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Darlegungs- und Beweislast für fehlerhafte Sozialauswahl durch Arbeitgeber

Kündigungsschutz und Weiterbeschäftigung: Ein Fall von ArbG Hannover

Der vorliegende Fall beleuchtet die Kündigung eines Arbeitnehmers und die darauf folgende rechtliche Auseinandersetzung bezüglich der Wirksamkeit dieser Kündigung. Der Kläger, seit dem 01.10.2017 als Maschinenbediener bei der Beklagten beschäftigt, wurde gekündigt. Die Beklagte, ein Unternehmen, das Zylinderlaufbuchsen herstellt und vertreibt, hatte finanzielle Schwierigkeiten und entschied sich für Restrukturierungsmaßnahmen, einschließlich Personalabbau.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 1 Ca 395/22  >>>

Das Wichtigste in Kürze


  • Fehlerhafte Sozialauswahl durch Arbeitgeber: Der Fall betrifft die Darlegungs- und Beweislast für eine fehlerhafte Sozialauswahl durch den Arbeitgeber.
  • Kündigung und Restrukturierung: Aufgrund finanzieller Verluste entschied sich die Beklagte für eine Restrukturierung, die auch Kündigungen von Arbeitnehmern einschloss.
  • Interessenausgleich und Namensliste: Ein Interessenausgleich wurde getroffen, inklusive einer Namensliste der zu kündigenden Arbeitnehmer. Die Liste und der Interessenausgleich bilden eine einheitliche Urkunde.
  • Sozialauswahlprozess: Der Prozess der Sozialauswahl wurde durchgeführt, wobei verschiedene Kriterien wie Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung berücksichtigt wurden.
  • Kündigung des Klägers: Der Kläger, ein Maschinenbediener, wurde gekündigt. Er ist in der Namensliste aufgeführt, die dem Interessenausgleich beigefügt ist.
  • Unklarheiten in der Sozialauswahl: Es gibt Unklarheiten bezüglich der Vergleichsgruppen und der genauen Kriterien der Sozialauswahl, die zur Kündigung des Klägers führten.
  • Recht auf vertragsgemäße Beschäftigung: Gekündigte Arbeitnehmer haben das Recht auf vertragsgemäße Beschäftigung bis zum Abschluss des Kündigungsprozesses, sofern die Kündigung unwirksam ist und keine überwiegenden Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen.

Kontext der Kündigung

sozialauswahl bei betriebsbedingter kündigung
Kündigung während Restrukturierung: Ein Arbeitnehmer wehrt sich erfolgreich gegen seine Entlassung und sichert sich das Recht auf Weiterbeschäftigung. (Symbolfoto: Who is Danny /Shutterstock.com)

Die Beklagte litt unter einem Umsatzrückgang und generierte seit 2020 kontinuierliche Verluste. Um eine Insolvenz zu vermeiden, wurden Restrukturierungsmaßnahmen eingeleitet, die auch einen Personalabbau von etwa 170 auf ungefähr 100 Arbeitnehmer vorsahen. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde dem Kläger gekündigt. Die Kündigung basierte auf einem Interessenausgleich mit Namensliste, welcher mit dem Betriebsrat ausgehandelt wurde.

Der Interessenausgleich

Im September 2022 begannen Verhandlungen zwischen der Beklagten und dem Betriebsrat über die geplante Betriebsänderung. Es wurde eine Einigung erzielt, die den Abbau von bis zu 65 Arbeitsplätzen vorsah. Dies sollte durch die Kündigung von 53 namentlich aufgelisteten Arbeitnehmern und zusätzlichen freiwilligen Aufhebungsverträgen mit bis zu 12 Arbeitnehmern umgesetzt werden. Der Kläger war unter den 53 namentlich genannten Arbeitnehmern.

Urteil des ArbG Hannover

Das ArbG Hannover entschied mit dem Urteil vom 04.04.2023 (Az.: 1 Ca 395/22), dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten nicht beendet wird. Es wurde festgestellt, dass der Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen weiterbeschäftigt werden muss. Die Kosten des Rechtsstreits wurden der Beklagten auferlegt, und die Berufung wurde nicht gesondert zugelassen.

