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Fristlose Kündigung wegen grober Beleidigung – Abmahnungserfordernis

Landesarbeitsgericht Thüringen: Keine fristlose Kündigung ohne Abmahnung

Das Landesarbeitsgericht Thüringen hat entschieden, dass die fristlose Kündigung einer Mitarbeiterin aufgrund grober Beleidigung nicht rechtmäßig war, da vorher keine Abmahnung erfolgte. Die Kündigung wurde als unverhältnismäßig eingestuft, da die Mitarbeiterin zuvor in einer demütigenden und gesundheitsschädlichen Umgebung arbeiten musste. Zudem wurden ihre Beleidigungen als Reaktion auf diese Behandlung und nicht als ausreichend schwerwiegend angesehen, um eine fristlose Kündigung ohne vorherige Abmahnung zu rechtfertigen.

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Das Wichtigste in Kürze


Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  1. Unrechtmäßigkeit der fristlosen Kündigung: Das Gericht befand die fristlose Kündigung aufgrund von Beleidigungen ohne vorherige Abmahnung als unzulässig.
  2. Erfordernis einer Abmahnung: Eine Abmahnung wurde als notwendiger Schritt vor einer Kündigung angesehen.
  3. Arbeitsbedingungen als mildernder Faktor: Die demütigenden und gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen, unter denen die Klägerin arbeiten musste, wurden als mildernder Umstand berücksichtigt.
  4. Keine unmittelbare Schwere der Verfehlung: Die Beleidigungen wurden nicht als so schwerwiegend eingestuft, dass sie eine sofortige Kündigung rechtfertigen würden.
  5. Bedeutung des Vertrauensverlusts: Es wurde hinterfragt, ob der Klägerin bewusst war, dass ihr Verhalten zum Vertrauensverlust und damit zur Kündigung führen könnte.
  6. Rolle des emotionalen Zustands: Der emotionale Zustand der Klägerin aufgrund der Arbeitsbedingungen wurde als relevant für ihre Äußerungen angesehen.
  7. Berücksichtigung der Gesamtumstände: Das Gericht nahm eine Gesamtbetrachtung der Situation vor, einschließlich der Behandlung der Klägerin durch die Beklagte.
  8. Verhalten des Arbeitgebers: Das Verhalten des Arbeitgebers, insbesondere im Umgang mit der Klägerin nach ihrem erfolgreichen Widerspruch gegen eine frühere Kündigung, wurde als problematisch angesehen.

Der Weg zur außerordentlichen Kündigung: Eine Analyse der Ereignisse

Kündigung wegen Beleidigung
(Symbolfoto: fizkes /Shutterstock.com)

Im Zentrum des Falls steht die Klägerin, eine Ökonomin, die seit 2003 bei der Beklagten beschäftigt war. Ihre Arbeitgeberin, die Beklagte, hatte ihr Arbeitsverhältnis bereits 2016 aus betriebsbedingten Gründen gekündigt, was jedoch vom Thüringer Landesarbeitsgericht später für unwirksam erklärt wurde. Nach der Rückkehr an ihren Arbeitsplatz musste die Klägerin unter erniedrigenden Bedingungen arbeiten, darunter in einem schimmeligen Keller und bei der Durchführung schwerer Archivierungsarbeiten. Diese Umstände führten zu einem angespannten Arbeitsumfeld, das schließlich in der fristlosen Kündigung der Klägerin gipfelte, nachdem sie während eines Telefonats mit einer ehemaligen Kollegin beleidigende Äußerungen über den Geschäftsführer und andere Mitarbeiter gemacht hatte.

