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Außerordentliche krankheitsbedingte Kündigung – Alkoholsucht – BEM

Alkoholsucht im Fokus: Kündigung und betriebliches Eingliederungsmanagement

Die Frage, ob und unter welchen Umständen eine außerordentliche krankheitsbedingte Kündigung aufgrund von Alkoholsucht rechtlich zulässig ist, stellt eine zentrale Problemstellung im Arbeitsrecht dar. Hierbei geht es um die Abwägung zwischen den betrieblichen Interessen des Arbeitgebers und dem Schutz des Arbeitsverhältnisses des Arbeitnehmers.

Das Kernthema umfasst dabei die Prüfung der Voraussetzungen einer solchen Kündigung, insbesondere unter Berücksichtigung des betrieblichen Eingliederungsmanagements und der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Es gilt zu klären, ob die Alkoholsucht und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Arbeitsleistung eine derartige Kündigung rechtfertigen und ob alle notwendigen Schritte, wie etwa Entwöhnungsbehandlungen und die Prüfung alternativer Beschäftigungsmöglichkeiten, vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß durchgeführt wurden.

Weiter zum vorliegenden Urteil Az.: 1 Ca 956/07   >>>

Das Wichtigste in Kürze


Das Gericht entschied, dass die außerordentliche krankheitsbedingte Kündigung aufgrund von Alkoholsucht nicht gerechtfertigt war und betonte die Bedeutung des betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) vor dem Ausspruch einer Kündigung.

Die zentralen Punkte aus dem Urteil:

  1. Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst: Das Gericht stellte fest, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung, sondern durch die fristgemäße Kündigung enden wird.
  2. Alkoholsucht als Krankheit: Die Klägerin, eine Krankenschwester, war alkoholkrank und hatte mehrere Rückfälle und Entwöhnungsbehandlungen.
  3. Kündigung wegen lang anhaltender Erkrankung: Der Arbeitgeber versuchte, das Arbeitsverhältnis aufgrund der Alkoholerkrankung und den damit verbundenen Fehlzeiten zu kündigen.
  4. Anforderungen an Kündigung: Eine krankheitsbedingte außerordentliche Kündigung kann nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen und erfordert eine genaue Prüfung und Begründung.
  5. Betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM): Der Arbeitgeber hätte vor der Kündigung ein BEM durchführen müssen, um Alternativen zur Kündigung zu prüfen.
  6. Interessenabwägung: Das Gericht berücksichtigte die Dauer der Beschäftigung, das Alter der Klägerin und die Tatsache, dass Rückfälle Teil der Krankheit sind.
  7. Keine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit: Der Arbeitgeber konnte nicht nachweisen, dass keine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit für die Klägerin bestand.
  8. Kosten des Rechtsstreits: Die Kosten des Rechtsstreits wurden zwischen Klägerin und Beklagtem geteilt.

Ein komplexer Fall: Alkoholsucht und Kündigung

Im Zentrum des vorliegenden Falls steht eine außerordentliche krankheitsbedingte Kündigung, die aufgrund von Alkoholsucht ausgesprochen wurde. Die Klägerin, eine Krankenschwester, die im intensivmedizinischen Bereich eingesetzt war, hatte in der Vergangenheit zwei stationäre Entwöhnungsbehandlungen aufgrund ihrer Alkoholerkrankung durchlaufen. Trotz dieser Behandlungen kam es zu Rückfällen, die jeweils mit einer Entgiftung behandelt wurden. Der Arbeitgeber, der beklagte V, leitete daraufhin die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen lang anhaltender Erkrankung ein. Die Klägerin bestreitet jedoch das Vorliegen unzumutbarer betrieblicher Belastungen und rügt die ordnungsgemäße Anhörung des Personalrats vor Ausspruch der fristlosen Kündigung.