Schlussbetrachtungen zum Fall

Das Urteil des ArbG Hannover unterstreicht die Wichtigkeit des Kündigungsschutzverfahrens und die Notwendigkeit, die Rechte der Arbeitnehmer während des Restrukturierungsprozesses zu wahren. Die Entscheidung hebt hervor, dass Kündigungen, die auf einem Interessenausgleich mit Namensliste basieren, sorgfältig geprüft und rechtlich fundiert sein müssen, um die Wirksamkeit der Kündigung zu gewährleisten. In diesem Fall wurde die Kündigung des Klägers als nicht wirksam erachtet, und er muss zu unveränderten Bedingungen weiterbeschäftigt werden, bis das Kündigungsschutzverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist.

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Sozialauswahl bei betriebsbedingter Kündigung – kurz erklärt


Bei einer betriebsbedingten Kündigung muss der Arbeitgeber die Sozialauswahl durchführen. Dies bedeutet, dass soziale Gesichtspunkte bei der Entscheidung, welchem Arbeitnehmer gekündigt wird, berücksichtigt werden müssen. Die entscheidenden Kriterien für die Sozialauswahl sind die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, Unterhaltspflichten und eine mögliche Schwerbehinderung des Arbeitnehmers. Diese Kriterien sollen sicherstellen, dass die Kündigung sozial gerechtfertigt ist und die am wenigsten schutzbedürftigen Arbeitnehmer zuerst gekündigt werden.

Die Sozialauswahl ist in der Regel Pflicht, es gibt jedoch Ausnahmen. Kleinbetriebe mit zehn oder weniger Mitarbeitern sind von dieser Pflicht befreit. Bei der Sozialauswahl haben die vier genannten Kriterien (Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten, Schwerbehinderung) keinen Vorrang voreinander und müssen alle gleich berücksichtigt werden.

Die Sozialauswahl ist ein komplexer Prozess, bei dem der Arbeitgeber sorgfältig abwägen muss, um rechtliche Konsequenzen zu vermeiden. Es ist ratsam, sich bei Unsicherheiten rechtlich beraten zu lassen.


Das vorliegende Urteil

ArbG Hannover – Az.: 1 Ca 395/22 – Urteil vom 04.04.2023

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 17.10.2022 nicht beendet wird.

2. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Maschinenbediener weiterzubeschäftigen.

3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

4. Die Kosten des Rechtsstreits hat die Beklagte zu tragen.

5. Der Streitwert wird auf 8.705,32 Euro festgesetzt.

6. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer von der Beklagten ausgesprochenen Kündigung, welche auf einen Interessenausgleich mit Namensliste beruht.

Der Kläger ist am … geborenen und seit dem 01.10.2017 bei der Beklagten als Maschinenbediener beschäftigt. Sein letztes monatliches Bruttoentgelt betrug 2.176,33 € bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 37,5 Stunden.

Die nicht tarifgebundene Beklagte betreibt an ihrem einzigen Standort in … die Herstellung und den Vertrieb von einer in einer Gießerei gefertigten Zylinderlaufbuchsen zum Einsatz in Verbrennungsmotoren der deutschen und ausländischen Automobilindustrie. Bei der Beklagten besteht ein Betriebsrat. Die Beklagte beschäftigte vor Ausspruch der streitbefangenen, und zahlreicher weiterer Kündigungen von Arbeitsverhältnissen ca. 170 Arbeitnehmer*innen.

Die Beklagte litt unter Umsatzrückgang mit der Folge, dass die Beklagte seit 2020 ununterbrochen Verluste generierte. Bis zum 30.06.2022 war die ansonsten nicht tarifgebundene Beklagte aufgrund eines bis zu diesem Tag ohne Nachwirkung befristeten Heranführungs- und Beschäftigungssicherungstarifvertrags mit der IG Metall am Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen gehindert.

Im August 2022 beschloss die Gesellschafterin der Beklagten den Betrieb der Beklagten zur Vermeidung des Eintritts einer Insolvenz zu restrukturieren und setzte dafür … mit dem Auftrag ein, kurzfristig die Ertragssituation einerseits durch Preiserhöhungsverhandlungen mit den Abnehmern der Beklagten und andererseits durch Maßnahmen der Kosteneinsparung zu verändern. Als Teil der Restrukturierungsmaßnahmen wurde von der Gesellschafterin Ende August 2022 auf Vorschlag von … entschieden, auch einen Personalabbau von ca. 170 auf ca. 100 Arbeitnehmer*innen durchzuführen.

