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Wartezeitkündigung – Anhörung Schwerbehindertenvertretung

Streit um Wartezeitkündigung: Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß angehört

Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern hat die Kündigung einer schwerbehinderten Angestellten für unwirksam erklärt, da die Beklagte die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß angehört hatte. Dieses Versäumnis verstößt gegen § 178 Abs. 2 SGB IX, wonach der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen relevanten Angelegenheiten unverzüglich und umfassend zu informieren und vor einer Entscheidung anzuhören hat.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 5 Sa 127/22  >>>

Das Wichtigste in Kürze


Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  1. Unwirksamkeit der Kündigung: Die Kündigung ist aufgrund mangelnder Anhörung der Schwerbehindertenvertretung unwirksam.
  2. Rechtliche Grundlage: § 178 Abs. 2 SGB IX fordert eine umfassende und unverzügliche Information sowie Anhörung der Schwerbehindertenvertretung.
  3. Vergleich mit Betriebsrat: Für die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung gelten ähnliche Grundsätze wie für die des Betriebsrats.
  4. Informationspflicht des Arbeitgebers: Der Arbeitgeber muss die Schwerbehindertenvertretung ausreichend informieren, um eine Einflussnahme zu ermöglichen.
  5. Umfassende Unterrichtung: Die Unterrichtung muss den Kündigungsgrund vollständig darlegen, einschließlich des Grades der Behinderung und weiterer Sozialdaten.
  6. Stellungnahmefristen: Analog zu § 102 Abs. 2 BetrVG müssen Stellungnahmen der Schwerbehindertenvertretung innerhalb festgelegter Fristen erfolgen.
  7. Bedeutung der Anhörung: Eine bloße Information reicht nicht aus; es muss eine echte Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden.
  8. Berücksichtigung innerbetrieblicher Praxis: Eine vom Gesetz abweichende Praxis kann die Rechtswirksamkeit einer Kündigung nicht beeinflussen.

Arbeitsrechtliche Herausforderungen: Die Rolle der Schwerbehindertenvertretung bei Kündigungen

Im Zentrum arbeitsrechtlicher Auseinandersetzungen steht oft die Frage nach der korrekten Umsetzung von Kündigungen. Besondere Aufmerksamkeit erfordert dabei der Umgang mit schwerbehinderten Arbeitnehmern, insbesondere im Kontext der Wartezeitkündigung. Dieser Bereich des Arbeitsrechts ist gekennzeichnet durch ein komplexes Zusammenspiel von Arbeitnehmerrechten und den Pflichten des Arbeitgebers, vor allem hinsichtlich der Anhörung und Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung.

Die rechtlichen Vorgaben, wie die in § 178 Abs. 2 SGB IX verankerte Anhörungspflicht, zielen darauf ab, die Interessen schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben angemessen zu schützen. Die Einhaltung dieser Vorschriften stellt eine wesentliche Bedingung für die Wirksamkeit einer Kündigung dar. Nicht selten landen Fälle, in denen es um die ordnungsgemäße Anhörung der Schwerbehindertenvertretung geht, vor dem Arbeitsgericht. In unserem nachfolgenden Artikel beleuchten wir einen solchen Fall, bei dem das Gericht ein entscheidendes Urteil fällte, das die Bedeutung der korrekten Verfahrensweise unterstreicht und weitreichende Folgen für die Praxis des Arbeitsrechts hat. Tauchen Sie mit uns in die Details dieses spannenden und lehrreichen Falles ein.

Der Streitfall: Wartezeitkündigung und die Rolle der Schwerbehindertenvertretung

Im Mittelpunkt des Rechtsstreits steht eine Wartezeitkündigung gegen eine schwerbehinderte Angestellte, die beim Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern verhandelt wurde. Die Klägerin, eine 1985 geborene Fachangestellte für Bürokommunikation, war seit dem 1. September 2021 bei der beklagten Stadt im allgemeinen Verwaltungsdienst beschäftigt. Ihr Arbeitsverhältnis bestimmte sich nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD-V). Im Februar 2022 stellte die Beklagte einen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung bei dem Personalrat und übersandte ein entsprechendes Schreiben an die Schwerbehindertenvertretung. Dieses Schreiben enthielt jedoch lediglich Informationen zum laufenden Verfahren beim Personalrat und keinen expliziten Hinweis auf eine Anhörung der Schwerbehindertenvertretung, was den Kern des Rechtsstreits bildet.

