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Krankheitsbedingte Kündigung – Betriebliches Eingliederungsmanagement

Landesarbeitsgericht Düsseldorf – Az.: 13 Sa 356/16 – Urteil vom 20.10.2016

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 04.04.2016 – 2 Ca 5709/15 – abgeändert:

Das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 18.01.2016 wird aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 24.09.2015 nicht aufgelöst ist.

Die erstinstanzlichen Kosten hat die Beklagte zu tragen mit Ausnahme der durch die Säumnis der Klägerin im Termin am 18.01.2016 entstandenen Kosten. Diese hat die Klägerin zu tragen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung.

Die im August 1971 geborene, ledige Klägerin ist seit Oktober 1994 für die Beklagte bzw. deren Rechtsvorgängerin als Flugbegleiterin gegen ein monatliches Bruttoeinkommen von zuletzt etwa 3.700,00 EUR tätig. Die Beklagte betreibt mit mehr als zehn Arbeitnehmern eine Fluggesellschaft. Bei ihr ist auf Basis eines auf § 117 Abs. 2 BetrVG beruhenden Tarifvertrags (im Folgenden: TVPV) eine Personalvertretung gebildet. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Manteltarifvertrag Nr. 12 für das Kabinenpersonal der LTU vom 25.03.2011 (im Folgenden: MTV Nr. 12) Anwendung. Die Klägerin ist in Teilzeit mit 83,34 % der normalen Arbeitszeit dergestalt tätig, dass sie jährlich zwei Freimonate erhält.

Die Klägerin war in der Zeit von 2001 bis zum August 2015 an insgesamt 1553 Kalendertagen krankheitsbedingt arbeitsunfähig. An 1330 Kalendertagen erhielt sie Entgeltfortzahlung. Aus den Angaben in den Lohnabrechnungen der Beklagten ergibt sich, dass die Klägerin 120 Kalendertage in 2011, 57 in 2012, 153 in 2013, 66 in 2014 und 56 in den ersten acht Monaten 2015, insgesamt also in der Zeit vom 01.01.2011 bis zum 31.08.2015 an 452 Kalendertagen arbeitsunfähig erkrankt war und an 393 Tagen Entgeltfortzahlung erhielt. An den 59 Tagen ohne Entgeltfortzahlung leistete die Beklagte danach an 47 Tagen einen Zuschuss zum Krankengeld. Der Beklagten entstanden auf der Grundlage der Abrechnungen im zuletzt genannten Zeitraum Entgeltfortzahlungskosten in Höhe von knapp 52.000,00 EUR brutto. Wegen der Einzelheiten der Krankheitstage wird auf die Aufstellung auf Seite 6 bis 12 der Klageerwiderung vom 30.11.2015 verwiesen (Bl. 76 bis 82 d. A.). Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen im zuletzt genannten Zeitraum stammen von acht verschiedenen Ärzten.

Zum betrieblichen Eingliederungsmanagement (im Folgenden: bEM) ist bei der Beklagten die Betriebsvereinbarung „fit for flight“ vom 14.11.2013 (Bl. 387 ff. d. A.) vereinbart. Die Beklagte bot der Klägerin mit Schreiben vom 14.10.2013 (Bl. 297 d. A.) und 18.03.2014 (Bl. 299 d. A.) ein bEM an. Einleitend heißt es in den Schreiben jeweils:

“ … nach den uns vorliegenden Informationen waren Sie innerhalb der letzten 12 Monate länger als 6 Wochen arbeitsunfähig erkrankt.“

Auf dem vorformulierten Antwortformular kreuzte die Klägerin jeweils an, dass sie der Durchführung des bEM nicht zustimme. Im Rahmen der ersten Ablehnung wies sie die Beklagte mit E-Mail vom 16.10.2013 darauf hin, dass sie wie am Tag zuvor telefonisch besprochen bei ihrer Erkrankung (Fraktur der linken Ferse, Bänderriss im rechten Fuß) keine Notwendigkeit für ein bEM-Gespräch sehe. Auf der Ablehnung vom 26.03.2014 vermerkte sie, dass „es sich bei der Erkrankung um einen Bruch der linken Ferse und einen Bänderriss im rechten Fuß“ gehandelt habe.