Die Beklagte nahm im September 2022 Verhandlungen mit dem über die wirtschaftliche Situation der Beklagten durchgängig informierten Betriebsrat der Beklagten zur Regelung einer Betriebsänderung auf. Die Betriebsparteien führten in der Folge im engen zeitlichen Abstand Verhandlungen über den Abschluss eines Interessenausgleichs mit Namensliste und eines Sozialplanes durch. Schließlich fanden die Betriebsparteien eine Einigung über die Reduzierung des Personalstands um bis zu 65 Arbeitsplätzen mit der Maßgabe, dass der Personalabbau durch die Kündigung der Arbeitsverhältnisse mit 53 in einer Namensliste ausdrücklich benannten Arbeitnehmer*innen und darüber hinaus durch freiwillige Aufhebungsverträge mit bis zu 12 weiteren Arbeitnehmer*innen umgesetzt werden könne. Die Betriebsparteien einigten sich schließlich am 11.10.2022 auf den die Betriebsänderung regelnden Interessenausgleich, einschließlich der dem Interessenausgleich als Anlage 2 beigefügten und einem Bestandteil des Interessenausgleichs bildenden Namensliste, in der die Namen der 53 Arbeitnehmer*innen enthalten waren, deren Arbeitsverhältnisse gekündigt werden sollten.

Ebenfalls unter dem 11.10.2022 einigten sich die Betriebsparteien auf einen, dem Interessenausgleich als Anlage 3 beigefügten Sozialplan für die von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer*innen.

Der Interessenausgleich vom 11.10.2022 enthält auszugsweise folgende Regelung:

 „Präambel

1. (…)

2. Bei … sind derzeit 170 Arbeitnehmer beschäftigt. Die Belegschaft ist gekennzeichnet durch ein vergleichsweise hohes Alter der Beschäftigten (im Durchschnitt 47,0 Jahre) und eine ebenfalls vergleichsweise langen Beschäftigungszeit (im Durchschnitt 13 Jahre).

(…)

§ 2 Auswahlkriterien und Auswahl

1. … und der Betriebsrat sind sich darüber einig, dass für die Auswahl der vom Abbau ihrer Arbeitsplätze betroffenen Beschäftigten die gesetzliche Regelung in § 1 Abs. 2 und Abs. 3 KSchG Anwendung finden.

2. Zu diesem Zweck haben … und der Betriebsrat in einem ersten Schritt Vergleichsgruppen für die vorzunehmende Sozialauswahl nach § 1Abs. 3 S. 2 KSchG gebildet und dabei auch, aber nicht nur die Fähigkeiten und Leistungen aller Beschäftigten sowie das gemeinsame Interesse an der Sicherung einer ausgewogenen Personalstruktur des Betriebes untersucht, gründlich abgewogen und unter angemessener Einbeziehung der Sichtweise des Betriebsrats unter Beachtung der in Ziffer 6 der Präambel genannten Rahmenbedingungen mit übereinstimmendem Ergebnis berücksichtigt.

3. In einem zweiten Schritt habe … und der Betriebsrat auf der Basis von § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung der Beschäftigten gründlich beleuchtet, abgewogen und gemeinsam im Interesse der Arbeitnehmer und des Betriebes bewertet.

(…)

§ 6 Schlussbestimmungen

1. Mit Abschluss dieses Interessenausgleichs sind die Beteiligungsrechte des Betriebsrats nach § 17 KSchG erfüllt.“

Der Name des Klägers steht unter der Ziffer 10 der als Anlage dem Interessenausgleich beigefügten Namensliste.

Die Beklagte zeigte am 17.10.2022 bei der zuständigen Agentur für Arbeit auf dem dafür vorgesehenen Formular die Absicht der vorgesehenen Kündigung im Sinne einer Massenentlassungsanzeige an.

Die Beklagte hörte den Betriebsrat unter dem 14.10.2022 zu der beabsichtigten ordentlichen betriebsbedingten Beendigungskündigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger, unter Darstellung der Kündigungsgründe und Bezugnahme auf den Interessenausgleich, an. Der Betriebsrat teilte auf der Rückseite des Anhörungsschreibens am gleichen Tage mit, dass er zu beabsichtigten Kündigung im Sinne einer abschließenden Stellungnahme keine weiteren Erklärungen abgebe.

