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Urlaubsgewährung bei Langzeiterkrankung – Reihenfolge

Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein – Az.: 2 Sa 73 öD/21 – Urteil vom 06.07.2021

1. Das beklagte Land wird verurteilt, an die Klägerin 1.509,80 € brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2021 zu zahlen.

2. Das beklagte Land trägt die Kosten des Rechtsstreits (beide Instanzen).

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten um Urlaubsabgeltung für 10 Tage aus dem Jahre 2019.

Die Klägerin, die einen Grad der Behinderung von 60 hat, war vom 01.04.2001 bis zum 31.01.2021 beim beklagten Land beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien fand der TV-L Anwendung. Aufgrund eines Erlasses des Finanzministeriums des Landes Schleswig-Holstein vom 09.08.2016 erfolgt die Übertragung des Urlaubs über die tarifvertraglichen Vorschriften hinaus entsprechend der Übertragungsregelung für Beamtinnen und Beamte (§ 6 Abs. 1 EUVO SH) bis zum 30.09. des Folgejahres.

Im Jahr 2019 hatte die Klägerin 17 Tage Urlaub. Seit dem 24.07.2019 war sie bis zu ihrem Ausscheiden arbeitsunfähig erkrankt.

Die Klägerin sandte am 07.01.2020 eine E-Mail an das beklagte Land. Auf diese E-Mail bezog sich das beklagte Land bei ihrem Antwortschreiben an die Klägerin vom 12.06.2020. In diesem Schreiben wies das beklagte Land die Klägerin darauf hin, dass der Urlaubsanspruch für das Jahr 2019 bis zum 30.09.2020 in Anspruch genommen werden müsse, weil er ansonsten zum 01.10.2020 verfalle (Anlage K 5, Bl.68 d. A.). Mit Schreiben vom 30.06.2020 (Bl. 6 d. A.) wies das beklagte Land die Klägerin darauf hin, dass von den genommenen 17 Tagen in 2019 diese zunächst auf den Zusatzurlaub nach § 208 SGB IX und den gesetzlichen Urlaubsanspruch anzurechnen seien, sodass noch 8 Tage gesetzlicher Urlaubsanspruch bestehen würden; der tarifliche Zusatzurlaub nach § 26 TV-L in Höhe von 10 Tagen verfalle zum 30.09.2020.

Das beklagte Land zahlte an die Klägerin nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis Urlaubsabgeltung für acht Tage gesetzlichen Urlaubs aus dem Jahr 2019 sowie den danach entstandenen Urlaubsanspruch für 2020 und 2021.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, dass sie von der Beklagten noch die Abgeltung für zehn Tage des tarifvertraglichen Urlaubsanspruchs aus dem Jahr 2019 i. H. v. 1.509,80 EUR beanspruchen könne. Sie habe mit dem gesetzlichen Urlaubsanspruch von 20 Urlaubstagen, dem tariflichen Urlaubsanspruch von weiteren zehn Tagen sowie dem gesetzlichen Zusatzurlaub von 5 Tagen aufgrund ihrer Schwerbehinderteneigenschaft im Jahr 2019 insgesamt 35 Urlaubstage erworben. Bei der Abrechnung der Urlaubsansprüche sei davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer zunächst die am wenigsten gesicherten Ansprüche verwenden wolle, also in ihrem Fall zunächst den Zusatzurlaub aufgrund der Schwerbehinderung, dann die tariflich vorgesehenen Urlaubsansprüche und erst zuletzt den gesetzlichen Mindesturlaub. Der Verfall des Urlaubs könne auch nicht aufgrund des Hinweises vom 12.06.2020 eingetreten sein, da sie zu diesem Zeitpunkt gar keine Möglichkeit mehr gehabt habe, den Urlaub in Anspruch zu nehmen.

Die Klägerin hat beantragt, das beklagte Land zu verurteilen, an sie 1.509,80 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2021 zu zahlen.

Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das beklagte Land war der Auffassung, dass der Klägerin im Jahr 2019 17 Tage des gesetzlichen Urlaubsanspruchs gewährt worden seien. Inklusive des gesetzlichen Zusatzurlaubs nach § 208 Abs. 1 SGB IX seien daher von insgesamt 25 gesetzlichen Urlaubstagen für das Jahr 2019 acht Urlaubstage nicht gewährt und daher – unstreitig – abgegolten worden. Der tarifliche Anspruch auf weitere zehn Urlaubstage sei hingegen mit Ablauf des 30.09.2020 verfallen.

Hinsichtlich des weiteren erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage der Klägerin mit Urteil vom 18.02.2021 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass der Klägerin kein Urlaubsabgeltungsanspruch nach § 7 Abs. 4 BUrlG in Höhe von 1.509,80 Euro zustehe. Im Umfang von 10 Urlaubstagen sei der Urlaubsanspruch der Klägerin für das Jahr 2019 mit Ablauf des 30.09.2020 verfallen.

Mit der Freistellung habe das beklagte Land sowohl den gesetzlichen als auch den tariflichen Urlaubsanspruch gemäß § 362 Abs. 1 BGB teilweise zum Erlöschen gebracht.

Zu einem anderen Ergebnis führe auch nicht das Interesse der Klägerin, zunächst den weniger gesicherten tariflichen Urlaub in Anspruch zu nehmen. Die Voraussetzungen des § 366 Abs.2 BGB, der bestimme, dass bei fehlender Tilgungsbestimmung bei mehreren fälligen Ansprüchen zunächst derjenige Anspruch erfüllt werde, der dem Gläubiger die geringere Sicherheit biete, seien vorliegend nicht erfüllt. § 366 Abs.2 BGB setze eine Mehrheit von Schuldverhältnissen voraus, wobei § 366 BGB das Schuldverhältnis im engeren Sinne meine. § 366 BGB gelte auch bei einer Mehrheit von Forderungen aus demselben Schuldverhältnis. Aus dem systematischen Verhältnis zu § 367 BGB folge jedoch, dass es sich um selbstständige Forderungen handeln müsse. Träfen gesetzliche und tarif- oder arbeitsvertragliche Erholungsurlaubsansprüche zusammen, handele es sich, soweit sich diese Ansprüche deckten, grundsätzlich nicht um selbstständige Urlaubsansprüche. Insoweit handele es sich um einen einheitlichen Anspruch auf Erholungsurlaub, der auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen beruhe (BAG, Urteil vom 07.08.2012 – 9 AZR 760/10 -, BAGE 143, 1 – 9, Rn. 12). Die Regelungen des § 366 BGB seien auch nicht analog mit dem Ergebnis anzuwenden, dass zunächst ausschließlich auf den den gesetzlichen Mindesturlaub übersteigenden, nur tarifvertraglich begründeten Teil des Urlaubsanspruchs geleistet werde. Dies würde das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke voraussetzen. Eine solche Lücke sei nach dem Regelungsplan des Gesetzes nicht zu erkennen. Die Unabdingbarkeit des gesetzlichen Urlaubsanspruchs spreche dafür, dass die Freistellung zur Erfüllung des Anspruchs auf Erholungsurlaub – zumindest auch – in Bezug auf das Bundesurlaubsgesetz als Anspruchsgrundlage erfolge (BAG, Urteil vom 07.08.2012 – 9 AZR 760/10 -, BAGE 143, 1 – 9, Rn. 13).