Die rechtlichen Anforderungen an die Kündigung schwerbehinderter Angestellter

Das zentrale rechtliche Problem dieses Falles liegt in der ordnungsgemäßen Anhörung der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 Abs. 2 SGB IX. Dieser Paragraph verlangt, dass die Schwerbehindertenvertretung in allen sie betreffenden Angelegenheiten umfassend und unverzüglich informiert und vor einer Entscheidung angehört wird. Die Anhörung muss den gleichen Grundsätzen folgen wie die Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 und Abs. 2 BetrVG. Die Klägerin argumentierte, dass diese Anhörung nicht ordnungsgemäß erfolgte und das Schreiben der Beklagten keine ausreichende Grundlage für eine solche Anhörung darstellte. Das Arbeitsgericht stimmte dieser Einschätzung zu und erklärte die Kündigung für unwirksam.

Entscheidung des Landesarbeitsgerichts: Kündigung unwirksam

Das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern bestätigte das Urteil des Arbeitsgerichts und wies die Berufung der Beklagten zurück. Das Gericht erklärte, dass die Kündigung unwirksam sei, da die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß angehört worden war. Es wurde festgestellt, dass das Schreiben der Beklagten nicht den Anforderungen des § 178 Abs. 2 SGB IX entsprach und somit die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen ohne eine solche Beteiligung unwirksam ist. Diese Entscheidung unterstreicht die Bedeutung der korrekten Einbindung der Schwerbehindertenvertretung in Kündigungsverfahren und setzt ein klares Signal für die Notwendigkeit einer sorgfältigen Beachtung der gesetzlichen Vorgaben.

Urteilsbegründung und seine Bedeutung für das Arbeitsrecht

Das Gericht betonte in seiner Urteilsbegründung die Wichtigkeit einer vollständigen und umfassenden Unterrichtung der Schwerbehindertenvertretung. Die Anhörung muss so erfolgen, dass sie auf die Willensbildung des Arbeitgebers einwirken kann. Diese Entscheidung hat weitreichende Bedeutung für das Arbeitsrecht, insbesondere im Hinblick auf den Schutz schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben. Sie verdeutlicht die Notwendigkeit einer genauen Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen und die Folgen, die eine Missachtung dieser Vorgaben nach sich ziehen kann. Das Urteil stellt somit einen wichtigen Präzedenzfall für ähnliche Fälle dar und bietet eine klare Orientierung für Arbeitgeber hinsichtlich des korrekten Vorgehens bei der Kündigung schwerbehinderter Angestellter.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Was ist eine Wartezeitkündigung und wie unterscheidet sie sich von anderen Kündigungsarten?

Eine Wartezeitkündigung bezieht sich auf die ersten sechs Monate eines Arbeitsverhältnisses, die als Wartezeit im Sinne des § 1 Abs. 1 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) definiert sind. Während dieser Zeit kann der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ohne Angabe von Gründen kündigen. Dies unterscheidet die Wartezeitkündigung von anderen Kündigungsarten, bei denen in der Regel ein Kündigungsgrund erforderlich ist.

Die Wartezeitkündigung ist jedoch nicht völlig unbeschränkt. Sie darf nicht sitten- oder treuwidrig sein. Eine solche treuwidrige Kündigung könnte beispielsweise dann vorliegen, wenn die Kündigung kurz vor Ablauf der Wartezeit ausgesprochen wird, um den allgemeinen Kündigungsschutz gerade nicht erwerben zu lassen.

Im Vergleich zu anderen Kündigungsarten, wie der ordentlichen und der außerordentlichen Kündigung, hat die Wartezeitkündigung einige Besonderheiten. Die ordentliche Kündigung erfordert die Einhaltung bestimmter Kündigungsfristen, während die außerordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis in der Regel mit sofortiger Wirkung auflöst und die vereinbarten oder gesetzlichen Kündigungsfristen nicht eingehalten werden müssen.

Bei einer Wartezeitkündigung ist die Pflicht des Arbeitgebers zur Begründung des Kündigungsentschlusses nicht an den Vorschriften des noch nicht anwendbaren § 1 KSchG, sondern allein an den Umständen zu messen, aus denen der Arbeitgeber subjektiv seinen Kündigungsentschluss herleitet. Eine negative Bewertung der persönlichen Eignung genügt bei einer Wartezeitkündigung und stellt keine rechtsmissbräuchliche Nutzung des Kündigungsrechts dar.

In welchem Umfang muss die Schwerbehindertenvertretung bei einer Kündigung beteiligt werden?