Rechtliche Herausforderungen und betriebliches Eingliederungsmanagement

Alkoholsucht im Fokus: Kündigung und betriebliches Eingliederungsmanagement
(Symbolfoto: Tero Vesalainen /Shutterstock.com)

Das rechtliche Problem und die Herausforderung in diesem Fall liegen in der Frage, ob die Alkoholsucht der Klägerin eine außerordentliche Kündigung rechtfertigt und ob alle notwendigen Schritte, insbesondere das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM), vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß durchgeführt wurden. Die Klägerin argumentiert, dass ihre Alkoholsucht als Krankheit zu betrachten ist und dass Rückfälle Teil des Krankheitsbildes sind. Der beklagte V hingegen betont die betrieblichen Belastungen und die Notwendigkeit ständiger Kontrollen, um Dienstfehler infolge von Alkoholkonsum zu vermeiden.

Entscheidung des Arbeitsgerichts Naumburg

Das Arbeitsgericht Naumburg entschied, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung vom 04.04.2007 zum 15.04.2007 aufgelöst wurde, sondern gemäß der fristgemäßen Kündigung vom 18.04.2007 zum 30.09.2007 enden wird. Das Gericht begründete seine Entscheidung damit, dass eine krankheitsbedingte außerordentliche Kündigung nur im Ausnahmefall in Betracht kommt und dass der Arbeitgeber im vollen Umfang darlegungs- und beweispflichtig für alle Umstände ist, die als wichtige Gründe für eine Kündigung in Betracht kommen.

Schlussfolgerungen und Auswirkungen auf das Arbeitsrecht

Die Auswirkungen dieses Urteils betonen die Bedeutung des betrieblichen Eingliederungsmanagements und die Notwendigkeit für Arbeitgeber, alle möglichen Maßnahmen zur Erhaltung des Arbeitsplatzes zu prüfen, bevor eine krankheitsbedingte Kündigung ausgesprochen wird. Das Urteil verdeutlicht auch, dass Alkoholsucht als Krankheit betrachtet wird und dass Arbeitgeber bei der Kündigung von alkoholkranken Mitarbeitern strenge Maßstäbe anlegen müssen.

Das Fazit des Urteils ist, dass eine außerordentliche krankheitsbedingte Kündigung aufgrund von Alkoholsucht strengen Anforderungen unterliegt und dass Arbeitgeber verpflichtet sind, alle möglichen Alternativen zu prüfen und ein betriebliches Eingliederungsmanagement durchzuführen, bevor eine solche Kündigung ausgesprochen wird.

Wichtige Begriffe kurz erklärt


Wie ist das „betriebliche Eingliederungsmanagement“ (BEM) definiert und welche Pflichten ergeben sich für den Arbeitgeber?

Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) ist ein Instrument, das Arbeitgebern hilft, Arbeitnehmern mit längeren Arbeitsunfähigkeitszeiten eine möglichst frühzeitige Rückkehr in den Arbeitsprozess zu ermöglichen. Es ist eine Aufgabe des Arbeitgebers mit dem Ziel, Arbeitsunfähigkeit der Beschäftigten eines Betriebes oder einer Dienststelle möglichst zu überwinden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen und den Arbeitsplatz des betroffenen Beschäftigten im Einzelfall zu erhalten.

Seit 2004 müssen Arbeitgeber ein BEM durchführen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen des § 167 Abs. 2 SGB IX vorliegen. Diese Pflicht trifft alle Arbeitgeber, unabhängig von der Betriebsgröße. Die gesetzliche Grundlage besagt, dass Arbeitgeber ein BEM anbieten müssen, wenn Beschäftigte mehr als 42 Tage innerhalb von zwölf Monaten fehlen.

Die Durchführung des BEM ist für den Arbeitgeber gesetzliche Pflicht. Allerdings ist die Verletzung dieser Pflicht nicht mit Bußgeldern verbunden. Wenn jedoch eine personenbedingte Kündigung aufgrund der Krankheit ausgesprochen und diese vor Gericht landet, können sich ohne BEM Nachteile ergeben.

