Betriebsbedingte Kündigung trotz Schwerbehinderung rechtens – Gerichtsurteil zu Sozialauswahl
Das Hessische Landesarbeitsgericht hat die Berufung eines Klägers gegen die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung zurückgewiesen, wobei der Fokus auf der Einhaltung der Sozialauswahl und der Rechtmäßigkeit der Kündigung im Rahmen eines Interessenausgleichs mit Namensliste lag. Die Entscheidung unterstreicht, dass die Kündigung auch unter Berücksichtigung des Schwerbehindertenstatus des Klägers sozial gerechtfertigt war, da sie auf einer Betriebsänderung beruhte und ein ordnungsgemäß zustande gekommener Interessenausgleich mit Namensliste zugrunde lag.
Übersicht:
- Betriebsbedingte Kündigung trotz Schwerbehinderung rechtens – Gerichtsurteil zu Sozialauswahl
- ➜ Der Fall im Detail
- ✔ Häufige Fragen – FAQ
- Was ist eine betriebsbedingte Kündigung?
- Wie wird die Sozialauswahl bei einer betriebsbedingten Kündigung durchgeführt?
- Was bedeutet „grobe Fehlerhaftigkeit“ bei der Sozialauswahl?
- Was passiert, wenn ein Interessenausgleich mit Namensliste vorliegt?
- Können betriebsbedingte Kündigungen angefochten werden?
- § Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- Das vorliegende Urteil
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✔ Das Wichtigste in Kürze
- Der Fall betrifft die Wirksamkeit einer betriebsbedingten Kündigung im Rahmen eines Interessenausgleichs mit Namensliste.
- Das Hessische Landesarbeitsgericht wies die Berufung des Klägers zurück, da die Kündigung aufgrund dringender betrieblicher Erfordernisse und eines ordnungsgemäß zustande gekommenen Interessenausgleichs als sozial gerechtfertigt angesehen wurde.
- Trotz des Schwerbehindertenstatus des Klägers ergaben sich keine Anhaltspunkte für eine Diskriminierung oder eine Verletzung der Präventionspflicht.
- Die soziale Auswahl wurde nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft, wobei keine groben Fehler bei der Auswahl oder der Bildung auswahlrelevanter Gruppen festgestellt wurden.
- Einzelnachweise wie die späte Information der Schwerbehindertenvertretung oder die Beschäftigung von neu eingestellten Arbeitnehmern und Leiharbeitnehmern nach Kündigungsausspruch änderten nichts an der Wirksamkeit der Kündigung.
- Die Entscheidung beruht auf der Annahme, dass die Kündigung nicht allein aufgrund der Betroffenheit schwerbehinderter Mitarbeiter als sozial ungerechtfertigt anzusehen ist, solange sie auf einem nachvollziehbaren Punkteschema beruht.
Betriebsbedingte Kündigungen: Wann ist die Sozialauswahl fehlerhaft?
Eine betriebsbedingte Kündigung stellt für Arbeitnehmer oft einen schweren Einschnitt dar. Hier kollidieren die unternehmerische Entscheidungsfreiheit des Arbeitgebers mit den Interessen der Belegschaft. Für die Sozialauswahl müssen klare, nachvollziehbare Kriterien gelten. Nur so lässt sich eine grobe Fehlerhaftigkeit vermeiden.
Bei einem Kündigungsschutzprozess prüft das Gericht die Sozialauswahl auf Fehler. Entscheidend ist, ob die Auswahl auf einem transparenten, diskriminierungsfreien Verfahren basiert. Andernfalls droht die Unwirksamkeit der Kündigung. Eine sorgfältige, am Gesetz orientierte Sozialauswahl ist daher unerlässlich.
