Betriebsratsanhörung unwirksam. Zudem ist die Kündigung nicht sozial gerechtfertigt im Sinne von § 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 KSchG und auch daher unwirksam.

a)           Die Kündigung ist bereits nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG unwirksam, weil die Beklagte in der Betriebsratsanhörung eine objektiv unrichtige Anzahl an Unterhaltspflichten angegeben hat, obwohl ihr die korrekten Daten bekannt waren.

aa) Nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG muss der Arbeitgeber dem Betriebsrat grundsätzlich diejenigen Gründe mitteilen, die nach seiner subjektiven Sicht die Kündigung rechtfertigen und für seinen Kündigungsentschluss maßgebend sind (subjektive Determinierung). Diesen Kündigungssachverhalt muss er in der Regel unter Angabe von Tatsachen, aus denen der Kündigungsentschluss hergeleitet wird, so beschreiben, dass der Betriebsrat ohne zusätzliche eigene Nachforschungen die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe prüfen kann (BAG 17.01.2008- 2 AZR 405/06- Rn. 25).

Bei einer krankheitsbedingten Kündigung sind im Rahmen der Interessenabwägung die Unterhaltspflichten des Arbeitnehmers von den Gerichten (und damit auch vom Arbeitgeber) stets zu berücksichtigen. Ist die danach eigentlich erforderliche Mitteilung der Unterhaltsverpflichtungen unterblieben oder unrichtig erfolgt, kann sich der Betriebsrat von dem Kündigungsgrund nicht das erforderliche „Bild“ machen, die Kündigung ist nach § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG unwirksam (LAG Berlin-Brandenburg 09.12.2009 – 15 Sa 1769/09 – Rn. 23). Der Grundsatz der subjektiven Determinierung ist insoweit eingeschränkt. Allerdings ist der Arbeitgeber nur zur Angabe der ihm bekannten Daten verpflichtet, eine weitergehende Nachforschungspflicht hat er nicht. Die Anhörung ist daher nicht unwirksam, wenn der Arbeitgeber seine Kündigungsabsicht für den Betriebsrat erkennbar auf die (objektiv unrichtigen) Angaben etwa in der Lohnsteuerkarte stützt und er diesem die dort enthaltenen Angaben mitteilt (zum Ganzen APS/Koch, 5. Aufl. 2017, BetrVG § 102 Rn. 94 mwN).

bb) Diesen Anforderungen wird die Unterrichtung des Betriebsrats im vorliegenden Fall nicht gerecht. Die Beklagte hat die Unterhaltspflichten der Klägerin falsch angegeben, obwohl ihr die richtige Kinderzahl bekannt war.

Unstreitig hat die Klägerin zwei unterhaltsberechtigte Kinder. Nachdem die Beklagte im Schriftsatz vom 23.12.2019 noch behauptet hatte, nach ihren Informationen habe die Klägerin ein Kind, hat sie bereits im Schriftsatz vom 07.02.2020 ausgeführt, die Klägerin sei alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. In der Kammerverhandlung am 12.02.2020 hat die Beklagtenvertreterin ebenfalls eingeräumt, sie gehe von zwei unterhaltsberechtigten Kindern aus, die Angabe in der Betriebsratsanhörung sei ein Versehen.

Es ist zudem von der Beklagten nicht vorgetragen – und aus den Akten auch ansonsten nicht ersichtlich -, dass die Beklagte sich auf unrichtige Angaben etwa in der Lohnsteuerkarte oder gar auf falsche Angaben der Klägerin selbst gestützt hätte. Im Gegenteil zeigt die Angabe in den Lohnabrechnungen „Sozialzuschlag für 2 Kinder“, dass der Beklagten die tatsächliche Kinderzahl der Klägerin bekannt war.

Unter diesen Umständen bewirkt die unrichtige Angabe der Anzahl der Unterhaltspflichten die Fehlerhaftigkeit der Betriebsratsanhörung und damit die Unwirksamkeit der Kündigung.

b)          Die Kündigung ist zudem nicht sozial gerechtfertigt im Sinne von § 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 KSchG.

aa) Das Kündigungsschutzgesetz findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung. Die Klägerin ist länger als sechs Monate bei der Beklagten tätig (§ 1 Abs. 1 KSchG), bei der Beklagten sind in der Regel mehr als zehn vollzeittätige Arbeitnehmer iSd. § 23 Abs. 1 Satz 3 iVm. Satz 4 KSchG beschäftigt.

bb) Die Kündigung ist nicht aus krankheitsbedingten Gründen sozial gerechtfertigt.

Eine mit häufigen (Kurz-)Erkrankungen des Arbeitnehmers begründete Kündigung ist sozial nur gerechtfertigt, wenn im Kündigungszeitpunkt Tatsachen vorliegen, die die Prognose stützen, es werde auch künftig zu Erkrankungen im bisherigen – erheblichen – Umfang kommen – erste Stufe. Die prognostizierten Fehlzeiten müssen außerdem zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen – zweite Stufe. Diese Beeinträchtigungen können sowohl in Betriebsablaufstörungen als auch in Entgeltfortzahlungskosten liegen, wenn diese für einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen jährlich zu erwarten sind. Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung – dritte Stufe – ist schließlich zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber angesichts der Belange des Arbeitnehmers gleichwohl hingenommen werden müssen (BAG 16.07.2015 – 2 AZR 15/15 -, BAGE 152, 118 ff, Rn. 29). Auf der dritten Stufe ist dabei auch zu prüfen, ob im Kündigungszeitpunkt ein milderes Mittel als die Kündigung existierte, um der in der Besorgnis weiterer Fehlzeiten bestehenden Vertragsstörung entgegenzuwirken. Eine Kündigung ist durch Krankheit nicht „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt (BAG 19.04.2007 – 2 AZR 239/06 – Rn 24). Neben der Umgestaltung des Arbeitsplatzes kommt die Weiterbeschäftigung auf einem anderen, leidensgerechten Arbeitsplatz als milderes Mittel in Betracht, um so Fehlzeiten zu reduzieren (BAG 20.11.2014 – 2 AZR 755/13-).