Die Durchführung des BEM erfordert die vorherige Zustimmung des Beschäftigten. Diese muss der Arbeitgeber vom Beschäftigten nach Information über die verwendeten Daten und Ziele des BEM einholen. Verweigert der Beschäftigte die Zustimmung, darf das Verfahren nicht begonnen bzw. weitergeführt werden.

Die konkrete Ausgestaltung des BEM ist gesetzlich nicht geregelt und bietet den Beteiligten einen großen Spielraum. Eine genaue Dauer des BEM lässt sich nicht festlegen. Es kann so lange in Anspruch genommen werden, bis entschieden werden kann, ob durch die Maßnahmen die Arbeitsunfähigkeit überwunden werden kann oder nicht.

Der Arbeitgeber hat die Pflicht, den Arbeitnehmer eindeutig aufzufordern, mit ihm ein BEM-Verfahren durchzuführen. Eine Belehrung nach § 167 Abs. 2 Satz 4 SGB IX gehört zu einem regelkonformen Bemühen des Arbeitgebers, die Zustimmung des Arbeitnehmenden zur Durchführung eines BEM einzuholen.

Zusätzlich zur Beteiligung des betroffenen Arbeitnehmers am BEM-Verfahren legt das Sozialgesetzbuch fest, wer noch am BEM-Verfahren mitwirkt. Dazu gehören der Arbeitgeber oder der Inklusionsbeauftragte, ein Mitglied des Betriebs- oder Personalrats, bei Schwerbehinderten die Schwerbehindertenvertretung sowie das Integrationsamt, der Werks- oder Betriebsarzt, soweit erforderlich, und die Fachkraft für Arbeitssicherheit, soweit erforderlich.


Das vorliegende Urteil

ArbG Naumburg – Az.: 1 Ca 956/07 – Urteil vom 06.09.2007

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung vom 04.04.2007 zum 15.04.2007 aufgelöst wurde, sondern gemäß der fristgemäßen Kündigung vom 18.04.2007 zum 30.09.2007 enden wird.

2. Die Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin und der beklagte V je zur Hälfte zu tragen.

3. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.740,00 € festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten nur noch über die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses infolge einer der Klägerin ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung vom 04.04.2007 zum 15.04.2007 wegen lang anhaltender Krankheit (Alkoholsucht). Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch arbeitgeberseitige ordentliche Kündigung zum 30.09.2007 steht mittlerweile zwischen den Parteien außer Streit.

Die am 99.99.1957 geborene Klägerin ist seit dem 01.12.1996 als vollbeschäftigte Angestellte im Pflegedienst des Eigenbetriebes des beklagten V zu einem monatlichen Bruttoentgelt von zuletzt 2.580,00 € beschäftigt. Ihr Einsatz erfolgte im intensivmedizinischen Bereich. Die Klägerin war in der Zeit vom 15.07.2003 bis zum 07.10.2003 sowie vom 18.09.2006 bis zum 12.12.2006 wegen ihrer Alkoholerkrankung in stationärer Heilbehandlung. In einem Personalgespräch am 02.02.2007 gab die Klägerin auf Befragen zu, dass die beiden bisherigen Entwöhnungsbehandlungen nicht erfolgreich gewesen seien und es erneut zu Rückfällen (Trinken von Alkohol) gekommen sei, die jeweils mit einer Entgiftung in der Klinik für Psychiatrie des Eigenbetriebes des beklagten V es behandelt worden seien. Im Verlaufe dieses Personalgesprächs wies der Personalleiter die Klägerin eindringlich darauf hin, dass auch sie die Einhaltung ihrer Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis schulde. Für den Fall eines erneuten Rückfalls und einer damit verbundenen Arbeitsunfähigkeit drohte der Personalleiter mit einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den beklagten V .

Im Zeitraum vom 18. bis 23.02.2007 sowie seit dem 05.03.2007 ist die Klägerin wiederum arbeitsunfähig erkrankt. Daraufhin fand erneut am 23.03.2007 ein Personalgespräch mit der Klägerin statt. Hierbei erklärte sie, dass die seit 05.03.2007 bestehende Arbeitsfähigkeit durch erneutes Trinken von Alkohol verursacht worden sei und sie sich deshalb wiederum zu einer Entgiftungsbehandlung begeben habe.