Mit Schreiben vom 14.08.2015 lud die Beklagte die Klägerin für den 18.08.2015 zu einem Gespräch über die „immer wieder auftretenden krankheitsbedingten Fehlzeiten“ ein (Bl. 524 d. A.). In dem Gespräch teilte die Beklagte der Klägerin mit, sie beabsichtige das Arbeitsverhältnis zu kündigen. Die Klägerin bot an, sämtliche Diagnosen offenzulegen, sich werksärztlich untersuchen zu lassen und alle Maßnahmen, die sich daraus ergeben könnten, durchführen zu lassen.

Unter dem 11.09.2015 hörte die Beklagte die Personalvertretung zu einer beabsichtigten ordentlichen Kündigung der Klägerin an. Darin führte die Beklagte die Arbeitsunfähigkeiten der Klägerin ab 2011 auf. Wegen der Einzelheiten wird auf die Anlage B 20 zur Klageerwiderung (Bl. 301 bis 320 d. A.) Bezug genommen. Mit Schreiben vom 17.09.2015 (Bl. 311 f. d. A.) widersprach die Personalvertretung der beabsichtigten Kündigung. Sie wies u. a. darauf hin, dass die angebotenen bEM-Gespräche aufgrund der jeweils abgeheilten Verletzungen aus Sicht der Klägerin – auch gemäß Rücksprache mit der zuständigen Stelle der Personalleitung – keinen Sinn gemacht hätten.

Mit Schreiben vom 24.09.2015, das die Klägerin noch im September erhielt, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 30.09.2016.

Mit ihrer am 30.09.2015 beim Arbeitsgericht eingegangenen und der Beklagten am 08.10.2015 zugestellten Klage hat die Klägerin sich gegen die Kündigung gewandt. Sie hat die fehlende soziale Rechtfertigung sowie die Ordnungsgemäßheit der Anhörung der Personalvertretung gerügt.

Die Klägerin hat behauptet, sie habe im Jahr 2011 an 92 Tagen, im Jahr 2012 an 36 Tagen, im Jahr 2013 an 32 Tagen und im Jahr 2015 an 44 Tagen krankheitsbedingt gefehlt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Darstellung auf Seite 2 und 3 des Schriftsatzes vom 03.02.2016 (Bl. 335 f. d. A.) Bezug genommen. Schwerpunkt ihrer Erkrankung sei im Jahr 2011 ein Mittelfußknochenbruch gewesen. Deshalb seien 52 Tage abzuziehen, so dass sie nur an 43 Tagen im Jahr 2011 erkrankt gewesen sei. Im Kalenderjahr 2013 habe sie Ende Juli 2013 einen Unfall erlitten. Erst später seien nacheinander eine Fraktur der linken Ferse und eine Außenbandruptur im rechten Fuß diagnostiziert worden. Die Fehlzeiten im Kalenderjahr 2014 seien auf eine Schilddrüsenunterfunktion zurückzuführen, die entsprechend behandelt und eingestellt sei. Diese Verletzungen bzw. Erkrankungen seien ausgeheilt und ließen keine weiteren Fehlzeiten befürchten. Auch die im Kalenderjahr 2015 gestellten einzelnen Diagnosen seien für sich genommen ausgeheilt. Ihre behandelnden Ärzte hätten ihre Gesundheitsprognose bezüglich ihrer prognosefähigen Krankheiten positiv beurteilt und es sei nicht mit Krankheiten über eine Dauer von sechs Wochen hinaus jährlich zu rechnen. Sie sei nicht häufiger erkrankt als vergleichbare Arbeitnehmer. Zu betrieblichen Ablaufstörungen könne es aufgrund der Stand-by-Reserve kaum kommen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Beklagte sei ihrer Initiativlast zur Durchführung des bEM nicht nachgekommen. Im Rahmen eines bEM habe überlegt werden können, ob Teilzeit erforderlich sei, eine Bodentätigkeit in Betracht komme oder ob das Einsatzprofil, die Kabinenplanung etc. anders hätte gestaltet werden können. Die Anhörung der Personalvertretung sei unzureichend, da die Beklagte dieser verschwiegen habe, dass sie das bEM nicht ohne weiteres abgelehnt, sondern darauf hingewiesen habe, dass es aus ihrer Sicht nicht notwendig sei. Zudem seien der Personalvertretung die Höhe der Lohnfortzahlungskosten im Einzelnen nicht bekannt gegeben worden.