Die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung (SBV) ist ein wesentlicher Bestandteil des Kündigungsprozesses eines schwerbehinderten Arbeitnehmers. Der Arbeitgeber muss die SBV vor jeder Kündigung, einschließlich einer Änderungskündigung, beteiligen. Dies gilt auch, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer noch nicht den Kündigungsschutz für Schwerbehinderte genießt, also noch keine 6 Monate im Arbeitsverhältnis steht.

Die Beteiligung der SBV kann formfrei erfolgen, sollte aber aus Gründen der „Beweissicherung“ schriftlich erfolgen. Der Arbeitgeber muss die SBV in demselben Umfang informieren wie den Betriebsrat und darf sich nicht auf rein schwerbehindertenspezifische Aspekte beschränken. Eine ordnungsgemäße Anhörung setzt eine ausreichende Unterrichtung voraus und die SBV muss genügend Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

Die Beteiligungsverfahren der SBV und des Betriebsrates stehen gleichrangig nebeneinander und folgen inhaltlich und zeitlich den gleichen Regeln. Die Anhörungen können gleichzeitig eingeleitet werden, vor oder nach dem Antrag an das Integrationsamt, zwingend aber vor Ausspruch der Kündigung.

Eine Kündigung, die ohne die erforderliche Beteiligung der SBV ausgesprochen wird, ist unwirksam und beendet das Arbeitsverhältnis nicht. Eine fehlende oder nicht ordnungsgemäße Anhörung der SBV macht die Kündigung eines schwerbehinderten Mitarbeiters unwirksam.

Es ist jedoch zu erwähnen, dass die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers nicht allein deshalb unwirksam ist, weil der Arbeitgeber die SBV nicht unverzüglich über seine Kündigungsabsicht unterrichtet oder ihr das Festhalten an seinem Kündigungsentschluss nicht unverzüglich mitgeteilt hat.


Das vorliegende Urteil

Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern – Az.: 5 Sa 127/22  – Urteil vom 07.03.2023

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Rostock vom 30.06.2022 – 1 Ca 322/22 – wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung in der Wartezeit, insbesondere über die ordnungsgemäße Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung.

Die 1985 geborene Klägerin, die über eine abgeschlossene Ausbildung zur Fachangestellten für Bürokommunikation verfügt, nahm am 01.09.2021 bei der beklagten Stadt eine Vollzeitbeschäftigung im allgemeinen Verwaltungsdienst auf. Laut Arbeitsvertrag vom 30.07.2021 bestimmt sich das Arbeitsverhältnis nach der durchgeschriebenen Fassung des Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst für die Verwaltung (TVöD-V) und den ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) jeweils geltenden Fassung. Die Beklagte übertrug der Klägerin die Aufgaben der Assistenz- und Vorzimmerkraft des Amtsleiters im Amt für Mobilität. Die Klägerin erhielt die Vergütung der Entgeltgruppe 5 TVöD-V zuzüglich einer Zulage. Das Versorgungsamt B. erkannte ihr befristet für den Zeitraum vom 26.02.2019 bis 31.10.2022 einen Grad der Behinderung von 50 zu.

Seit dem 01.12.2021 ist die Klägerin durchgängig arbeitsunfähig.

Mit Schreiben vom 08.02.2022 beantragte die Beklagte beim Personalrat die Zustimmung zu der beabsichtigten ordentlichen Kündigung der Klägerin. Sie teilte dem Personalrat die Sozialdaten der Klägerin mit (Geburtsdatum, Beginn der Beschäftigung, Tätigkeit, Eingruppierung, Familienstand, Schwerbehinderung) sowie die in Aussicht genommene Kündigungsfrist. Zur Begründung der Kündigung verwies sie auf die bei der Klägerin aufgetretenen Schwierigkeiten mit der selbstständigen Koordinierung der Vorgänge zwischen den Fachbereichen und bei dem effizienten Aufbau des Sekretariats sowie daraus folgend die nach Einschätzung des unmittelbaren Vorgesetzten bislang nicht feststellbare fachliche Eignung der Klägerin.

Der Schwerbehindertenvertretung übersandte die Beklagte dieses Schreiben an den Personalrat mit dem folgenden, ebenfalls auf den 08.02.2022 datierten Anschreiben:

„…

Ihre Mitbestimmung gemäß § 68 Abs. 1 Nr. 2 Personalvertretungsgesetz für das Land Mecklenburg-Vorpommern vom 24. Februar 1993

Antrag auf Zustimmung zur ordentlichen Kündigung von Frau …, Vorzimmerkraft im Amt für Mobilität innerhalb der Probezeit mit einer Kündigungsfrist von zwei Wochen zum Monatsschluss

Sehr geehrter Herr J.,

als Anlage erhalten Sie eine Kopie des Schreibens an den Personalrat der Stadtverwaltung.