Mit Schreiben vom 27.03.2007 leitete die Verwaltungsdirektion des Eigenbetriebes die Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin wegen lang anhaltender Erkrankung beim örtlichen Personalrat ein. Darin unterrichtete der Direktor die Personalratsvorsitzende von seiner Absicht, dass Arbeitsverhältnis fristlos zum 15.04.2007 bzw. vorsorglich ordentlich zum 30.09.2007 zu kündigen. Der Personalrat gab zu diesem Ansinnen der Dienststelle keine Stellungnahme ab.

Sodann sprach der beklagte V unter dem 04.04.2007, der Klägerin am 05.04.2007 zugegangen, zunächst schriftlich die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen lang anhaltender Erkrankung zum 15.04.2007 aus. Mit Schreiben vom 18.04.2007, der Klägerin am 23.04.2007 übergeben, folgte die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen lang anhaltender Erkrankung zum 30.09.2007.

Mit ihrer Klage vom 24.04.2007, beim Arbeitsgericht Naumburg per Telefax am 24.04.2007 eingegangen, hat sich die Klägerin zunächst gegen beide vom beklagten V ausgesprochenen Kündigungen gewandt. Im Kammertermin am 06.09.2007 hat die Klägerin jedoch im Hinblick auf die ordentliche Kündigung zum 30.09.2007 die Klage teilweise zurückgenommen und wehrt sich nunmehr ausschließlich gegen die fristlose Kündigung zum 15.04.2007.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass keine Tatsachen vorliegen, die den beklagten V berechtigt hätten, eine fristlose Kündigung zu erklären. Gerade bei einer Alkoholerkrankung, wie sie bei der Klägerin unstreitig vorliegt, müsse mit Rückfällen gerechnet werden; dies gehöre leider zum Krankheitsbild. Zudem bestreitet die Klägerin das Vorliegen unzumutbarer betrieblicher Belastungen für den beklagten V in der Vergangenheit. Eine Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist am 30.09.2007 sei daher nicht gegeben. Schließlich rügt die Klägerin die ordnungsgemäße Anhörung des Personalrats vor Ausspruch der fristlosen Kündigung.

Die Kläger beantragt zuletzt, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung vom 04.04.2007 zum 15.04.2007 aufgelöst wurde, sondern gemäß der fristgemäßen Kündigung vom 18.04.2007 zum 30.09.2007 enden wird.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Der beklagte V ist der Ansicht, seine fristlose Kündigung habe das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin zum 15.04.2007 beendet. Dem beklagten V sei es aufgrund der erheblichen Fehlzeiten in der Vergangenheit, 242 Arbeitstage im Zeitraum 15.07.2003 bis 04.04.2007, und den Rückfällen der Klägerin nach zwei stationären Heilbehandlungen nicht mehr zumutbar gewesen, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen. Vielmehr liege aufgrund der manifesten Alkoholerkrankung der Klägerin ein wichtiger Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB vor. Es bestehe eine äußerst negative Gesundheitsprognose verbunden mit weiterhin zu erwartenden betrieblichen und wirtschaftlichen Beeinträchtigungen im Betrieb des beklagten V es. Dabei müsse insbesondere Berücksichtigung finden, dass die Klägerin in der Vergangenheit im intensivmedizinischen Bereich eingesetzt gewesen sei; dieser Bereich sei von besonderer Sorgfalt geprägt. Aufgrund dessen sei bei der Anwesenheit der Klägerin eine ständige Kontrolle durch die Stationsschwestern, die Schichtleitung und die Oberschwester (Sicht- und Geruchskontrolle auf Alkoholkonsum) erforderlich gewesen, um etwaige Dienstfehler der Klägerin infolge von Alkohol möglichst zu vermeiden. Dieser Aufwand könne nicht weiterhin betrieben werden. Weitere Fehlzeiten der Klägerin müssten die Krankenschwestern im Arbeitsbereich der Klägerin durch zusätzliche Dienste auffangen; dies sei aber aufgrund der erheblichen Zusatzdienste in der Vergangenheit nicht mehr von den Betroffenen leistbar. Die befristete Einstellung einer Ersatzkraft sei mangels ausreichend ausgebildeter Arbeitskräfte im intensivmedizinischen Bereich auf dem Arbeitsmarkt nicht möglich. Letztlich ist der beklagte V der Auffassung, der Personalrat sei vor Ausspruch der fristlosen Kündigung ausreichend von der Dienststelle über die Kündigungsgründe informiert worden.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den vorgetragenen Inhalt der zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze, den weiteren Akteninhalt sowie auf die mündliche Verhandlung vom 06.09.2007 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die zulässige Klage ist begründet, als festzustellen war, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch die fristlose Kündigung des beklagten V es vom 04.04.2007 zum 15.04.2007 beendet worden ist, sondern aufgrund der mit Schreiben vom 18.04.2007 ausgesprochenen ordentlichen Kündigung des beklagten V es am 30.09.2007 sein Ende finden wird.