Kern der Auseinandersetzung: Vorwürfe und Verteidigung

Die Beklagte behauptete, dass die Klägerin sich durch ihre Äußerungen strafbar gemacht und dem Unternehmen wirtschaftlichen Schaden zugefügt habe. Diese Behauptungen stellten die Grundlage für die außerordentliche, fristlose Kündigung dar. Die Klägerin hingegen setzte sich gegen diese Kündigung zur Wehr und zog vor Gericht. Das Arbeitsgericht Nordhausen stellte fest, dass die Kündigung unrechtmäßig war, da sie unverhältnismäßig und ohne vorherige Abmahnung erfolgt war. Das Gericht berücksichtigte dabei die schwierigen Arbeitsbedingungen und den emotionalen Zustand der Klägerin, die als mildernde Umstände angesehen wurden.

Urteil des Landesarbeitsgerichts Thüringen: Abwägung und Begründung

Das Landesarbeitsgericht Thüringen wies die Berufung der Beklagten zurück und bestätigte die Entscheidung des Arbeitsgerichts Nordhausen. Die Richter stellten fest, dass die Kündigung mangels vorheriger Abmahnung unverhältnismäßig und somit nicht wirksam war. Die Kammer nahm dabei Bezug auf die Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts und ergänzte, dass es an substantiierten Beweisen für die behaupteten schwerwiegenden Verfehlungen der Klägerin fehlte. Das Gericht betrachtete auch die langjährige Betriebszugehörigkeit der Klägerin und ihre persönlichen Umstände, was zu einer umfassenden Abwägung der Interessen beider Parteien führte.

Die Bedeutung des Urteils im Arbeitsrecht

Dieser Fall wirft ein Schlaglicht auf die Komplexität von Kündigungsprozessen und die Bedeutung der Abmahnungserfordernis im deutschen Arbeitsrecht. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Thüringen unterstreicht, dass die Umstände jedes einzelnen Falles sorgfältig geprüft werden müssen, bevor eine Kündigung ausgesprochen wird. Zudem zeigt das Urteil, dass Arbeitsgerichte bereit sind, die Rechte der Arbeitnehmer zu schützen, insbesondere in Fällen, in denen sie unter schwierigen Bedingungen arbeiten müssen. Dieses Urteil dient als wichtiger Referenzpunkt für ähnliche Fälle und betont die Notwendigkeit einer ausgewogenen und fairen Beurteilung in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten.

In der Folge dieses Urteils wird das Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und der Beklagten fortgesetzt, da die fristlose Kündigung als nicht rechtskräftig angesehen wurde. Dieses Urteil ist somit nicht nur für die beteiligten Parteien von Bedeutung, sondern auch für die Arbeitsrechtsgemeinschaft insgesamt, da es die Standards für die Beurteilung solcher Fälle in Zukunft setzt.

Wichtige Fragen und Zusammenhänge kurz erklärt


Inwiefern spielt das Abmahnungserfordernis eine Rolle bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer fristlosen Kündigung?

Das Abmahnungserfordernis spielt eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer fristlosen Kündigung. In der Regel ist eine Abmahnung erforderlich, bevor eine verhaltensbedingte Kündigung ausgesprochen werden kann. Dies gilt insbesondere, wenn dem Arbeitnehmer ein steuerbares Verhalten vorgeworfen wird. Eine fristlose Kündigung ist in solchen Fällen ausgeschlossen und eine Kündigung erst im Wiederholungsfall zulässig.

Die Abmahnung dient als Warnung und soll den Arbeitnehmer auf sein Fehlverhalten hinweisen und ihm die Möglichkeit geben, sein Verhalten zu ändern. Sie ist Ausdruck des Ultima-Ratio-Prinzips der fristlosen Kündigung, das besagt, dass eine fristlose Kündigung nur als letztes Mittel in Betracht kommt, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.

Es gibt jedoch Ausnahmen von dieser Regel. In bestimmten schwerwiegenden Fällen, wie beispielsweise bei einer Straftat gegen den Arbeitgeber, kann eine fristlose Kündigung auch ohne vorherige Abmahnung rechtmäßig sein.

Die Relevanz einer Abmahnung hängt auch von der Dauer der Betriebszugehörigkeit und dem bisherigen Verhalten des Arbeitnehmers ab. Eine bereits Jahre zurückliegende Abmahnung kann unter Umständen ihre Wirkung verlieren. Wenn der Arbeitnehmer sich über Jahre hinweg ordnungsgemäß verhalten hat, muss dies bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer fristlosen Kündigung berücksichtigt werden.