Mit freundlichen Grüßen

…“

Der Personalrat stimmte der Kündigung in seiner Sitzung am 16.02.2022, an der auch der Schwerbehindertenvertreter teilnahm, nicht zu. Zur Begründung verwies der Personalrat in seinem Schreiben vom 17.02.2022 auf die seiner Ansicht nach nicht rechtzeitige Einbindung der Schwerbehindertenvertretung und regte eine Verlängerung der Probezeit an, insbesondere im Hinblick auf die positive Einschätzung der Klägerin im Bewerbungsverfahren im Vergleich zu anderen Mitbewerbern.

Mit Schreiben vom 21.02.2022, der Klägerin zugegangen am 24.02.2022, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 31.03.2022.

Die Klägerin hat erstinstanzlich die Ansicht vertreten, dass die Kündigung unwirksam sei, da die Beklagte weder den Personalrat ordnungsgemäß angehört und dessen Zustimmung eingeholt habe noch die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß beteiligt habe. Das Schreiben vom 08.02.2022 an die Schwerbehindertenvertretung, dessen Zugang im Übrigen mit Nichtwissen bestritten werde, stelle keine Anhörung im Sinne des § 178 Abs. 2 SGB IX dar. Es enthalte lediglich eine Information zum Verfahren beim Personalrat. Die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung richte sich nach den Maßstäben der Anhörung des Betriebsrats. Die Schwerbehindertenvertretung müsse zweifelsfrei erkennen können, wann die Anhörungsfrist beginne. Des Weiteren habe es kein betriebliches Eingliederungsmanagement gegeben.

Die Klägerin hat erstinstanzlich beantragt

1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 21.02.2022, zugegangen am 24.02.2022, nicht aufgelöst wird,

2. hilfsweise für den Fall des Obsiegens mit dem Klageantrag zu Ziffer 1, die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin entsprechend ihres Arbeitsvertrags vom 30.07.2021 zu unveränderten Bedingungen als „Beschäftigte im allgemeinen Verwaltungsdienst“ bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag zu Ziffer 1 zu beschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die Kündigung sei wirksam. Die Zustimmungsverweigerung des Personalrats sei unbeachtlich, da er die angeführten Gründe im Rahmen seines Mitbestimmungsrechts nicht geltend machen könne. Die Begründung des Personalrats liege außerhalb seines Kompetenz- und Mitbestimmungsbereichs.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und zur Begründung angeführt, dass die Kündigung bereits deshalb unwirksam sei, weil die Beklagte die Schwerbehindertenvertretung vor Ausspruch der Kündigung nicht angehört habe. Die Beklagte habe schon den Zugang des Schreibens vom 08.02.2022 bei der Schwerbehindertenvertretung nicht näher dargelegt und auch keinen Beweis hierfür angeboten. Darüber hinaus sei es zweifelhaft, ob die Beklagte ihrer Pflicht zur Anhörung der Schwerbehindertenvertretung durch die Übersendung der Personalratsanhörung zur Kenntnisnahme genügt habe.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer fristgerecht eingelegten und begründeten Berufung. Sie habe die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß angehört. Der Schwerbehindertenvertreter, der Zeuge J., habe das Schreiben vom 08.02.2022 noch am selben Tag erhalten. Diese Vorgehensweise entspreche den üblichen Gepflogenheiten bei der Beklagten. Die Schwerbehindertenvertretung habe dies als Unterrichtung im Sinne des § 178 Abs. 2 SGB IX betrachtet. Eben deshalb habe der Zeuge J. in dieser Angelegenheit an der Personalratssitzung am 16.02.2022 teilgenommen. Der Personalrat sei ebenfalls ordnungsgemäß angehört worden. Seine Zustimmung gelte als erteilt, da seine Begründung keinen Ablehnungsgrund enthalte, der sich dem Personalvertretungsgesetz zuordnen lasse.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichtes Rostock vom 30.06.2022 – 1 Ca 322/22 – abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigt die Entscheidung des Arbeitsgerichts. Die Klägerin sei mit ihren Aufgaben nicht überfordert gewesen. Davon abgesehen fehle es aber an einer Anhörung der Schwerbehindertenvertretung. Das Begleitschreiben an den Schwerbehindertenvertreter enthalte keinerlei Hinweis auf eine Anhörung bzw. die Regelung des § 178 Abs. 2 SGB IX. Die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung sei kein Anhängsel der Personalratsbeteiligung. Es müsse zweifelsfrei deutlich werden, dass es sich um eine Unterrichtung und Anhörung handele.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen, die Sitzungsprotokolle und das angegriffene arbeitsgerichtliche Urteil verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht und mit der zutreffenden Begründung stattgegeben. Das Berufungsgericht macht sich die Ausführungen des Arbeitsgerichts zu eigen.