Die Klägerin hat die Kündigungsschutzklage ordnungsgemäß innerhalb der dreiwöchigen Klagefrist erhoben (§ 13 Abs. 1 S. 2, § 4 KSchG).

Die als fristlose zum 15.04.2007 ausgesprochene Kündigung des beklagten V es ist unwirksam.

Nach § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung der Kündigungsfrist gekündigt werden. Ein derartiger Kündigungsgrund setzt zunächst voraus, dass ein bestimmter Sachverhalt geeignet ist, einen wichtigen Grund zu bilden und dass darüber hinaus bei Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dabei ist im Falle einer arbeitgeberseitigen Kündigung – wie vorliegend – der Arbeitgeber im vollen Umfang darlegungs- und beweispflichtig für alle Umstände, die als wichtige Gründe in Betracht kommen und er muss zudem etwaige Rechtfertigungsgründe des Arbeitnehmers widerlegen (vgl. ErfK/B.-Glöge, 7. Auflage, § 626 BGB, Rz. 301, 302 m.w.N.).

Nach dem übereinstimmenden Sachvortrag beider Parteien ist die Klägerin zumindest seit 2003 alkoholkrank und hat seitdem zwei stationäre Heilbehandlungen absolviert. Der vorliegende Alkoholismus der Klägerin ist damit kündigungsrechtlich einer Krankheit gleichzusetzen, da eine starke Alkoholabhängigkeit mit Suchtcharakter besteht, die von der Klägerin nicht mehr zu steuern ist. Hierüber besteht zwischen den Parteien kein Streit.

Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BAG kann aber eine krankheitsbedingte außerordentliche Kündigung nur im Ausnahmefall in Betracht kommen. Krankheit ist danach zwar nicht als wichtiger Grund i. S. des § 626 BGB ungeeignet; an eine Kündigung wegen Erkrankung eines Arbeitnehmers ist allerdings schon bei einer ordentlichen Kündigung ein strenger Maßstab anzulegen, so dass nur in eng zu begrenzenden Ausnahmefällen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem kranken Arbeitnehmer für den Arbeitgeber i. S. d. § 626 BGB unzumutbar sein kann (BAG, Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – NZA 2000, S. 141 ff).

Mit der Rechtsprechung des BAG geht die Kammer davon aus, dass die rechtliche Überprüfung einer außerordentlichen Krankheitskündigung wegen Alkoholismus in 3 Prüfungsstufen erfolgt, nämlich der Feststellung einer negativen Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes, einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen sowie einer Interessenabwägung. Hierbei ist den hohen Anforderungen Rechnung zu tragen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind (BAG, Urteil vom 16.09.1999 – 2 AZR 123/99 – a.a.O.).