Es ist auch wichtig zu beachten, dass die Abmahnung bestimmte formale Anforderungen erfüllen muss. Sie muss eindeutig und bestimmt die Mängel darstellen und auf das erwartete Verhalten hinweisen. Zudem muss sie die Konsequenzen für den Fall einer Wiederholung des Fehlverhaltens aufzeigen.

Insgesamt ist das Abmahnungserfordernis ein zentraler Aspekt bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer fristlosen Kündigung. Es dient dem Schutz des Arbeitnehmers und soll sicherstellen, dass eine fristlose Kündigung nur als letztes Mittel eingesetzt wird.

Welche Kriterien werden angelegt, um eine grobe Beleidigung im Arbeitskontext zu bewerten?

Die Bewertung einer groben Beleidigung im Arbeitskontext hängt von verschiedenen Kriterien ab. Hier sind einige der wichtigsten Faktoren:

  • Schwere der Beleidigung: Die Beleidigung muss erheblich sein, um als grob betrachtet zu werden. Beispielsweise bewerten Arbeitsgerichte bestimmte vulgäre Ausdrücke in den meisten Fällen als grobe Beleidigungen.
  • Kontext der Beleidigung: Der Kontext, in dem die Beleidigung geäußert wurde, spielt eine wichtige Rolle. Wenn beispielsweise der allgemeine Umgangston am Arbeitsplatz rau ist, sind die Hürden für eine grobe Ehrverletzung höher. Auch die Umstände, unter denen die Beleidigung geäußert wurde, sind relevant. Wenn sich in aufgebrachten Streitsituationen die andere Seite ebenfalls im Ton vergreift, verliert die Beleidigung an Bedeutung.
  • Auswirkungen der Beleidigung: Eine grobe Beleidigung kann das Betriebsklima massiv beeinträchtigen, die Autorität eines Vorgesetzten untergraben und besonders kränkend sein.
  • Vorverhalten des Beleidigten: Das Vorverhalten des Beleidigten kann ebenfalls berücksichtigt werden.
  • Wiederholung der Beleidigung: Wiederholte unhöfliche Äußerungen oder Beleidigungen können zu einer Kündigung führen.
  • Interessenabwägung: Bei der Bewertung einer groben Beleidigung wird auch eine umfassende Abwägung der beiderseitigen Interessen vorgenommen.

Es ist zu beachten, dass eine grobe Beleidigung zu einer außerordentlichen Kündigung führen kann, wenn sie eine erhebliche Ehrverletzung für den Betroffenen darstellt. Allerdings muss vor einer Kündigung in der Regel eine Abmahnung erfolgen, um dem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu geben, sein Verhalten zu ändern. In besonders schweren Fällen kann jedoch eine Kündigung ohne vorherige Abmahnung erfolgen.

Was bedeutet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf arbeitsrechtliche Kündigungen?

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Kontext arbeitsrechtlicher Kündigungen ist ein zentrales Rechtsprinzip, das besagt, dass die Handlungen oder Entscheidungen eines Arbeitgebers gegenüber einem Arbeitnehmer nicht übermäßig sein dürfen. Dies bedeutet, dass eine Kündigung nur als letztes Mittel (Ultima Ratio) in Betracht kommt, wenn alle anderen, weniger einschneidenden Maßnahmen, wie zum Beispiel eine Abmahnung, Versetzung oder Änderungskündigung, nicht möglich oder unzumutbar sind.