Mit Schreiben vom 17.10.2022 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31.12.2022.

Der Kläger bestreitet mit Nichtwissen, dass zum Zeitpunkt der Unterschrift des Interessenausgleichs eine Zusammenheftung des Interessenausgleichs mit der Anlage der Namensliste erfolgt war. Der Kläger bestreitet die Insolvenzgefahr sowie den Arbeitskraftüberhang von ca. 60 Prozent der Gesamtbelegschaft.

Der Kläger rügt, die Kündigung sei sozial ungerechtfertigt. Erfordert die Beklagte auf, die soziale Auswahl offenzulegen und hierbei Namen und Sozialdaten von vergleichbaren Arbeitnehmern zu nennen.

Der Kläger bestreitet mit Nichtwissen die ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige. Er bestreitet zudem die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung. So werde im Anhörungsschreiben nicht dargelegt, aus welchen Gründen der einzelne Arbeitsplatz jedes Arbeitnehmers weggefallen sei und welche Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten eventuell bestanden. Auf diese Weise habe der Betriebsrat selbstständig ermitteln müssen, welche Tätigkeit der einzelne Arbeitnehmer übernommen hatte und mit wem er vergleichbar sein könnte.

Der Kläger beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 17.10.2022 nicht beendet wird.

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern auf unbestimmte Zeit fortbesteht.

3. im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1) und/oder zu 2) die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Maschinenbediener weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

In der Kammerverhandlung vom 04.04.2023 erklärte die Beklagte, dass es außer der streitgegenständlichen Kündigung keine weiteren Beendigungstatbestände hinsichtlich des zwischen den Parteien bestehenden Arbeitsverhältnisses gebe.

Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze einschließlich der Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage war überwiegend zulässig und hatte in der Sache Erfolg. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist nicht durch die Kündigung vom 17.10.2022 beendet worden.

I. Der allgemeine Feststellungsantrag war unzulässig und daher abzuweisen.

Die Feststellungsklage nach § 256 ZPO setzt ein besonderes Feststellungsinteresse voraus. Es besteht nicht schon deshalb, weil eine bestimmte Kündigung ausgesprochen worden und ihretwegen ein Rechtsstreit anhängig ist. Klagende Arbeitnehmer*innen müssen vielmehr weitere streitige Beendigungstatbestände oder wenigstens deren Möglichkeit in den Prozess einführen und damit dartun, dass sie an dem die Klage nach § 4 KSchG erweiternden Antrag ein rechtliches Interesse haben. Es kann zB entfallen, wenn alle bis dahin vorhandenen Beendigungstatbestände durch jeweils separate Anträge abgedeckt sind (vgl. nur BAG, Urteil vom 18. 8. 2005 – 8 AZR 523/04).

Ein solches Interesse ist vorliegend nicht erkennbar, insbesondere nachdem die Beklagte erklärte, es gebe über die streitgegenständliche Beendigung keine weiteren Beendigungstatbestände. Der Kläger hat keine weiteren Beendigungstatbestände neben der Kündigung vom 17.10.2023 vorgetragen. Gegen die genannte Kündigung hat er bereits punktuelle Kündigungsschutzanträge gestellt.

II. Die im Übrigen zulässige Klage hatte Erfolg. Die Kündigung der Beklagten ist wegen Verletzung von § 1 Abs. 3 KSchG rechtsunwirksam.

a. Es kann zugunsten der Beklagten unterstellt werden, dass ein formwirksamer Interessenausgleich mit Namensliste vorliegt, der bei unveränderter Sachlage die Rechtsfolge des § 1 Abs. 5 KSchG auslöst.

aa. Insbesondere ist auch eine Betriebsänderung iSv § 111 S. 3 Nr. 1 BetrVG gegeben. Um eine Betriebsänderung handelt es sich auch bei einem bloßen Personalabbau, wenn die Zahlen und Prozentangaben des § 17 Abs. 1 KSchG erreicht sind (st. Rspr., vgl. nur BAG, Urteil vom 20. 9. 2012 – 6 AZR 155/11 Rn. 17). Der Personalabbau überschritt hier die Zahlenwerte des § 17 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 KSchG. Von etwa 170 Arbeitnehmer*innen sollten mehr als 50 Arbeitnehmer*innen gekündigt werden. Dies sind mehr als 10 % der Belegschaft.