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➜ Der Fall im Detail
Betriebsbedingte Kündigung und Sozialauswahl unter der Lupe
Im Mittelpunkt des Falls steht eine betriebsbedingte Kündigung eines langjährigen Mitarbeiters der Buchbinderei eines Druckgewerbes, der gegen die Kündigung und für seine vorläufige Weiterbeschäftigung geklagt hatte.
Der Kläger, ein verheirateter Vater dreier Kinder, wovon eines schwerbehindert ist, war seit dem Jahr 2000 in dem Unternehmen beschäftigt. Seine Kündigung erfolgte auf der Basis eines Interessenausgleichs mit Namensliste, der im Rahmen einer Betriebsänderung zur Optimierung der Arbeitsabläufe und Anpassung der Bearbeitungskapazitäten erstellt wurde. Diese Betriebsänderung führte letztendlich zum Wegfall von 28 Arbeitsplätzen, unter denen auch der des Klägers war.
Die rechtliche Auseinandersetzung und Argumente
Die rechtliche Auseinandersetzung drehte sich primär um die Frage der Wirksamkeit der Kündigung und ob bei der Sozialauswahl grobe Fehler begangen wurden. Besonders brisant war der Fall durch den Status des Klägers als schwerbehinderter Mensch, was den rechtlichen Rahmen hinsichtlich Diskriminierungsschutz und Sozialauswahl weiter spannte. Der Kläger argumentierte, die Kündigung sei unwirksam, da sie eine Diskriminierung gegenüber behinderten Menschen darstelle und die Sozialauswahl fehlerhaft sei.
Die Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts
Das Hessische Landesarbeitsgericht wies die Berufung des Klägers zurück und bestätigte somit die Entscheidung des Arbeitsgerichts Offenbach am Main. Das Gericht erklärte, die Kündigung sei sozial gerechtfertigt, da sie auf dringenden betrieblichen Erfordernissen beruhe. Es wurde festgestellt, dass kein Verstoß gegen das AGG vorliegt und die Sozialauswahl nicht grob fehlerhaft war. Insbesondere wurde betont, dass die stärkere Betroffenheit von schwerbehinderten Menschen allein aus der Anwendung des Punkteschemas resultiere und keine gezielte Benachteiligung erkennbar sei.
Schlüsselaspekte der gerichtlichen Abwägung
Wichtig in der Argumentation des Gerichts war die Betonung, dass die Vermutungswirkung eines ordnungsgemäß zustande gekommenen Interessenausgleichs mit Namensliste nicht widerlegt werden konnte. Ferner war die Einstufung der Sozialauswahl als nicht grob fehlerhaft zentral, da der Kläger die dafür erforderlichen Kriterien nicht erfüllte. Die Entscheidung unterstrich auch, dass eine Diskriminierung schwerbehinderter Menschen nicht nachgewiesen wurde und die Beklagte ihre Pflichten nach § 71 SGB IX erfüllt hat.
Auswirkungen und weiterführende Überlegungen
Obwohl die Berufung abgewiesen wurde und keine Revision zugelassen ist, beleuchtet der Fall die komplexen Anforderungen an die Rechtfertigung betriebsbedingter Kündigungen und die Bedeutung einer fehlerfreien Sozialauswahl. Besonders für schwerbehinderte Arbeitnehmer bietet der Fall wichtige Einblicke in die juristische Praxis und den Schutz, den das Arbeitsrecht bietet. Das Urteil verdeutlicht, dass trotz der strengen Vorschriften eine Kündigung rechtens sein kann, solange der Arbeitgeber den rechtlichen Anforderungen, insbesondere im Hinblick auf den Interessenausgleich und die Sozialauswahl, genügt.
✔ Häufige Fragen – FAQ
Was ist eine betriebsbedingte Kündigung?