Der Urlaubsanspruch aus § 26 TV-L, wonach der Erholungsurlaub in jedem Kalenderjahr 30 Arbeitstage betrage, sei gegenüber dem gesetzlichen Anspruch auf Erholungsurlaub gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG kein eigenständiger Anspruch, soweit sich beide Ansprüche deckten. § 26 TV-L differenziere nach seinem Wortlaut nicht zwischen dem gesetzlichen Mindest- und dem tariflichen Mehrurlaub. An keiner Stelle des Tarifvertrags finde sich ein Hinweis, dass der tarifliche Urlaubsanspruch zusätzlich zum gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch gewährt werden solle. Insbesondere die abweichenden Regelungen zum Bundesurlaubsgesetz in § 26 Abs.2 TV-L enthielten keine Anhaltspunkte dafür, dass die in § 26 Abs.1 TV-L angeordnete Urlaubsdauer sich erst aus der Addition zweier eigenständiger Urlaubsansprüche ergebe, nämlich dem gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch einerseits und einem diesen aufstockenden, gesonderten tariflichen Urlaubsanspruch andererseits. Insbesondere aus § 26 Abs.2 b) TV-L gehe hervor, dass die Tarifvertragsparteien von einem einheitlichen Urlaubsanspruch ausgegangen seien. Hätten die Tarifvertragsparteien neben dem gesetzlichen Anspruch auf Erholungsurlaub einen eigenständigen tariflichen Urlaubsanspruch regeln wollen, hätten sie die Möglichkeit, den Urlaub zu kürzen, nicht unter Hinweis auf § 5 BUrlG einschränken müssen. Die Kürzungsregelung hätte vielmehr auf den tariflichen Mehrurlaub beschränkt werden können und müssen, weil der gesetzliche Mindesturlaub gemäß § 13 Abs. 1 BUrlG nicht gekürzt werden dürfe (vgl. BAG, Urteil vom 07.08.2012 – 9 AZR 760/10 -, BAGE 143, 1 – 9, Rn. 16).

Der tarifliche Mehrurlaub sei gemäß § 26 Abs.2 a) TV-L unabhängig davon verfallen, dass das beklagte Land den beschäftigten Arbeitnehmern gestatte, Urlaubsansprüche entgegen der Regelung in § 26 Abs. 2 a) TV-L nicht nur bis zum 31.03. respektive bis zum 31.05., sondern bis zum 30.09. des Folgejahres zu übertragen (vgl. BAG, Urteil vom 12.03.2013 – 9 AZR 292/11 -, Rn. 14, juris). Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit des Klägers ändere hieran nichts. Die Tarifvertragsparteien hätten in § 26 Abs. 2 a) TV-L hinsichtlich der Befristung und damit mittelbar bezüglich des Verfalls des Urlaubs von § 7 Abs. 3 BUrlG abweichende, eigenständige Regelungen getroffen. Gestatte der Arbeitgeber den Arbeitnehmern, den Urlaub aus dem Vorjahr über den tariflich bestimmten Zeitraum hinaus zu übertragen, gehe der Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub grundsätzlich am Ende des verlängerten Übertragungszeitraums unter. Dies gelte unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt arbeitsunfähig krank sei. Dem Erlöschen stehe weder § 13 Abs. 1 BUrlG noch Unionsrecht entgegen. Da nicht der durch die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. EU L 299 vom 18.11.2003 S. 9) gewährleistete Mindestjahresurlaub von vier Wochen betroffen sei (BAG, Urteil vom 12.03.2013 – 9 AZR 292/11 -, Rn. 15, juris). Insoweit sei es auch unerheblich, dass das beklagte Land auf den drohenden Verfall des Urlaubs zu einem Zeitpunkt hingewiesen habe, als die Klägerin bereits arbeitsunfähig gewesen war.

Gegen dieses, der Klägerin am 12.03.2021 zugestellte Urteil, hat sie am 22.03.2021 mit elektronisch eingereichtem Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit elektronisch eingereichtem Schriftsatz am 05.05.2021 begründet.

Die Klägerin wiederholt ihren erstinstanzlichen Vortrag und trägt weiter vor, dass davon auszugehen sei, dass sie bei der Abrechnung der Urlaubsansprüche zunächst die am wenigsten gesicherten Ansprüche verwenden wolle, mithin die Ansprüche aufgrund des Zusatzurlaubes wegen der Schwerbehinderung und die gesetzlichen Ansprüche, danach seien die gesetzlichen Ansprüche der Klägerin noch vorhanden, soweit sie nicht abgegolten worden seien. Gehe man mit der Ansicht des erstinstanzlichen Gerichts von einem einheitlichen Urlaubsanspruch aus, so werde man alle Urlaubsansprüche gleich zu behandeln haben, sodass auch allen Urlaubstagen der gleiche Schutz zuteil werde und keine Selektierung vorgenommen werden dürfe. Dieser sei insgesamt geschützt, sodass die Klägerin von den tariflichen Urlaubsansprüchen lediglich einen Bruchteil genommen habe.