Der Arbeitgeber muss also vor Ausspruch der Kündigung prüfen, ob sich die Kündigung durch eine anderweitige Beschäftigung, eventuell zu schlechteren Arbeitsbedingungen, vermeiden lässt. Bei einer Kündigung aufgrund von Fehlverhalten wäre der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt, wenn der Arbeitgeber ohne vorherige Abmahnung direkt zur Kündigung übergeht, obwohl das Fehlverhalten des Mitarbeiters minimal und möglicherweise einmalig war.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt auch bei einer betriebsbedingten Kündigung. In diesem Fall muss der Arbeitgeber prüfen, ob der Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz im Betrieb weiterbeschäftigt werden könnte. Ist dies der Fall und der Arbeitgeber spricht dennoch eine Kündigung aus, wäre dies ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.

Wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht beachtet wird, kann die Kündigung unwirksam sein und der Arbeitnehmer kann sich im Prozess darauf berufen.


Das vorliegende Urteil

Landesarbeitsgericht Thüringen – Az.: 4 Sa 212/21 – Urteil vom 29.06.2022

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Nordhausen vom 26.03.2021 – 3 Ca 1153/19 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung vom 29.11.2019 des ohnehin aufgrund einer nicht angegriffenen vorhergehenden Kündigung mit Ablauf des 29.02.2020 endenden Arbeitsverhältnisses.

Die am 28.03.1957 geborene, verheiratete Klägerin war seit dem 01.02.2003 bei der Beklagten als Ökonomin beschäftigt.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis schon am 24.11.2016 aus betriebsbedingten Gründen. Diese Kündigung wurde vom Thüringer Landesarbeitsgericht mit Urteil vom 10.04.2019 (2 Sa 150/18) rechtskräftig für unwirksam erklärt. Im Anschluss an diese Kündigung stritten die Parteien über verschiedene Zahlungsansprüche u. a. aus Annahmeverzug. Nachdem die Klägerin an ihren Arbeitsplatz zurückkehren wollte, wurde sie zunächst in einem Keller, in dem Schimmel, Mäuse, Mäusekot und Mäusedreck waren bei einer Temperatur von 11 °C mit Archivierungsarbeiten beschäftigt. Zum Zeitpunkt der hier der streitigen außerordentlichen Kündigung zugrunde liegenden Vorfälle hatte sie ein Büro zugewiesen bekommen. Um die ihr übertragenen Archivierungsarbeiten durchzuführen, musste sie über den Hof gehen. Sie musste die schweren Akten transportieren. Dabei wurde sie auch von ihren Kolleg*innen beobachtet.

Mit der Klägerin am 02.09.2019 zugegangenem Schreiben kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 29.02.2020. Hiergegen hat sich die Klägerin nicht zur Wehr gesetzt.

Am 28.11.2019 telefonierte die Klägerin mit ihrem privaten Handy während der Arbeitszeit mit einer ehemaligen Arbeitskollegin. Die Klägerin hatte auf ihrem Handy den Lautsprecher angestellt. Zwei Kolleginnen, Frau J und Frau S, hörten den Inhalt dieses Gesprächs, der im Übrigen streitig ist.

Mit der Klägerin am 29.11.2019 zugegangenem Schreiben kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos. Hiergegen richtet sich die am 11.12.2019 beim Arbeitsgericht Nordhausen eingegangene Kündigungsschutzklage.

Die Beklagte hat behauptet, die Klägerin habe der Beklagten zugunsten eines Wettbewerbers wirtschaftlichen Schaden zugefügt und sich wegen Verletzung eines Geschäftsgeheimnisses strafbar gemacht. Sie habe sich über den Geschäftsführer der Beklagten dahingehend geäußert, dass der Flur stinke, nachdem er, der Beklagtengeschäftsführer, diesen beschritten habe. Sie habe die Mitarbeiterin …. als „fette ….“, die Kollegin Frau … als „blöde ….“ bezeichnet und im Hinblick auf die Mitarbeiterin Frau …… geäußert „die … latscht und pfeift wie ein Kerl über den Flur.“

Wegen des Weiteren unstreitigen und streitigen Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug sowie der dort gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils auf S. 2 – 4 des Urteilsabdrucks (Bl. 103 – 105 der Akte) Bezug genommen.