Im Kammertermin vom 18.01.2016 hat das Arbeitsgericht auf Antrag der Beklagten die Klage im Wege des Versäumnisurteils abgewiesen. Gegen das ihr am 28.01.2016 zugestellte Versäumnisurteil hat die Klägerin mit bei Gericht am 03.02.2016 eingegangenem Schriftsatz Einspruch eingelegt und diesen noch am selben Tag begründet.

Die Klägerin hat beantragt, das Versäumnisurteil aufzuheben und festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 24.09.2015 aufgelöst ist.

Die Beklagte hat beantragt, das Versäumnisurteil aufrechtzuerhalten.

Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei aus personenbedingten Gründen gerechtfertigt. Sie hat behauptet, die Erkältungs- bzw. Entzündungserkrankungen und Erkrankungen des Bewegungsapparats ließen den Schluss auf Fehlzeiten zu, welche auch zukünftig Entgeltfortzahlungskosten für einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr erwarten ließen. Die Klägerin habe nichts zur Gastroenteritis, Kolitis, Tetraparese und Tetraplegie vorgetragen. Es sei nicht nachvollziehbar, warum sich die Klägerin im Jahr 2013 erst zwei Wochen nach dem Unfall in eine Notfallbehandlung begeben habe. Zudem sei nicht nachvollziehbar, warum sie aufgrund der Fersenfraktur immer nur zunächst wenige Tage und erst am 03.09.2013 dauerhaft arbeitsunfähig gewesen sei. Aus den unterschiedlichen Erkrankungen folge eine schlechte Gesamtkonstitution der Klägerin. Die Erkrankungen seien nicht auf betriebliche Ursachen zurückzuführen. Die 63 Mitarbeiter, die wie die Klägerin am Flughafen Düsseldorf mit zwei Freimonaten arbeiteten, seien im Jahr 2014 im Durchschnitt an 22,97 Tagen erkrankt, während die Klägerin an 66 Tagen erkrankt sei. Durch die häufigen Kurzerkrankungen sei es ihr unmöglich, die Klägerin verlässlich einzuplanen. Da immer kurzfristig Kollegen aus der Stand-by-Reserve abgerufen werden müssten, um vollständige Flugausfälle zu vermeiden, seien Betriebsablaufstörungen eingetreten. Das bEM habe sie mit den Schreiben vom 14.10.2013 und 18.03.2014 ordnungsgemäß durchgeführt. Die erforderlichen Anhörungsschreiben nebst den notwendigen Informationen zu Zielen und zur Datenverarbeitung seien dort in den Anlagen enthalten. Mit einem Verweis auf anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten sei die Klägerin aufgrund der Ablehnung des bEM ausgeschlossen. Eine weitere Teilzeit habe die Klägerin nach den Bestimmungen des Teilzeittarifvertrages beantragen können. Zwar habe eine Tätigkeit mit anderer Verteilung oder weiterer Reduzierung der Arbeitszeit Ausfluss eines bEM sein können. Dieses habe die Klägerin jedoch verweigert. Da sie die Krankheitsursachen der Klägerin nicht umfassend gekannt habe, habe sie ihr ein entsprechendes Angebot nicht unterbreiten können. Eine Bodentätigkeit habe der Klägerin mangels freier Stelle nicht angeboten werden können.

Mit Urteil vom 04.04.2016, auf dessen Gründe im Einzelnen verwiesen wird, hat das Arbeitsgericht Düsseldorf das Versäumnisurteil vom 18.01.2016 aufrechterhalten. Es hat angenommen, die Kündigung sei aus personenbedingten Gründen gerechtfertigt. Zu alternativen, leidensgerechten Beschäftigungsmöglichkeiten habe die Beklagte nicht vortragen müssen, da sie ihrer Verpflichtung zum Angebot eines bEM hinreichend mit dem Schreiben vom 18.03.2014 regelkonform nachgekommen sei. Es könne dahinstehen, ob die Beklagte verpflichtet gewesen sei, nach Ablauf eines weiteren Jahres erneut ein bEM zu versuchen. Bezogen auf die Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozess genüge ein bEM, das im letzten Kalenderjahr durchgeführt worden sei. Es sei nicht ersichtlich, dass bezogen auf alternative, leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten oder sonstige Maßnahmen, die zu einer stabileren Gesundheit führen könnten, wesentliche Änderungen eingetreten seien.