Im Übrigen sei der Hinweis des beklagten Landes am 12.06.2020 auf den vermeintlich drohenden Verfall zu spät gewesen. Zu diesem Zeitpunkt habe das Schreiben seinen Sinn und Zweck nicht mehr erfüllen können, da sie seit geraumer Zeit krankgeschrieben gewesen sei. Sie hätte bereits aufgrund ihrer E-Mail vom 07.01.2020 eine entsprechende Auskunft erhalten müssen.

Die Klägerin beantragt, unter Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Kiel wird das beklagte Land verurteilt, an die Klägerin 1.509,80 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Das beklagte Land beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Das beklagte Land verteidigt das erstinstanzliche Urteil und ist weiter der Auffassung, der nicht privilegierte tarifliche Mehrurlaub sei verfallen. Der Urlaubsanspruch der Klägerin beruhe auf verschiedenen Anspruchsgrundlagen, die unterschiedlichen Verfallregimen unterliegen würden. Es verbiete sich einen einheitlichen Anspruch auf Urlaub beim Abzug von Urlaub wieder in Einzelurlaubsansprüche aufzuteilen und verhältnismäßig anzurechnen. Dies käme der letzten Alternative des § 366 Abs. 2 BGB gleich. Die Arbeitsfähigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit spiele für die Rolle des Verfalls keine Rolle.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien in der Berufung wird auf die von ihnen eingereichten Schriftsätze und auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 06.07.2021 hingewiesen.

Entscheidungsgründe

A.

Die Berufung der Klägerin ist zulässig. Sie ist dem Beschwerdewert nach statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 64 Abs. 2 lit. b, 66 Abs. 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO.

B.

Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klage ist begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung eines Betrages in Höhe von 1.509,80 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 01.02.2021.

1. Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung nach § 7 Abs. 4 BUrlG setzt voraus, dass zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein offener Urlaubsanspruch besteht, der wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden kann. Die Klägerin verfügte zum Ende ihres Arbeitsverhältnisses am 31.01.2020 über einen Urlaubsanspruch in Höhe von 10 Tagen.

Unstreitig sind 10 Tage Urlaub der Klägerin aus dem Jahre 2019 nicht durch Erfüllung nach § 362 Abs. 1 BGB untergegangen. Eine Tilgungsbestimmung hat das beklagte Land vor Urlaubsgewährung der in 2019 gewährten Tage nicht vorgenommen; lediglich im Schreiben vom 30.06.2020 beruft sich das beklagte Land darauf, dass zunächst der Zusatzurlaub gemäß § 208 SGB IX sowie der gesetzliche Urlaub von der Klägerin genommen worden sei. Das beklagte Land beruft sich darauf, dass es sich bei den noch offenen 10 Tagen Urlaub der Klägerin um tarifvertraglichen Urlaub handele, der am 30.09.2020 entsprechend der Übertragungsregelung für Beamtinnen und Beamte (§ 6 Abs. 1 EUVO SH) zum 30.09. des Folgejahres erloschen sei. Das Schreiben vom 12.06.2020 selbst stellt keine Tilgungsbestimmung des Arbeitgebers dar, da diese vor Gewährung des Urlaubs vorgenommen werden muss.

2. Der tarifliche Urlaubsanspruch der Klägerin ist mangels Erfüllung der Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers nicht am 30.09.2020 verfallen.

a) Die Klägerin verfügte am 30.09.2020 über 4,5 Tage tariflichen Urlaubsanspruch und 5,5 Tage gesetzlichem Urlaubsanspruch.