Mit Urteil vom 26.03.2021 hat das Arbeitsgericht festgestellt, dass die außerordentliche Kündigung vom 29.11.2019 das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst hat. Hinsichtlich des Vortrags des Kündigungsgrundes eines Wettbewerbsverstoßes und eines Verstoßes gegen das Gesetz zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen sei der Sachvortrag der Beklagten nicht substantiiert genug gewesen. Die groben Beleidigungen gegenüber dem Beklagtengeschäftsführer sowie der Kolleginnen könnten grundsätzlich geeignet sein, einen Grund für eine außerordentliche Kündigung abzugeben. Es könne zugunsten der Beklagten unterstellt werden, dass ihr diesbezüglicher Sachvortrag richtig sei. Die Verfehlungen seien allerdings nicht so schwer, als dass sie ohne vorherigen Ausspruch einer Abmahnung in diesem Einzelfall schon für den Ausspruch einer Kündigung taugten. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Seiten 4-8 des Entscheidungsabdrucks, Bl. 105-109 d.A.) Bezug genommen.

Gegen dieses ihr am 20. August 2021 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit am 14.09.2021 beim Thüringer Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit am 11.10.2021 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Das Arbeitsgericht sei fehlerhaft zu der Auffassung gekommen, dass die Kündigung unverhältnismäßig und zuvor eine Abmahnung erforderlich gewesen sei. Bei den von der Klägerin getätigten Äußerungen habe es sich neben der Störung des Betriebsfriedens um massive Beleidigungen gegenüber ihres, der Beklagten, Geschäftsführers sowie weiterer Arbeitskolleginnen, mithin um Straftaten gehandelt. Der Klägerin hätte erkennbar sein müssen, dass sie dadurch jegliches Vertrauen bei ihr, der Beklagten, verspielt habe. Ihr habe klar sein müssen, dass diese Verfehlungen dermaßen schwer seien, dass sie gekündigt werde. Die Beleidigungen seien nicht im Affekt oder in einer direkten Konfrontation erfolgt. Sie seien gegenüber einer außenstehenden Dritten geäußert worden. Sie habe in diesem Zusammenhang auch

der ehemaligen Arbeitskollegin mitgeteilt, dass sie nur noch zwei Monate durchhalten müsse und für Nichtstun einen Haufen Geld bekäme. Das offenbare ihre Planungen, noch bis Ende Januar zur Arbeit zu erscheinen, die letzten sechs Wochen bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses Urlaub zu nehmen oder arbeitsunfähig zu sein. Bei der Sachlage sei es ausgeschlossen, dass eine Abmahnung die Klägerin zu einem anderen Verhalten veranlasst hätte.

Die Entscheidung des Arbeitsgerichts sei auch überraschend. Zunächst sei vom Gericht angedeutet worden, dass die Äußerungen für eine fristlose Kündigung ausreichten, es seien Zeugen geladen worden und im Termin sei überraschend mitgeteilt worden, dass diese Zeugen nicht gehört werden müssten. Da die Ausführungen in einem privaten Telefonat gefallen seien, seien diese geschützt und könnten nicht verwertet werden. Die Entscheidung stütze sich daher nur auf die fehlende Abmahnung, welche vorher nicht erörtert worden sei.

Die Beklagte beantragt, unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Nordhausen die Klage der Klägerin abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens als zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist unbegründet. Die Kündigung vom 29.11.2019 hat das Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst, weil sie mangels vorheriger Abmahnung unverhältnismäßig und deshalb nicht wirksam ist.

Zur Begründung nimmt die Kammer Bezug auf die im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der Kündigung und des Erfordernisses einer vorherigen Abmahnung sowie im Hinblick auf die fehlende Substanz der Kündigungsvorwürfe der wettbewerbswidrigen Schädigung und des Verrats von Geschäftsgeheimnissen hinreichend ausführlichen und überzeugenden Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts, welchen die Kammer folgt und die sie sich zu eigen macht (§ 69 Abs. 2 ArbGG).