Die Anwendung dieser Grundsätze führt vorliegend zu folgendem Ergebnis:

1. Was die negative Prognose angeht, ist im Anschluss an den mehrfachen „Rückfall“ der Klägerin nach den Alkoholtherapien davon auszugehen, dass sich hieran auch in Zukunft nichts ändern wird, d. h. dass es erneut zu suchtbedingten Reaktionen und Ausfällen kommt. Ohnehin sind hier, da es sich um eine alkoholbedingte Suchterkrankung handelt, geringere Anforderungen an die negative Gesundheitsprognose zu stellen (BAG, Urteil vom 09.04.1987 – 2 AZR 210/86 – NZA 1987, 811).

2. Des Weiteren muss aufgrund dieser negativen Prognose auch in Zukunft mit erheblicher Beeinträchtigung betrieblicher Interessen gerechnet werden. Das ergibt sich zum einen bereits aus den umfangreichen Ausfallzeiten der Klägerin seit 2003 sowie den damit verbundenen Folgekosten und zusätzlichen Belastungen der weiteren Pflegekräfte im Arbeitsbereich der Klägerin. Darüber hinaus ist eine weitere Form der Beeinträchtigung betrieblicher Interessen in der Weise festzustellen, dass aufgrund der geschuldeten Tätigkeit der Klägerin als Krankenschwester im intensivmedizinischen Bereich eine Selbstgefährdung der Klägerin als auch eine Gefährdung von Patienten durch die bestehende Alkoholsucht nicht ausgeschlossen werden kann, worauf der beklagte V unwidersprochen hingewiesen hat.

3. Jedoch fällt die Abwägung der wechselseitigen Interessen vorliegend zu Lasten des beklagten V es aus:

a) Der mehrfache Rückfall der Klägerin ist Folge ihrer bestehenden Alkoholerkrankung und daher kein steuerbares Verhalten, sondern durch die Sucht bedingt und ohne diese nicht vorstellbar. Dem Rückfall kommt daher – ungeachtet etwaiger bestehender arbeitsvertraglicher Nebenpflichten – kein Verhaltensunwert zu; er ist kündigungsrechtlich nach den personenbedingten Grundsätzen zu behandeln. Es ist gerade auch nicht generell schuldhaft, wenn ein Arbeitnehmer, selbst nach längerer Abstinenz, in Folge einer Therapiemaßnahme wieder rückfällig wird (vgl. Künzl, NZA 1998, 122 [127]; Lepke, DB 2001, 269 [277 – 278]).

Es lässt sich nicht begründen, der Klägerin den Ausbruch dieser äußerst schweren Erkrankung vorzuwerfen, indem man lediglich auf sie einredet, sie müsse Alkohol trinken vermeiden. Es liegt gerade in der Symptomatik des Alkoholismus, dass der Kranke dies nicht vermag. Mit der gleichen Begründung könnte man nämlich dem übergewichtigen Herzkranken vorwerfen, dass er seine Erkrankung durch übermäßige Nahrungsaufnahme herbeigeführt oder zumindest äußerst begünstigt hat (ArbG Frankfurt, Urteil vom 10.02.1999 – 7 Ca 4924/98 – NZA – RR 1999, 475).

Grundsätzlich werden Alkoholiker nicht von einer Therapiemaßnahme als geheilt entlassen. Auch der „trockene“ Alkoholiker bleibt alkoholkrank; seine Krankheit ist nur (vorübergehend) gestoppt und es dauert auch nach durchgeführter und erfolgreicher Entziehungskur geraume Zeit, um das Rückfallrisiko gegen Null zu dämpfen. Insbesondere kann davon ausgegangen werden, dass eine Entziehungskur nicht bereits in einem frühen Stadium der Erkrankung durchgeführt wird, da die Abhängigkeit möglicherweise auch Dritten noch nicht eindeutig ersichtlich ist. Hat der einzelne aber eine längere „Alkoholkarriere“ hinter sich, ist mit eingetretenen körperlichen Schäden zu rechnen, die einen Rückfall mehr oder weniger bedingen (Künzl a.a.O; Lepke a.a.O).