Eine betriebsbedingte Kündigung liegt vor, wenn ein Arbeitgeber ein Arbeitsverhältnis kündigt, weil dringende betriebliche Erfordernisse den Wegfall des Arbeitsplatzes zur Folge haben. Dies kann durch äußere Faktoren wie Auftragsmangel oder Umsatzrückgang oder durch interne Gründe wie Umstrukturierungen oder Organisationsänderungen bedingt sein. Entscheidend ist, dass zum Zeitpunkt der Kündigung feststeht, dass der Beschäftigungsbedarf dauerhaft entfällt. Die betriebsbedingte Kündigung ist somit eine Reaktion auf Veränderungen im Unternehmen, die den Arbeitsplatz des betroffenen Arbeitnehmers überflüssig machen, und nicht auf das Verhalten oder die Person des Arbeitnehmers selbst.
Wie wird die Sozialauswahl bei einer betriebsbedingten Kündigung durchgeführt?
Bei der Durchführung der Sozialauswahl im Rahmen einer betriebsbedingten Kündigung werden mehrere Schritte und Kriterien berücksichtigt, um eine sozial gerechte Entscheidung zu treffen. Zunächst muss der Arbeitgeber alle Mitarbeiter ermitteln, die für eine betriebsbedingte Kündigung infrage kommen könnten. Diese Ermittlung basiert auf der Vergleichbarkeit der Mitarbeiter hinsichtlich ihrer Tätigkeiten und Qualifikationen innerhalb des Unternehmens. Die Sozialauswahl selbst basiert auf vier zentralen Kriterien:
- Dauer der Betriebszugehörigkeit: Längere Betriebszugehörigkeit kann zu einer höheren Punktzahl führen, da dies oft als Indikator für die Bindung des Mitarbeiters an das Unternehmen angesehen wird.
- Lebensalter: Das Alter des Mitarbeiters spielt eine Rolle, wobei ältere Mitarbeiter oft als schutzbedürftiger angesehen werden, da sie möglicherweise geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
- Unterhaltspflichten: Mitarbeiter mit Unterhaltspflichten, wie z.B. für Kinder oder nicht erwerbstätige Ehepartner, erhalten in der Regel eine höhere Punktzahl, da ihre soziale Schutzbedürftigkeit als höher eingestuft wird.
- Schwerbehinderung: Schwerbehinderte Mitarbeiter werden in der Sozialauswahl besonders berücksichtigt, da sie auf dem Arbeitsmarkt oft benachteiligt sind.
Um die Sozialauswahl objektiv und nachvollziehbar zu gestalten, kann ein Punktesystem verwendet werden. In diesem System werden den einzelnen Kriterien Punkte zugeordnet, die dann addiert werden, um die soziale Schutzbedürftigkeit der Mitarbeiter zu bewerten. Mitarbeiter mit der höchsten Punktzahl gelten als am schutzbedürftigsten und sollten daher bei Kündigungen möglichst verschont bleiben. Es ist wichtig zu beachten, dass die Sozialauswahl nur zwischen vergleichbaren Mitarbeitern durchgeführt wird. Vergleichbarkeit bedeutet hier, dass die Mitarbeiter ähnliche Tätigkeiten ausüben oder nach einer kurzen Einarbeitungszeit ausüben könnten.
Die Entscheidung, wer letztendlich gekündigt wird, basiert auf der Gesamtbewertung der sozialen Kriterien. Die Sozialauswahl ist ein komplexer Prozess, der sorgfältig durchgeführt werden muss, um die Rechte der Mitarbeiter zu wahren und gleichzeitig den betrieblichen Anforderungen gerecht zu werden. Fehler bei der Sozialauswahl können zur Unwirksamkeit der Kündigung führen und sind daher von Arbeitgebern sorgfältig zu vermeiden.
Was bedeutet „grobe Fehlerhaftigkeit“ bei der Sozialauswahl?