bb. Auch kann davon ausgegangen werden, dass das Schriftformerfordernis ordnungsgemäß erfüllt worden ist. Nach § 112 Abs. 1 S. 1 BetrVG ist ein Interessenausgleich übereine geplante Betriebsänderung schriftlich niederzulegen und vom Unternehmer und vom Betriebsrat zu unterschreiben. Auf das gesetzliche Schriftformerfordernis sind die §§ 125, 126 BGB anwendbar. Das Schriftformerfordernis ist nicht deshalb verletzt, weil die Namensliste nicht im Interessenausgleich selbst, sondern in einer Anlage enthalten ist. Erforderlich ist, dass Interessenausgleich und Namensliste eine einheitliche Urkunde bilden. Eine einheitliche Urkunde liegt unzweifelhaft vor, wenn sowohl Interessenausgleich als auch Namensliste unterschrieben und von Anfang an körperlich miteinander verbunden sind. Eine einheitliche Urkunde kann aber selbst dann vorliegen, wenn die Namensliste getrennt vom Interessenausgleich erstellt worden ist. Voraussetzung ist, dass im Interessenausgleich auf die zu erstellende Namensliste verwiesen wird, die erstellte Namensliste – ebenso wie zuvor der Interessenausgleich – von den Betriebsparteien unterschrieben worden ist und die Liste ihrerseits eindeutig auf den Interessenausgleich Bezug nimmt (BAG, Urteil vom 12.05.2010 – 2 AZR 551/08).

b. Es kann vorliegend dahinstehen, ob sich die Sachlage nach Zustandekommen des Interessenausgleichs wesentlich geändert hat, auch wenn der Vortrag des Klägers bereits nicht hierfür spricht. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung, ob sich die Sachlage geändert hat, ist der Zugang der Kündigung. Bei späteren Änderungen kommt nur ein Wiedereinstellungsanspruch in Betracht (BAG, Urteil vom 21.02.2001 – 2 AZR 39/00). Auch der Kläger führt jedoch zwischen Abschluss des Interessenausgleichs und Zugang der Kündigung keine wesentliche Änderung der Sachlage an.

c. Auch kann zugunsten der Beklagten unterstellt werden, dass der Kläger nicht hinreichend dargelegt und bewiesen hat, dass der nach dem Interessenausgleich in Betracht kommende betriebliche Grund in Wirklichkeit nicht besteht. Aufgrund der namentlichen Benennung des Klägers in der Namensliste des Interessenausgleichs wird nach § 1 Abs. 5 KSchG vermutet, dass die Kündigung vom 17.10.2023 durch dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Klägers in diesem Betrieb entgegenstehen, bedingt ist. Diese Vermutung wäre widerlegt, wenn der Kläger substantiiert dargelegt und im Bestreitensfall bewiesen hätte, dass der nach dem Interessenausgleich in Betracht kommende betriebliche Grund in Wirklichkeit nicht besteht. Das Bestreiten der Insolvenzgefahr sowie des Arbeitskraftüberhangs von ca. 60 Prozent der Gesamtbelegschaft durch den Kläger genügt daher den Darlegungslasten nicht.

d. Jedenfalls hat die Beklagte nicht hinreichend zur sozialen Auswahl vorgetragen.

aa. Nach § 1 Abs. 5 S. 2 KSchG kann die soziale Auswahl der Arbeitnehmer*innen nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Die soziale Auswahl ist grob fehlerhaft, wenn ein evidenter, ins Auge springender Fehler vorliegt und der Interessenausgleich, insbesondere bei der Gewichtung der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters und der Unterhaltspflichten jede Ausgewogenheit vermissen lässt.