Gegen das ihr am 20.04.2016 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 29.04.2016 Berufung eingelegt und diese – nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 20.07.2016 – mit einem an diesem Tag beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet.

Zur Begründung ihrer Berufung führt sie aus, alle prognosetragenden Erkrankungen würden durch die behandelnden Ärzte positiv beurteilt. Dass ihr Gesundheitszustand gut sei, werde durch aktuell nochmals festgestellte Flugtauglichkeit belegt. Die erst im Mai 2014 diagnostizierte Schilddrüsenunterfunktion habe eine Vielzahl der fraglichen Erkrankungen verursacht. Mit einer sich über mindestens 1 ½ Jahre hinziehenden Hormonbehandlung werde erreicht werden, dass die Unterfunktion keine weiteren Erkrankungen verursachen könne. Die kündigungsrechtlichen Schlussfolgerungen des Arbeitsgerichts im Zusammenhang mit dem bEM seien fehlerhaft, da vor Ausspruch der Kündigung erneut die Voraussetzungen für die Durchführung eines bEM vorgelegen hätten. Einer solchen hätte sie zugestimmt. Die vorangegangenen bEM-Angebote seien nicht ordnungsgemäß gewesen. Jedenfalls seien sie für die Kündigung ohne Belang, da im Zwischenzeitraum ihre Schilddrüsenunterfunktion diagnostiziert worden sei. Im Übrigen habe eine Notwendigkeit zur Durchführung eines bEM im Hinblick darauf bestanden, dass sie ihre Ablehnung zuvor mit der Art der Erkrankung (Fersenbruch und Bänderriss) erklärt habe, mit welcher die anschließend aufgetretenen Erkrankungen offensichtlich nicht in Zusammenhang gestanden hätten.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf, 2 Ca 5709/15 vom 04.04.2016 abzuändern und nach dem Schlussantrag der Klägerin erster Instanz zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das erstinstanzliche Urteil unter Bezugnahme auf den erstinstanzlichen Vortrag. Sie verweist darauf, die negative Prognose habe sich dadurch bestätigt, dass die Klägerin im Zeitraum nach dem Ausspruch der Kündigung bis zum 22.08.2016 insgesamt an 31 Kalendertagen arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Sie meint, ein erneuter bEM-Versuch wäre erfolglos geblieben. Angesichts des Umstands, dass die Klägerin auch während der Freimonate erkrankt sei, sei davon auszugehen, dass eine weitere Reduzierung der Arbeitszeit die Krankheitsanfälligkeit der Klägerin nicht günstig beeinflusst hätte. Mangels eines freien Arbeitsplatzes habe der Klägerin auch keine Tätigkeit am Boden angeboten werden können, zumal ein Zusammenhang mit dem fliegerischen Einsatz nicht ersichtlich sei. Ein erneuter bEM-Versuch sei auch nicht erforderlich gewesen, da nicht ersichtlich sei, dass sich zwischen ihrer Einladung vom 18.03.2014 bis zur Kündigung wesentliche Änderungen bezogen auf alternative, leidensgerechte Beschäftigungsmöglichkeiten ergeben hätten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschriften beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

A.

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere unter Beachtung der Vorgaben der §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit § 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

B.

Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg. Die Kündigung der Beklagten vom 24.09.2015 ist sozial ungerechtfertigt nach § 1 Abs. 2 des nach §§ 23 Abs. 1, 1 Abs. 1 anwendbaren Kündigungsschutzgesetzes. Anders als das Arbeitsgericht ist die Berufungskammer der Ansicht, dass die Beklagte das Vorliegen personenbedingter Gründe nicht hinreichend dargelegt hat.

1. Auch eine personenbedingte Kündigung ist nach dem das gesamte Kündigungsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur gerechtfertigt, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung erforderlich ist. Zu den die Kündigung bedingenden Tatsachen gehört deshalb das Fehlen angemessener milderer Mittel zur Vermeidung künftiger Fehlzeiten. Mildere Mittel in diesem Sinne sind insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen – leidensgerechten – Arbeitsplatz (BAG 20.11.2014 – 2 AZR 664/13 – RN 15 m.w.N., NZA 2015, 931).