Das Berufungsgericht folgt der vom BAG in seiner Entscheidung vom 07.08.2012 – 9 AZR 760/10 -, juris) geäußerten Rechtsauffassung, dass § 366 Abs. 2 BGB keine Anwendung findet. Hierzu hat das BAG in Abkehr von früherer Rechtsprechung klargestellt, dass bei tariflichen/arbeitsvertraglichen und gesetzlichen Urlaubsansprüchen nicht von mehreren Schuldverhältnissen auszugehen ist, wenn die tarifliche/arbeitsvertragliche Regelung einen einheitlichen Anspruch des Arbeitnehmers auf Erholungsurlaub (bestehend aus gesetzlichem Mindesturlaub und teilweise parallelen, teilweise überschießenden tariflichem/vertraglichem Urlaub) vorsieht. Es handelt sich dann vielmehr um eine einheitliche Forderung, so dass der Arbeitgeber mit der Urlaubsgewährung gleichzeitig beide (vorliegend alle drei) Ansprüche erfüllt, bis nur noch der überschießende tarifliche/arbeitsvertragliche Mehrurlaub verbleibt. Mangels mehrerer Schuldverhältnisse ist damit kein Fall des § 366 Abs. 2 BGB gegeben. Auch eine analoge Anwendung scheidet mangels planwidriger Regelungslücke aus, da wegen der Unabdingbarkeit des Mindesturlaubsanspruchs zumindest auch von dessen Erfüllung auszugehen ist (BAG, Urteil vom 07.08.2012 – 9 AZR 760/10 -, ZTR 2013, 20 – 22). Es handelt sich bei dieser anteilig gleich verteilten Urlaubsgewährung auch nicht – wie die Beklagte meint – um einen Fall des § 366 Abs. 2 BGB, weil gerade nicht eine Schuld vorrangig bedient wird.

Folge dieser Rechtsprechung ist, dass entgegen der von der Beklagten in ihrem Schreiben vom 30.06.2020 geäußerten Auffassung, nicht zunächst der Schwerbehindertenurlaub von 5 Tagen und sodann der gesetzliche Urlaub in Höhe von 12 Tagen gewährt worden ist. Nach Ansicht der Beklagten waren demgemäß 8 Tage – wie geschehen – abzugelten und der tarifvertragliche Urlaub der Klägerin mit dem 30.09.2020 verfallen. Richtigerweise hat die Beklagte ohne Vornahme einer Tilgungsbestimmung gleichzeitig alle Ansprüche der Klägerin in gleichem Verhältnis erfüllt. Dies heißt, dass die Beklagte der Klägerin 10 Tage gesetzlichen Urlaub, 4,5 Tage tarifvertraglichen Urlaub und 2,5 Tage Schwerbehindertenurlaub gewährt hat. Dies hat zur Folge, dass für die Klägerin 10 Tage gesetzlicher Urlaub, 5,5 Tage tarifvertraglicher Urlaub und 2,5 Tage Schwerbehindertenurlaub verblieben sind. Da die Beklagte ersichtlich gesetzliche Ansprüche abgelten wollte, sind von den verbleibenden 12,5 Tage gesetzlichem Anspruch (10 Tage + 2,5 Tage = 12,5 Tage – 8 Tage = 4,5 Tage gesetzlicher Anspruch Rest) noch 4,5 Tage gesetzlicher Anspruch und 5,5 Tage tarifvertraglicher Anspruch verblieben.

b) Der für das Jahr 2019 nach § 26 TV-L entstandene tarifvertragliche Urlaubsrestanspruch in Höhe von 5,5 Tagen ist nicht am 30.09.2020 verfallen. Die Beklagte ist ihren bei richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 BUrlG bestehenden Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen. Der tarifliche Urlaubsanspruch der Klägerin ist daher nicht an das Jahr 2019 gebunden und besteht weiter fort.

Die Beklagte hat mit ihrem Schreiben vom 12.06.2020 ihre bei richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 BUrlG gebotenen Mitwirkungspflicht nicht erfüllt.

Das Bundesarbeitsgericht hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die in der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 19.02.2019 (9 AZR 541/15 -, juris) bezüglich der Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers dargestellten Grundsätze auch für den tarifvertraglichen Mehrurlaub gelten. Im Hinblick auf die Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers haben die Tarifvertragsparteien des TVöD den tariflichen Mehrurlaub nicht abweichend von den gesetzlichen Vorgaben geregelt (BAG, Urteil vom 19.92.2019 – 9 AZR 541/15 -, Rn. 34, juris). Die unionsrechtlichen Vorgaben betreffen zwar ausschließlich den gesetzlichen Urlaubsanspruch von vier Wochen. Die Tarifvertragsparteien können Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten Anspruch auf Mindesturlaub von 4 Wochen übersteigen, frei regeln. Ihre Regelungsmacht ist nicht durch die für gesetzliche Urlaubsansprüche erforderliche richtlinienkonforme Auslegung der §§ 1, 7 BUrlG beschränkt (vgl. auch BAG, Urteil vom 05.08.2014 – 9 AZR 77/13 – Rn. 30; BAG, Urteil vom 19.02.2019 – 9 AZR 541/15 -, Rn. 35, juris). Für einen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien, dem zufolge der tarifliche Mehrurlaub mit Ablauf des Kalenderjahres respektive am Ende des Übertragungszeitraumes, unabhängig von einem entsprechenden Hinweis des Arbeitgebers, verfällt, müssen deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Fehlen solche, ist von einem diesbezüglichen Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruches und des Anspruchs auf tariflichen Mehrurlaub auszugehen (BAG Urteil vom 19.02.2019 – 9 AZR 514/15 -, Rn. 36, juris; BAG, Urteil vom 29.09.2020 – 9 AZR 364/19 – Rn. 32).