Die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 21.02.2022 zum 31.03.2022 ist unwirksam. Sie verstößt zwar mangels Erfüllung der Wartezeit nicht gegen das Kündigungsschutzgesetz. Es fehlt jedoch an einer Anhörung der Schwerbehindertenvertretung.

Der Arbeitgeber hat nach § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Die ohne eine solche Beteiligung ausgesprochene Kündigung eines schwerbehinderten Menschen ist unwirksam (§ 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX).

Für die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung zur Kündigung eines schwerbehinderten Menschen gelten die gleichen Grundsätze wie für die Anhörung des Betriebsrats nach § 102 Abs. 1 und Abs. 2 BetrVG (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 378/18 –Rn. 15, juris = NZA 2019, 305; LAG Düsseldorf, Urteil vom 10. Dezember 2020 – 5 Sa 231/20 – Rn. 86, juris = LAGE § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 129). Der Arbeitgeber hört die Schwerbehindertenvertretung ordnungsgemäß an, wenn er sie ausreichend unterrichtet und ihr genügend Gelegenheit zur Stellungnahme gibt (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 378/18 – Rn. 20, juris = NZA 2019, 305). Die Unterrichtung muss die Schwerbehindertenvertretung in die Lage versetzen, auf die Willensbildung des Arbeitgebers einzuwirken. Die Unterrichtung ist inhaltlich nicht auf schwerbehindertenspezifische Kündigungsbezüge beschränkt. Der Arbeitgeber muss den Sachverhalt, den er zum Anlass für die Kündigung nehmen will, so umfassend beschreiben, dass sich die Schwerbehindertenvertretung ohne zusätzliche eigene Nachforschungen ein Bild über die Stichhaltigkeit der Kündigungsgründe machen und beurteilen kann, ob es sinnvoll ist, Bedenken zu erheben. Der Arbeitgeber muss die Umstände mitteilen, die seinen Kündigungsentschluss tatsächlich bestimmt haben. Dabei darf er Umstände, die sich bei objektiver Betrachtung zugunsten des Arbeitnehmers auswirken können, der Schwerbehindertenvertretung nicht deshalb vorenthalten, weil sie für seinen Kündigungsentschluss nicht von Bedeutung waren. Neben dem Kündigungssachverhalt sind der Grad der Behinderung des Arbeitnehmers und ggf. die Gleichstellung sowie grds. die weiteren Sozialdaten (Beschäftigungsdauer, Lebensalter, Unterhaltspflichten) mitzuteilen (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 378/18 – Rn. 21, juris = NZA 2019, 305).

Hinsichtlich der Stellungnahmefristen enthält das Sozialgesetzbuch IX seit Einführung der Unwirksamkeitsfolge des § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX eine planwidrige Regelungslücke. Sie ist durch eine analoge Anwendung von § 102 Abs. 2 BetrVG in Verbindung mit den §§ 187 ff. BGB zu schließen. Dementsprechend hat die Schwerbehindertenvertretung etwaige Bedenken gegen eine beabsichtigte ordentliche Kündigung spätestens innerhalb einer Woche und solche gegen eine beabsichtigte außerordentliche Kündigung unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Tagen mitzuteilen. Einer ausdrücklichen Fristsetzung durch den Arbeitgeber bedarf es nicht (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 378/18 – Rn. 23, juris = NZA 2019, 305; LAG Köln, Urteil vom 30. März 2022 – 11 Sa 786/21 – Rn. 21, juris). Das Anhörungsverfahren ist beendet, wenn die Frist zur Stellungnahme durch die Schwerbehindertenvertretung abgelaufen ist oder eine das Verfahren abschließende Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung vorliegt (BAG, Urteil vom 13. Dezember 2018 – 2 AZR 378/18 – Rn. 24, juris = NZA 2019, 305; LAG Düsseldorf, Urteil vom 10. Dezember 2020 – 5 Sa 231/20 – Rn. 86, juris = LAGE § 1 KSchG Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 129).