Die Ausführungen in der Berufung veranlassen folgende Ergänzungen:

Zum Aspekt, die Klägerin habe der Beklagten zugunsten eines Wettbewerbers wirtschaftlichen Schaden zugefügt und sich wegen Verletzung eines Geschäftsgeheimnisses strafbar gemacht, trägt die Beklagte im zweiten Rechtszug nichts vor. Der Vortrag bleibt unsubstantiiert. Offensichtlich verfolgt sie dies als Kündigungsgrund nicht weiter.

Das Urteil gilt nicht als eines ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe, weil es nicht später als fünf Monate nach Verkündung vollständig an die Geschäftsstelle gegeben wurde.

Soweit die Beklagte die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt, weil die Frage einer Abmahnung im ersten Rechtszug nie thematisiert worden sei und das Arbeitsgericht im Laufe des Verfahrens zunächst geäußert habe, die vorgetragenen Vertragsverletzungen seien für eine Kündigung ausreichend, führt dies hier nicht zum Erfolg der Berufung, weil dieser Verfahrensmangel in der zweiten Instanz zu heilen wäre und die Beklagte nicht vorgetragen hat, was sie auf einen entsprechenden Hinweis des Gerichts hin an weiteren Tatsachen vorgetragen hätte.

Die zentrale Begründung der Berufung ist, dass die von ihr geschilderten beleidigenden Äußerungen der Klägerin dermaßen gravierend gewesen seien, dass sie Straftaten darstellten und es der Klägerin hätte klar sein müssen, dass sie, die Beklagte, dies nicht so hinnehmen und deshalb das Arbeitsverhältnis beenden werde.

Dem folgt die Kammer hier im Ergebnis nicht.

Es kann offen bleiben, ob die als beleidigend titulierten Äußerungen der Klägerin über den Geschäftsführer der Beklagten und die Kolleginnen grundsätzlich geeignet sind, im Normalfall eine Kündigung ohne vorherige Abmahnung zu rechtfertigen. Hier kann aufgrund besonderer Umstände, die im Wesentlichen die Beklagte zu vertreten hat, nicht festgestellt werden, dass der Klägerin klar gewesen sein muss, die Beklagte würde dieses Verhalten nicht hinnehmen, und dass auszuschließen wäre, die Klägerin hätte nach einem entsprechenden Hinweis mit Kündigungsandrohung ihr Verhalten nicht umgestellt und die restliche Zeit des Arbeitsverhältnisses störungsfrei bewältigt.

Nachdem die Klägerin rechtskräftig im Rechtsstreit über die Kündigung aus dem Jahr 2016 obsiegt hatte, musste sie nach ihrer Rückkehr ins Arbeitsverhältnis zunächst in einem verschimmelten und verdreckten Keller bei 11 Grad Celsius arbeiten. Sie musste sich auch offensichtlich unstreitige Ansprüche wie Urlaubsentgelt erstreiten. Später musste sie von ihrem Büro aus über den Hof gehen und schwere Unterlagen tragen, um die ihr angewiesenen

Archivarbeiten zu bewältigen, obschon es einen weniger anstrengenden Zugang zum Archiv gegeben hätte. Das alles hat die Kammer ihrer Entscheidungsfindung als unstreitig zu Grunde zu legen, weil der entsprechende Sachvortrag der Klägerin trotz eines Hinweises auf die Relevanz für die Entscheidung im Hinweis vom 28.2.2022 (Bl. 161 d.A.) von der Beklagten nicht bestritten worden ist (§ 138 Abs. 3 ZPO). Diese hat nur die Notwendigkeit der Archivarbeiten verteidigt, nicht aber zu den Umständen der Beschäftigung Stellung genommen.

Die Klägerin hat diese Situation als erniedrigend und schikanös empfunden und fühlte sich von einigen Kollegen schlicht „ausgelacht“ (Seiten 2 und 3 der Berufungserwiderung, Bl. 151/152 d.A.).