Es kann in Anwendung dieser Grundsätze dahinstehen, ob die ersten beiden Stufen erfüllt sind. Jedenfalls ist eine Umgestaltung des Arbeitsplatzes dergestalt möglich, dass die Klägerin in einen E-Trike-Zustellbezirk versetzt werden könnte.

(a)         Im vorliegenden Fall hat ein betriebliches Eingliederungsmanagement mit einem positiven Ergebnis stattgefunden. Laut Protokoll vom 01.04.2019 (BI. 29 der Akte) sollte die Klägerin, wenn sich ihr Gesundheitszustand trotz neuem Arbeitszeitmodell nicht ändert, in einen Briefzustellbezirk mit E-Bike oder E-Trike umgesetzt werden. Bereits im BEM-Gespräch am 22.04.2016 war diese

Möglichkeit aufgezeigt worden. Auch die postbetriebsärztlichen Untersuchungen vom 01.06.2016 und 08.05.2018 empfahlen dies bereits. Damit bestand sowohl aus ärztlicher Sicht als auch aus Sicht der Beklagten bei Umgestaltung des Arbeitsplatzes bzw. Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz die Aussicht, dass sich die Fehlzeiten der Klägerin künftig reduzieren.

(b)         Hat ein betriebliches Eingliederungsmanagement mit positivem Ergebnis stattgefunden, ist der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet, die betreffende Empfehlung umzusetzen. Kündigt er, ohne das versucht zu haben, muss er darlegen, warum die Maßnahme entweder undurchführbar war oder selbst bei einer Umsetzung nicht zu einer Reduzierung der Ausfallzeiten geführt hätte (LAG Schleswig-Holstein 11.04.2018 – 6 Sa 361/17 – Rn. 54 ff; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch/Linck § 131 Rn 9).

(c)         Beides ist vorliegend nicht erkennbar.

Die Beklagte hat lediglich ausgeführt, der Klägerin hätte kein E-Trike im Jahr 2016 zur Verfügung gestellt werden können (warum nicht?). Zudem habe die Klägerin in dem Verbundzustellbezirk ihrer Wohnung beschäftigt werden wollen.

Beides entbindet die Beklagte nicht davon, vor dem Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung nach über 20 Jahren Betriebszugehörigkeit die Umgestaltung des Arbeitsplatzes bzw. die Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz anzustreben und durchzusetzen. Eine Undurchführbarkeit der im BEM-Gespräch avisierten Maßnahme liegt nicht vor.

Zudem ist von der Beklagten nicht vorgetragen – und auch sonst nicht erkennbar -, dass es selbst bei einer Umsetzung zu keiner Reduzierung der Ausfallzeiten gekommen wäre. Im Gegenteil spricht der Umstand, dass die Klägerin zuletzt primär Probleme mit den Füßen, Knöcheln sowie Knien hatte dafür, dass durch die geringere oder jedenfalls andersartige Beanspruchung dieser Körperbereiche bei der E-Trike-Zustellung im Vergleich zur Verbundzustellung eine Besserung des Gesundheitszustands erwartet werden konnte.

(3)         Damit kann schließlich dahinstehen, wie es sich auswirkt, dass die Beklagte trotz des Umstands, dass die Klägerin nach dem BEM-Gespräch am 01.04.2019

bis zum Kündigungszeitpunkt wiederum mehr als sechs Wochen arbeitsunfähig erkrankt war, kein erneutes BEM-Verfahren einleitete (für die Erforderlichkeit eines neuen Verfahrens in diesem Fall, siehe LAG Schleswig-Holstein 03.06.2015 – 6 Sa 396/14, Rn. 112 f, vgl. auch Sasse ArbRB 2017, 173).

2.           Der zulässige Weiterbeschäftigungsantrag ist ebenfalls begründet.

Ein Weiterbeschäftigungsanspruch besteht, wenn ein die Unwirksamkeit der Kündigung feststellendes Instanzurteil ergeht und keine besonderen Umstände vorliegen, die ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers begründen, den Arbeitnehmer nicht weiter zu beschäftigen (LAG Baden-Württemberg 20.12.2018- 17 Sa 11/18).

Derartige Umstände sind nicht vorgetragen und auch ansonsten nicht ersichtlich. Die Klägerin kann wegen der Rechtsunwirksamkeit der ordentlichen Kündigung daher verlangen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens als Zustellerin weiterbeschäftigt zu werden.

II.

Die Kosten des Verfahrens waren der Beklagten als unterliegende Partei gemäß §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO aufzuerlegen.

Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes ergibt sich aus §§ 61 Abs. 1 ArbGG, 3 ff. ZPO.

Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung folgt aus § 64 Abs. 3a Satz 1 ArbGG. Soweit die Berufung nicht bereits kraft Gesetzes zulässig ist, war keine gesonderte Zulassung der Berufung gemäß §§ 64 Abs. 2 a), Abs. 3 ArbGG veranlasst.

 

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