Dafür dass eine Kündigung auf Grund krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit aus Gründen in der Person bedingt und deshalb sozial gerechtfertigt ist, trifft den Arbeitgeber gemäß § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast (BAG 12.04.2002 – 2 AZR 148/01 – NZA 2002, 1081). Das gilt auch für das Fehlen einer anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeit (BAG 20.11.2014 – 2 AZR 664/13 – NZA 2015, 931).

Ist der Arbeitgeber nicht zur Durchführung eines bEM verpflichtet, kann er sich insoweit zunächst darauf beschränken zu behaupten, für den Arbeitnehmer bestehe keine alternative Beschäftigungsmöglichkeit. Diese pauschale Erklärung umfasst den Vortrag, Möglichkeiten zur leidensgerechten Anpassung des Arbeitsplatzes seien nicht gegeben. Hat der Arbeitgeber hingegen entgegen den Vorgaben des § 84 Abs. 2 SGB IX ein bEM unterlassen, kann dies zu einer Erweiterung seiner Darlegungslast führen. Zwar ist die Durchführung des bEM keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine krankheitsbedingte Kündigung und für sich genommen auch kein milderes Mittel als diese. § 84 Abs. 2 SGB IX konkretisiert aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe des bEM können mildere Mittel, z. B. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder die Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen auf einem anderen, ggf. „freizumachenden“ Arbeitsplatz erkannt und entwickelt werden. Ist es denkbar, dass ein bEM ein positives Ergebnis erbracht hätte, darf sich der Arbeitgeber nicht auf den pauschalen Vortrag beschränken, er kenne keine alternativen Einsatzmöglichkeiten für den erkrankten Arbeitnehmer. Er muss vielmehr von sich aus – denkbare oder vom Arbeitnehmer genannte – Alternativen würdigen und darlegen, aus welchen Gründen weder eine Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes an dem Arbeitnehmer zuträgliche Arbeitsbedingungen noch die Beschäftigung auf einem anderen – leidensgerechten – Arbeitsplatz in Betracht kamen (vgl. insgesamt BAG 20.11.2014 – 2 AZR 664/13 – NZA 2015, 931).

Hat der Arbeitgeber ein bEM deshalb nicht durchgeführt, weil der Arbeitnehmer nicht eingewilligt hat, kommt es darauf an, ob der Arbeitgeber den Betroffenen zuvor auf die Ziele des bEM sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hingewiesen hatte (vgl. § 84 Abs. 2 Satz 3 SGB IX). Die Belehrung nach § 84 Abs. 2 Satz 3 SGB IX gehört zu einem regelkonformen Ersuchen des Arbeitgebers um Zustimmung des Arbeitnehmers zur Durchführung eines bEM. Sie soll dem Arbeitnehmer die Entscheidung ermöglichen, ob er ihm zustimmt oder nicht. Die Initiativlast für die Durchführung eines bEM trägt der Arbeitgeber. Stimmt der Arbeitnehmer trotz ordnungsgemäßer Aufklärung nicht zu, ist das Unterlassen eines bEM „kündigungsneutral“. Zwingende Voraussetzung für die Durchführung eines bEM ist das Einverständnis des Betroffenen. Ohne die ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen darf keine Stelle unterrichtet oder eingeschaltet werden (BAG 24.03.2011 – 2 AZR 170/10 – NZA 2011, 993).

Durfte ein bEM nicht unterbleiben, führt dies nicht automatisch zur Unwirksamkeit der Kündigung. Möglich ist nämlich, dass auch ein bEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können. Sofern dies der Fall ist, kann dem Arbeitgeber aus dem Unterlassen eines bEM kein Nachteil entstehen. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ein bEM deshalb entbehrlich war, weil es wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers unter keinen Umständen ein positives Ergebnis hätte bringen können, trägt der Arbeitgeber. Dazu muss er umfassend und konkret vortragen, warum weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisher innegehabten Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung und Veränderung möglich war und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit hätte eingesetzt werden können, warum also ein bEM in keinem Fall dazu hätte beitragen können, erneuten Krankheitszeiten des Arbeitnehmers vorzubeugen und ihm den Arbeitsplatz zu erhalten (BAG 24.03.2011 – 2 AZR 170/10 – NZA 2011, 993).