In einer solchen Situation kann nicht ausgeschlossen werden und ist eher naheliegend, dass einem*r Arbeitnehmer*in der Blick dafür verstellt ist, welche Bedeutung es hat, wenn er*sie sich in der behaupteten Art gegenüber einer ehemaligen Kollegin über die Arbeit, die Vorgesetzten und Kolleg*innen äußert. Aufgrund dieser besonderen Situation steht nicht mit der für eine Entscheidungsfindung erforderlichen Sicherheit fest, dass eine Abmahnung nicht den gewünschten Effekt gezeitigt hätte.

Die als Beleidigung apostrophierten Äußerungen der Klägerin waren auch nicht derart ungeheuerlich und schwerwiegend, dass allein deshalb der Beklagten die Weiterbeschäftigung unzumutbar gewesen wäre. Dabei ist auch das Verhalten der Beklagten zu berücksichtigen. Diese hat die Klägerin menschenunwürdig in einem kalten, verdreckten und gesundheitsgefährdenden, weil verschimmelten Keller beschäftigt. Obschon das keine Rechtfertigung für Beleidigungen ist, stellt es eine Zumutung dar. Entsprechend erhöht ist das Maß an Zumutbaren, welches die Beklagte hinzunehmen hat.

Der Umstand, dass die Klägerin sich auch gegen Arbeitskolleg*innen gewandt hat, führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Die Arbeitskolleg*innen tragen keine Verantwortung für die oben geschilderten Arbeitsbedingungen. Zugunsten der Klägerin ist zu berücksichtigen, dass durch eine solche Behandlung verständlicherweise die Unzufriedenheit im Arbeitsverhältnis extrem groß ist und dass dies auch zu einer emotionalen außergewöhnlichen Situation führt. Dass ein*e Arbeitnehmer*in in einer solchen Situation u. U. bei Äußerungen über ihre*n Arbeitgeber*in übers Ziel hinaus schießt und die Grenzen des Anstandes überschreitet und auch (ungerechter Weise) schlecht über ihre Arbeitskolleg*innen redet, ist nicht sanktionslos hinnehmbar, führt aber in einer solchen Ausnahmesituation nicht zum Ausspruch einer Kündigung.

Ist nicht auszuschließen, dass der Klägerin der Blick für die Auswirkungen ihrer Äußerungen verstellt war (s.o.), kann auch nicht in einer solchen Situation die Unterscheidung hinsichtlich der Arbeitgeberin und der aus Sicht der Klägerin dieser Sphäre zugeordneten Kolleg*innen vorausgesetzt werden.

Ins Gewicht fällt ferner die lange Betriebszugehörigkeit der Klägerin von 16 Jahren, ihr Lebensalter und der Umstand, dass das Arbeitsverhältnis ohnehin nur noch drei Monate gedauert hätte.

Demgegenüber fallen die durch die Klägerin verursachte Belastung des Betriebsklimas und Beleidigungen an sich nicht derart ins Gewicht, als dass das Beendigungsinteresse der Beklagten ihre Interessen überwöge, denn wie gezeigt, wäre die störungsfreie Abwicklung des Arbeitsverhältnisses durch Ausspruch einer Abmahnung nicht ausgeschlossen und damit zumutbar gewesen.

Soweit die Beklagte einen Abkehrwillen der Klägerin vermutet und spekuliert, die Klägerin könne vorgehabt haben nur noch bis Ende Januar 2020 zu arbeiten und sodann durch Urlaub und Krankheit die letzten Wochen des Arbeitsverhältnisses zu überbrücken, ist dies rein spekulativ. Der zugrunde gelegte Sachvortrag, die Äußerungen der Klägerin im Telefonat, sie müsse nur noch wenige Wochen durchhalten und bekomme fürs Nichtstun Geld, lassen diese Schlussfolgerung nicht zwingend zu.

Als unterlegene Partei trägt die Beklagte die Kosten der Berufung (§ 97 Abs. 1 ZPO).

Anlass für die Zulassung der Revision bestand nicht.

 

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