Der Arbeitgeber hat die Schwerbehindertenvertretung zur Kündigung eines schwerbehinderten Menschen nicht nur zu unterrichten, sondern vor Ausspruch der Kündigung anzuhören. Die Anhörung geht über das bloße Unterrichten hinaus. Anhörung bedeutet, dem Angehörten Gelegenheit zur Äußerung zu geben und diese Äußerung entgegenzunehmen sowie sich ggf. mit ihr auseinanderzusetzen. Der Angehörte muss erkennen können, dass ihm ermöglicht wird, etwas vorzubringen oder eine Stellungnahme abzugeben, die bei der Entscheidungsfindung zumindest bedacht wird. Unterrichten über einen bestimmten Sachverhalt beschreibt die Zuleitung von Informationen und Auskünften hierzu. Anhören heißt demgegenüber, einem anderen zuzuhören und dessen Erklärung, sei sie schriftlich oder mündlich, Aufmerksamkeit zu schenken.

Das Schreiben der Beklagten vom 08.02.2022 an die Schwerbehindertenvertretung enthält lediglich eine Information zu dem laufenden Beteiligungsverfahren beim Personalrat. Weder aus Wortlaut noch Sinn und Zweck lässt sich entnehmen, dass die Schwerbehindertenvertretung Gelegenheit zur Stellungnahme zu der beabsichtigten Kündigung erhält und ein eigenständiges Beteiligungsverfahren gegenüber der Schwerbehindertenvertretung eingeleitet werden soll. Das Schreiben nimmt im Betreff lediglich Bezug auf das Personalvertretungsgesetz, nicht aber auf das Sozialgesetzbuch IX. Die Beklagte beantragt mit dem Schreiben nicht die Zustimmung der Schwerbehindertenvertretung, sondern verweist lediglich auf den entsprechenden Antrag gegenüber dem Personalrat. Der Schwerbehindertenvertreter kann daraus nicht entnehmen, dass er hiermit die Möglichkeit erhält, sich zur beabsichtigten Kündigung der Klägerin zu äußern.

Selbst wenn die Schwerbehindertenvertretung entsprechend den üblichen Gepflogenheiten das Schreiben der Beklagten als Unterrichtung im Rahmen ihrer Aufgaben angesehen haben sollte, ergibt sich daraus noch nicht, dass sie damit – entgegen dem eindeutigen Wortlaut – die Möglichkeit einer Stellungnahme verbunden und dieses Schreiben als fristauslösend verstanden hat. Zum einen liegt keine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung zur Kündigung der Klägerin vor, die einen solchen Schluss rechtfertigen könnte. Zum anderen kommt es auf den objektiven Erklärungswert des Schreibens an, da dessen Wirkung nicht auf den innerdienstlichen Bereich beschränkt ist, sondern gegenüber dem Arbeitnehmer für die Wirksamkeit der Kündigung von Bedeutung ist. Eine vom Gesetz abweichende innerbetriebliche Praxis entfaltet in dem individualrechtlichen Arbeitsrechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer keine Wirkung.

Da die Kündigung bereits wegen Verstoßes gegen § 178 Abs. 2 Sätze 1 und 3 SGB IX unwirksam ist, kann es dahinstehen, ob die Zustimmung des Personalrats nach § 62 Abs. 2 Satz 5 PersVG M-V als erteilt gilt. Beachtlich sind nur solche Einwendungen des Personalrats, die die Unwirksamkeit einer Wartezeitkündigung immerhin als möglich erscheinen lassen, also etwa ein Verstoß gegen § 242 BGB, gegen § 138 BGB, gegen Vorschriften des besonderen Kündigungsschutzes etc. (BAG, Urteil vom 27. Oktober 2005 – 6 AZR 27/05 – Rn. 29, juris = EzBAT § 53 BAT Beteiligung des Personalrats Nr. 29; LAG Thüringen, Urteil vom 8. März 2022 – 5 Sa 62/22 – Rn. 31, juris = ZTR 2022, 565). Die Einschätzung der Eignung gehört nicht dazu (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. Mai 2010 – 23 Sa 127/10 – Rn. 42 f., juris = EzB BBiG § 22 Abs. 1 Nr. 23).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Der Rechtsstreit wirft keine entscheidungserheblichen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.

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