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen erweist sich die streitgegenständliche Kündigung zur Überzeugung der Berufungskammer als unverhältnismäßig und damit unwirksam.

a) Die Voraussetzungen für die Durchführung eines bEM nach § 84 Abs. 2 Satz 1 SGB IX lagen vor. Das Erfordernis eines betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 84 Abs. 2 SGB IX besteht für alle Arbeitnehmer, nicht nur für behinderte Menschen (BAG 30.09.2010 – 2 AZR 88/09 – NZA 2011, 39). Die Klägerin war im letzten Jahr vor Ausspruch der Kündigung länger als sechs Wochen arbeitsunfähig. Unstreitig ist die Beklagte ihrer Pflicht zur Durchführung des bEM nicht nachgekommen.

b) Die Durchführung eines bEM war auch nicht deshalb entbehrlich, weil die Beklagte der Klägerin im Oktober 2013 und März 2014 ein solches erfolglos angeboten hatte. Ein bEM ist im Zeitablauf wiederholt durchzuführen oder jedenfalls anzubieten, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen erneut erfüllt werden. Mit der Beendigung des Berechnungszeitraums, d. h. dem Zeitpunkt, in dem eine sechswöchige Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist, setzt zugleich ein neuer ein (Wullenkord, Arbeitsrechtliche Kernfragen des Betrieblichen Eingliederungsmanagements in der betrieblichen Praxis, Diss. C. 2014). Bis zur Kündigung im September 2015 war hier ein Zeitraum von weit über einem Jahr verstrichen, in dem die Klägerin wiederum länger als sechs Wochen arbeitsunfähig war.

c) Anders als das Arbeitsgericht ist die Berufungskammer nicht der Ansicht, dass die oben dargestellte Verteilung der Darlegungslast dadurch verändert wird, dass im Jahr vor der Kündigung ein bEM „durchgeführt“ – präziser: angeboten, aber von der Klägerin abgelehnt – wurde.

(1) Eine „Fiktion“ dahingehend, dass aufgrund der Ablehnung eines bEM durch den Arbeitnehmer unterstellt wird, dass zu diesem Zeitpunkt eine leidensgerechte Beschäftigung nicht in Betracht kommt, lässt sich dem Gesetz und der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht entnehmen. Vielmehr führt wie dargestellt das Unterlassen eines bEM zu einer Erweiterung der Darlegungslast, es sei denn, der Arbeitnehmer hatte ein solches abgelehnt. Eine Ablehnung des bEM durch den Arbeitnehmer hat jedoch nur dann die oben angegebenen kündigungsrechtlichen Auswirkungen, wenn der Arbeitgeber die Kündigung zeitnah ausspricht. Das bEM muss zeitnah vor Ausspruch der Kündigung durchgeführt werden, da es ansonsten seinen Zweck nicht erfüllt (LAG Rheinland-Pfalz 16.12.2009 – 7 Sa 413/09 – juris RN 39). Der maßgebliche Zeitraum ist in jedem Fall überschritten, wenn wie hier nach dem nicht zustande gekommenen bEM erneut weit mehr als ein Jahr verstrichen ist und erneut die Voraussetzungen für ein bEM vorgelegen haben. Indem sie den Ausspruch einer Kündigung zeitnah zu den Ablehnungen eines bEM durch die Klägerin unterlassen hat, hat im Gegenteil die Beklagte zum Ausdruck gebracht, dass sie selbst bezogen auf die Beschäftigung der Klägerin keine negative Prognose gesehen hat.

(2) Selbst wenn man dies anders sähe, wäre entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts hier eine wesentliche Änderung insoweit eingetreten, als erst nach dem letzten bEM-Angebot die Schilddrüsenunterfunktion der Klägerin behandelt worden ist. Unabhängig davon, ob dieser die von der Klägerin behauptete maßgebliche Rolle für ihre Krankheitsanfälligkeit zukommt, ist jedenfalls nach dem Vorbringen der Beklagten nicht auszuschließen, dass ein sich gegenüber 2014 anders darstellendes Krankheitsbild Auswirkungen auf den Erfolg eines bEM gehabt hätte. Dass die Beklagte die Schilddrüsenunterfunktion mit Nichtwissen bestreitet, ist angesichts der sie treffenden Darlegungs- und Beweislast rechtlich unerheblich. Soweit sie darauf verwiesen hat, bereits 2011 sei eine Schilddrüsenerkrankung bei der Klägerin diagnostiziert worden, verkennt sie, dass es sich damals nicht um eine Unterfunktion gehandelt hat.