§ 1 Abs. 5 S. 2 KSchG enthält anders als § 1 Abs. 5 S. 1 KSchG jedoch keine Vermutung und damit auch keine Beweislastumkehr (Zimmermann, in Gallner/Mestwerdt/ Nägele, Kündigungsschutzrecht, 7. Auflage 2021 § 1 KSchG Rn. 913). Verlangen Arbeitnehmer*innen die Angabe der Gründe, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben, ist die Darlegung der Vergleichsgruppenbildung Teil der Auskunftspflicht gern. § 1 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 KSchG. Diese besteht auch dann, wenn Arbeitnehmer*innen in eine Namensliste aufgenommen worden sind. Zwar trifft die Arbeitnehmer*innen gern. § 1 Abs. 3 KSchG die Darlegungs- und Beweislast für eine fehlerhafte Sozialauswahl. Die Arbeitgeberseite ist jedoch auch in den Fällen des § 1 Abs. 5 KSchG verpflichtet, den Arbeitnehmer*innen nach § 1 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 KSchG auf Verlangen die Gründe mitzuteilen, die zu der getroffenen sozialen Auswahl geführt haben. Insoweit besteht eine abgestufte Darlegungslast. Als Konsequenz aus der materiellen Auskunftspflicht der Arbeitgeberseite folgt, dass auf Verlangen der Arbeitnehmerseite im Prozess substanziiert die Gründe vorgetragen werden müssen, die zu der Auswahl veranlasst haben. Erst nach Erfüllung der Auskunftspflicht tragen die Arbeitnehmer*innen die volle Darlegungslast für die Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl. Der Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit ändert an der Verteilung der Darlegungslast nichts (vgl. BAG, Urt. v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12 Rn. 52).

Gibt die Arbeitgeberseite keine oder keine vollständige Auskunft, so können Arbeitnehmer*innen beim Fehlen eigener Kenntnis der aus § 1 Abs. 3 KSchG iVm § 138 Abs. 1 ZPO herzuleitenden Substanziierungspflicht, die Namen sozial stärkerer Arbeitnehmer*innen zu nennen, nicht genügen. In diesen Fällen ist der Vortrag, es seien sozial stärkere Arbeitnehmer*innen vorhanden, schlüssig und ausreichend. Entsprechende Erwägungen gelten, wenn der Vortrag der Arbeitgeberseite Anhaltspunkte dafür bietet, die Sozialauswahl sei – bei Berücksichtigung des Vortrags der Arbeitnehmerseite – grob fehlerhaft nicht auf vergleichbare Arbeitnehmer*innen erstreckt worden, und die Arbeitgeberseite es unterlässt, das Vorbringen zu vervollständigen. Die aus § 1 Abs. 3 S. 1 Hs. 2 KSchG folgende subjektiv determinierte materielle Mitteilungspflicht der Arbeitgeberseite wird in dieser Konstellation ergänzt durch die prozessuale Erklärungspflicht nach § 138 ZPO. Ergibt sich aus der Mitteilung der Arbeitgeberseite, dass Tatsachen, die objektiv erheblich sein können, in die subjektiven Erwägungen nicht einbezogen worden sind, und trägt die gekündigte Arbeitnehmerseite nachvollziehbar vor, gerade aus diesen Tatsachen ergebe sich die grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl, so ist es eine Obliegenheit der Arbeitgeberseite, den Vortrag weiter zu substanziieren. Anderenfalls ist der dem Kenntnisstand der Arbeitnehmerseite entsprechende und sodann konkreter nicht mögliche Vortrag, soziale Gesichtspunkte seien in grob fehlerhafter Weise unberücksichtigt geblieben, als unstreitig anzusehen (vgl. BAG, Urt. v. 19.12.2013-6 AZR 790/12 Rn. 53).

bb. Dieser Auskunftspflicht zur Sozialauswahl ist die Beklagte bislang nicht nachgekommen, obwohl der Kläger die Sozialauswahl gerügt hat.

Die Beklagte beruft sich hinsichtlich der Art und Weise der durchgeführten Sozialauswahl auf die diesbezüglichen Ausführungen im Interessenausgleich. Dieser gibt hingegen letztlich einzig den Gesetzestext wieder.