b) Unter Berücksichtigung dieser Krankheitsumstände und der Beschäftigungszeit seit 01.12.1996 sowie des Lebensalters der Klägerin war der beklagte V verpflichtet, zumindest als Überbrückungsmaßnahme eine Umsetzung der Klägerin in einen anderen Arbeitsbereich des Eigenbetriebes eingehend zu prüfen. Ist ein Beschäftigter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, hat der Arbeitgeber nach § 84 Abs. 2 S. 1 SGB IX unter Beteiligung des betroffenen Arbeitnehmers und der Interessenvertretung zu klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (sog. betriebliches Eingliederungsmanagement). Diese gesetzliche Regelung, die auch für Beschäftigte gilt, welche nicht originär in den Schutzbereich des SGB IX fallen, ist Ausprägung des das Kündigungsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (BAG, Urteil vom 12. Juli 2007 – 2 AZR 716/06 – Pressemitteilung Nr. 54/07 – für eine ordentliche krankheitsbedingte Kündigung; LAG Niedersachsen, Urteil vom 25.10.2006 – 6 Sa 974/05 -). Dies hat erst Recht für die außerordentliche krankheitsbedingte Kündigung zu gelten, um den hohen Anforderungen zu genügen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind. Gesundheitliche Störungen können im Arbeitsverhältnis bei jedem Arbeitnehmer auftreten, unabhängig von einer etwaigen Schwerbehinderung. Letztlich ist es das Ziel von § 84 Abs. 2 SGB IX, der Gesundheitsprävention einen höheren Stellenwert einzuräumen.

Die in § 84 Abs. 2 SGB IX genannten Maßnahmen geben dem Arbeitgeber also das Maß an Prüfung vor, das er zur Vermeidung einer krankheitsbedingten Kündigung zu leisten hat. Insbesondere legt § 84 Abs. 2 SGB IX dem Arbeitgeber die Pflicht auf, die Prüfung zur Vermeidung einer krankheitsbedingten Kündigung nicht nur intern, sondern unter Einbeziehung des betroffenen Arbeitnehmers, des Personalrats und gegebenenfalls des Betriebsarztes vorzunehmen. Dabei hat die Prüfung entsprechend der Vorgabe des § 84 Abs. 2 SGB IX zu erfolgen mit der Zielsetzung, den Arbeitsplatz möglichst zu erhalten und weitere krankheitsbedingte Fehlzeiten zu vermeiden.

Vorliegend hat der beklagte V ein solches betriebliches Eingliederungsmanagement im Zusammenwirken mit der Klägerin und dem Personalrat vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung nicht versucht. Jedoch hat er die Klägerin schon eine geraume Anzahl von Jahren seit Ausbruch der Krankheit zumindest zeitweise weiterzubeschäftigen vermocht. Insoweit konnte der Beklagte zur Überzeugung der Kammer nicht pauschal darlegen, dass die Durchführung eines solchen Verfahrens kein die außerordentliche Kündigung vermeidbar machendes Ergebnis erzielt hätte. Insgesamt hat der Beklagte folglich nicht substantiiert vorgetragen, dass selbst bei Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements eine zumindest zeitweise anderweitige freie Beschäftigungsmöglichkeit nicht bestehen würde. Das geht im Rahmen des Kündigungsschutzverfahrens zu Lasten der Beklagtenseite als darlegungs- und beweispflichtige Partei. Somit ist die außerordentliche Kündigung vom 04.04.2007 als unverhältnismäßig zu bewerten und mithin rechtsunwirksam mangels eines wichtigen Grundes i. S. d. § 626 BGB.

Nach alledem war der Klage stattzugeben.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 i. V. m. § 269 Abs. 3 S. 2 ZPO. Danach waren die Kosten des Rechtsstreits unter Berücksichtigung der teilweisen Klagerücknahme bezüglich der ordentlichen Kündigung je zur Hälfte auf die Parteien zu verteilen.

Der Wert des Streitgegenstandes wurde in Höhe von 3 Bruttomonatsvergütungen gem. § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festgesetzt.

 

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