c) Die Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers erfordert es, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür sorgt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Er muss ihn – erforderlichenfalls förmlich – dazu auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub verfällt, wenn er ihn nicht nimmt (vgl. EuGH 06.11.2018 – C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften] Rn. 45).

aa) Der Inhalt der in richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG bestehenden Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ergibt sich aus ihrem Zweck, zu verhindern, dass der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch nicht wahrnimmt, weil der Arbeitgeber ihn hierzu nicht in die Lage versetzt hat. Infolge des Fehlens konkreter gesetzlicher Vorgaben ist der Arbeitgeber grundsätzlich in der Auswahl der Mittel frei, derer er sich zur Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten bedient. Die Mittel müssen jedoch zweckentsprechend sein. Sie müssen geeignet sein, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt. Es ist der Eintritt einer Situation zu vermeiden, in der ein Arbeitnehmer auf Veranlassung des Arbeitgebers davon abgehalten werden kann, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber geltend zu machen. Ob der Arbeitgeber das Erforderliche getan hat, um seinen Mitwirkungsobliegenheiten zu genügen, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen (BAG, Urteil vom 19.02.2019 – 9 AZR 541/15 – Rn. 42, juris)

bb) Der Arbeitgeber muss sich bei Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten auf einen „konkret“ bezeichneten Urlaubsanspruch eines bestimmten Jahres beziehen und den Anforderungen an eine „völlige Transparenz“ genügen. Er kann seine Mitwirkungsobliegenheiten regelmäßig zum Beispiel dadurch erfüllen, dass er dem Arbeitnehmer zu Beginn des Kalenderjahres in Textform mitteilt, wie viele Arbeitstage Urlaub ihm im Kalenderjahr zustehen, ihn auffordert, seinen Jahresurlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres genommen werden kann, und ihn über die Konsequenzen belehrt, die eintreten, wenn dieser den Urlaub nicht entsprechend der Aufforderung beantragt. Die Anforderungen an eine „klare“ Unterrichtung sind regelmäßig durch den Hinweis erfüllt, dass der Urlaub grundsätzlich am Ende des Kalenderjahres verfällt, wenn der Arbeitnehmer in der Lage war, seinen Urlaub im Kalenderjahr zu nehmen, er ihn aber nicht beantragt (BAG, Urteil vom 19.02.2019 – 9 AZR 541/15 -, Rn. 43, juris).

cc) Mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Vorlagebeschluss vom 07.07.2020 – 9 AZR 401/19 (A) -, juris) besteht eine Mitwirkungspflicht auch bei Langzeiterkrankung des Arbeitnehmers, da sie mangels Vorhersehbarkeit der Dauer der Erkrankung ihren Zweck erfüllen könnten. Nur bei – erst nachträglich feststellbarer – durchgängiger Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers hängt die Befristung des Urlaubsanspruchs nicht von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers ab; in diesem Fall ist es bereits objektiv unmöglich gewesen, den Arbeitnehmer durch den Hinweis in die Lage zu versetzen, den Urlaubsanspruch zu realisieren (Bonanni/Fehlberg, ArbRB 2021, 122, 125).

Ein Hinweis des beklagten Landes zu Beginn des Jahres 2020 ist nicht erfolgt.