Gänzlich unbekannt ist so, welche Vergleichsgruppen die Beklagte überhaupt gezogen hat. Nach der Konzeption des § 1 Abs. 3 KSchG ist die Sozialauswahl betriebsbezogen durchzuführen. In die Auswahlentscheidung sind diejenigen vergleichbaren Arbeitnehmer*innen einzubeziehen, welche in demselben Betrieb beschäftigt sind. Es ist das Wesen der Sozialauswahl, dass sie innerhalb der Vergleichsgruppen zu erfolgen hat (BAG, Urt. v. 19.12.2013 – 6 AZR 790/12). Aus der Namensliste lassen sich schlagwortartig auch die Tätigkeiten der zu kündigenden Arbeitnehmer*innen entnehmen. Hieraus ergibt sich, dass neben der Tätigkeit des Klägers als Maschinenbediener unter anderem auch Schichtschlosserinnen, Werkstoffprüferinnen, Schichtführerinnen, Versandmitarbeiterinnen, Einkäuferinnen entlassen werden sollten. Ob und welche Vergleichsgruppen gezogen worden sind und in welcher Gruppe der Kläger war, ist von der Beklagten nicht dargelegt worden. Sofern sich die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer*innen hingegen auf den gesamten Betrieb bezogen haben sollte, wäre eine Vergleichbarkeit sämtliche Arbeitnehmer*innen des Betriebs grob fehlerhaft, wenn sich die Vergleichbarkeit nicht auf den gesamten Betrieb bezieht (vgl. BAG, Urteil vom 19.12.2013 – 6 AZR 790/12 Rn. 44). Von einer Vergleichbarkeit von Schichtführerinnen, Einkäuferinnen und Werkstoffprüferinnen mit der Tätigkeit des Klägers kann nicht ohne weiteres ausgegangen werden.

Auch zu der Herausnahme von Arbeitnehmer*innen aufgrund berechtigter betrieblicher Interesses nach § 1 Abs. 3 S. 2 KSchG fehlt jeglicher Tatsachenvortrag, obwohl hierfür die Beklagte als Arbeitgeberin auch bei Vorliegen eines Interessenausgleichs mit Namensliste darlegungs- als auch beweisbelastet ist (vgl. Zimmermann, in Gallner/Mestwerdt/ Nägele, Kündigungsschutzrecht, 7. Auflage 2021 § 1 KSchG Rn. 913).

III. Gekündigte Arbeitnehmer*innen haben nach § 611 BGB in Verbindung mit § 242 BGB, ausgefüllt durch die Wertentscheidung aus den Artikeln 1 und 2 des Grundgesetzes, einen arbeitsvertragsrechtlichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung über den Ablauf der Kündigungsfrist oder bei einer fristlosen Kündigung über deren Zugang hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsprozesses, wenn die Kündigung unwirksam ist und überwiegende schutzwerte Interessen der Arbeitgeberseite einer solchen Beschäftigung nicht entgegenstehen (st. Rspr seit BAG (Großer Senat), Beschluss vom 27. Februar 1985 – GS 1/84).

IV. Als unterliegende Partei hat die Beklagte die Kosten des Rechtsstreits gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG iVm. § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO zu tragen.

V. Der Streitwert war gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen. Dabei wurden für die Kündigungsschutzklage drei Bruttomonatsgehälter iHd unstreitigen Betrags gemäß § 42 Abs. 2 S. 1 GKG zugrunde gelegt und für den Weiterbeschäftigungsantrag ein weiteres Bruttomonatsentgelt berücksichtigt. Der allgemeine Feststellungsantrag war wegen § 42 Abs. 2 S. 1 GKG, wonach für die Wertberechnung bei Rechtsstreitigkeiten vor den Gerichten für Arbeitssachen über das Bestehen, das Nichtbestehen oder die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses höchstens der Betrag des für die Dauer eines Vierteljahres zu leistenden Arbeitsentgelts maßgebend ist, nicht streitwerterhöhend zu berücksichtigen.

VI. Gemäß § 64 Abs. 3a ArbGG ist im Urteilstenor klarzustellen, ob die Berufung gesondert zugelassen wird. Ein Grund zur Zulassung der Berufung gemäß § 64 Absatz 3 ArbGG ist nicht gegeben, da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien betrifft und die Kammer auch nicht von einem Urteil des im Rechtszug übergeordneten Landesarbeitsgerichts abweicht. Auch weicht die Kammer nicht in einem Urteil, das für oder gegen eine Partei des Rechtstreits ergangen ist, ab, noch beruht die Entscheidung auf dieser Abweichung.

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