(3) Daneben wäre jedenfalls nach den weiteren konkreten Umständen des Einzelfalls keine Änderung in der Verteilung der Darlegungslast anzunehmen. Die Klägerin hat unstreitig bei den beiden bEM-Angeboten darauf hingewiesen, sie halte diese aufgrund der Art der die Arbeitsunfähigkeitszeiten verursachenden Erkrankung (Fraktur, Bänderriss) nicht für notwendig. Die Klägerin hatte diese Auffassung – worauf auch der Betriebsrat im Rahmen der Anhörung zur Kündigung die Beklagte ausdrücklich hingewiesen hat – zudem mit der Beklagten telefonisch besprochen. § 84 Abs. 2 SGB IX dient auch der Kündigungsprophylaxe. Einer der notwendigen Gegenstände eines bEM ist die Betrachtung der Einschränkungen und gesundheitlichen Störungen des Betroffenen. Eine Offenlegung dieser Umstände ist dem Arbeitnehmer nicht zuzumuten, wenn er vertretbar der Ansicht ist, die Arbeitsunfähigkeitszeiten, welche das bEM-Angebot ausgelöst haben, seien auf nur vorübergehende Ursachen zurückzuführen. Jedenfalls wenn sich der Arbeitgeber wie hier dieser Argumentation nicht verschließt, indem er den Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung unterlässt, ist eine Schlussfolgerung nicht gerechtfertigt, mit dem Unterlassen des bEM stehe fest, es bestünden zu diesem Zeitpunkt keine alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten. Es bestanden für die Beklagte zudem keinerlei Anhaltspunkte, dass die nach der Ablehnung des bEM im März 2014 aufgetretenen Fehlzeiten auf dem Bruch der linken Ferse oder dem Bänderriss im rechten Fuß beruhten.

d) Die Beklagte hat auch nicht hinreichend dargelegt, dass ein vor der Kündigung durchgeführtes bEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können. Insbesondere ist nicht auszuschließen, dass eine Reduzierung der Arbeitszeit und/oder eine andere Verteilung der Arbeitszeit positive Effekte auf den Umfang der Arbeitsunfähigkeitszeiten der Klägerin hätten haben können. Zwar weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass die Klägerin auch in Freimonaten erkrankt ist. Das bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass der Umfang der beruflichen Belastung ohne Auswirkung auf die Krankheitsanfälligkeit der Klägerin ist. Die entsprechende Annahme der Beklagten ist rein spekulativ. Es wäre gerade Aufgabe eines bEM gewesen, diese Fragen zu klären. Die Beklagte trägt insoweit zudem widersprüchlich vor. Erstinstanzlich hatte sie noch vorgetragen, „eine etwaige Tätigkeit bei ggf. anderer Verteilung der Arbeitszeit oder aber weiterer Reduzierung der Arbeitszeit hätte indes Ausfluss eines bEM sein können“ (Schriftsatz vom 16.03.2016, Seite 11). Weshalb nunmehr anderes gelten soll, bleibt unerklärt.

e) Entgegen der Ansicht der Beklagten ist auch nicht auszuschließen, dass die Klägerin eine dritte Einladung zu einem bEM anders als die vorherigen angenommen hätte. Unstreitig hat sie im der Kündigung vorangehenden Gespräch am 18.08.2015 angeboten, sämtliche Diagnosen offenzulegen, sich werksärztlich untersuchen zu lassen und alle Maßnahmen, die sich daraus ergeben könnten, durchführen zu lassen. Auch hat sie die Ablehnungen ausdrücklich damit begründet, aufgrund der Art der damaligen Erkrankungen sehe sie keine Veranlassung für ein bEM. Aus einem derartigen Verhalten lässt sich nicht ableiten, die Beklagte sei etwa anderthalb Jahre später davon entbunden, erneut ein bEM einzuleiten (vgl. LAG Hamm 27.01.2012 – 14 Sa 1493/11 – juris RN 54).

C.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit §§ 91 Abs. 1, 344 ZPO. Für die Zulassung der Revision bestand kein gesetzlich vorgesehener Anlass. Die maßgeblichen Rechtsfragen sind bereits höchstrichterlich geklärt. Im Übrigen beruht die Entscheidung auf den Umständen des Einzelfalls.

 

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