Unter Berücksichtigung der rechtlichen Vorgaben ist der Hinweis des beklagten Landes im Schreiben vom 12.06.2020 für eine Mitwirkungspflicht des Arbeitgebers nicht ausreichend. Die Klägerin hat sich bereits mit der E-Mail vom 07.01.2020 nach dem Bestehen eines Urlaubsanspruchs erkundigt. Die E-Mail konnte zwar im Wortlaut nicht vorgelegt werden, jedoch hat das beklagte Land den Vortrag der Klägerin, dass sie bereits im Januar 2020 nach ihrem Urlaub gefragt habe, nicht bestritten. Dass dies der Fall war, ergibt sich auch aus der Betreff-Zeile des Schreibens vom 12.06.2020. Das Schreiben vom 12.06.2020 schlüsselt den dort ausgewiesenen Urlaubsanspruch der Klägerin nicht in gesetzliche Ansprüche, Ansprüche auf Zusatzurlaub wegen der Schwerbehinderung der Klägerin und tarifvertragliche Ansprüche auf. Der für die Klägerin verbleibende Zeitraum 3 ½ Monaten, um den Urlaub bis zum Ende zu nehmen, ist angesichts der Anfrage der Klägerin vom 07.01.2020 unzulässig verkürzt worden. Das beklagte Land ist selbst davon ausgegangen, dass die Klägerin den Urlaub ggf. noch bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses bzw. bis zum Ende des Übertragungszeitraumes nehmen kann, da für sie unklar war, ob die Klägerin ihre Arbeitsfähigkeit wiedererlangen würde (siehe Schreiben vom 30.06.2020, Bl. 6 d. A.).

d) Das beklagte Land kann sich nicht auf einen durch Rechtsprechung begründeten Vertrauensschutz berufen, weil die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zur Mitwirkungspflicht erst am 19.02.2020 ergangen sind. Die Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof ist auch auf Rechtsverhältnisse anzuwenden, die vor Erlass der Vorabentscheidung begründet wurden. Vertrauensschutz kann von nationalen Gerichten demnach grundsätzlich nicht dadurch gewährt werden, dass sie die Wirkung einer Vorabentscheidung zeitlich beschränken, indem sie die unionsrechtswidrige nationale Regelung für die Zeit vor Erlass der Vorabentscheidung anwenden (BVerfG 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07 – Rn. 28). Die Voraussetzungen eines schutzwürdigen Vertrauens des Beklagten sind demzufolge nicht gegeben. Der Gerichtshof hat über die Vorlagefragen des Senats mit Urteil vom 06.11.2018 (- C-684/16 – [Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften]) entschieden. Er hat die Geltung der von ihm vorgenommenen Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG – wie von Art. 31 Abs. 2 GRC – nicht aus Gründen eines unionsrechtlichen Vertrauensschutzes in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt und eine zeitliche Geltungsbeschränkung damit implizit abgelehnt. Eine richtlinienkonforme Auslegung von § 7 BUrlG kann das Bundesarbeitsgericht nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes nach nationalem Recht auf einen Zeitpunkt nach Inkrafttreten von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verschieben (vgl. BVerfG 10.12.2014 – 2 BvR 1549/07 – Rn. 40; BAG, Urteil vom 19.02.2019 – 9 AZR 423/16 -, BAGE 165, 376 – 389, Rn. 33 – 34). Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Mitwirkungspflicht ist daher auch auf Rechtsfälle anzuwenden, die vor Erlass der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vom 19.02.2019 entstanden sind.

3. Der tarifvertragliche Urlaub ist daher mangels Mitwirkung des Arbeitgebers nicht am 30.09.2020 verfallen. Er war der Klägerin bei Ende des Arbeitsverhältnisses am 31.01.2021 abzugelten.

4. Der gesetzliche Resturlaubsanspruch in Höhe von 4,5 Tagen bestand aufgrund des Übertragungszeitraumes von 15 Monaten bis zum 31.03.2021 fort und war daher bei Ende des Arbeitsvertrages am 31.01.2021 ebenfalls abzugelten.

Es ergibt sich ein Abgeltungsanspruch der Klägerin in Höhe von 10 Arbeitstagen.

Der Berufung der Klägerin war daher stattzugeben.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO, 64 Abs. 6 ArbGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

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