„Grobe Fehlerhaftigkeit“ bei der Sozialauswahl bedeutet, dass die Auswahlentscheidung jede Ausgewogenheit vermissen lässt. Dies ist der Fall, wenn einzelne Sozialdaten überhaupt nicht, eindeutig unzureichend oder mit eindeutig überhöhter Bedeutung berücksichtigt wurden. Ein solcher Fehler ist evident und ins Auge springend und kann dazu führen, dass die Kündigung als unwirksam angesehen wird. Ein Beispiel für grobe Fehlerhaftigkeit wäre, wenn ein vergleichbarer Arbeitnehmer mit weniger Sozialpunkten nicht gekündigt wurde, obwohl er nach den Kriterien der Sozialauswahl hätte gekündigt werden müssen.
Was passiert, wenn ein Interessenausgleich mit Namensliste vorliegt?
Wenn ein Interessenausgleich mit Namensliste zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat vereinbart wurde, hat dies Auswirkungen auf die rechtliche Beurteilung von betriebsbedingten Kündigungen. Ein Interessenausgleich ist eine Vereinbarung, in der die betrieblichen Maßnahmen, die zu einer Kündigung führen können, und die davon betroffenen Arbeitsplätze festgelegt werden. Die Namensliste ist ein Teil des Interessenausgleichs und enthält die Namen der Mitarbeiter, deren Kündigung konkret geplant ist.
Das Vorliegen eines solchen Interessenausgleichs mit Namensliste hat zur Folge, dass die Sozialauswahl der auf der Liste genannten Arbeitnehmer grundsätzlich nicht mehr gerichtlich überprüft wird. Das bedeutet, dass die Gerichte in einem Kündigungsschutzprozess nicht mehr prüfen, ob die Sozialauswahl korrekt durchgeführt wurde, sofern die Namensliste ordnungsgemäß zustande gekommen ist.
Die Namensliste muss allerdings bestimmten Anforderungen genügen, um diese Rechtswirkung zu entfalten. Sie muss im Rahmen eines ordnungsgemäßen Interessenausgleichs erstellt worden sein, und der Betriebsrat muss ordnungsgemäß beteiligt worden sein. Ist dies der Fall, erleichtert die Namensliste dem Arbeitgeber die Durchführung der betriebsbedingten Kündigungen, da die Sozialauswahl nicht mehr angefochten werden kann. Allerdings bleibt den betroffenen Arbeitnehmern die Möglichkeit, die Kündigung aus anderen Gründen anzufechten, beispielsweise wenn die Kündigung aus diskriminierenden Gründen erfolgt oder der Interessenausgleich selbst fehlerhaft ist.
Können betriebsbedingte Kündigungen angefochten werden?
Betriebsbedingte Kündigungen können tatsächlich angefochten werden, wenn der Arbeitnehmer der Meinung ist, dass die Kündigung nicht gerechtfertigt ist. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die Sozialauswahl fehlerhaft durchgeführt wurde, die Kündigungsgründe nicht stichhaltig sind oder wenn eine Diskriminierung vorliegt. Arbeitnehmer haben das Recht, innerhalb von drei Wochen nach Erhalt der Kündigung Kündigungsschutzklage beim zuständigen Arbeitsgericht einzureichen.
Die Kündigungsschutzklage zielt darauf ab, die Unwirksamkeit der Kündigung feststellen zu lassen. Dabei wird geprüft, ob die Kündigung sozial gerechtfertigt ist, also ob sie betriebs-, personen- oder verhaltensbedingt und rechtlich einwandfrei ist. Die Gerichte prüfen unter anderem, ob dringende betriebliche Erfordernisse vorliegen, die Kündigung dringlich ist, eine korrekte Sozialauswahl getroffen wurde und ob der Arbeitgeber eine Interessensabwägung vorgenommen hat.
Fehler bei der Sozialauswahl, wie die unzureichende Berücksichtigung von Alter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung, können eine Kündigungsschutzklage rechtfertigen. Ebenso kann eine Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Religion, Behinderung oder anderen geschützten Merkmalen die Kündigung rechtswidrig machen.
Es ist wichtig zu beachten, dass der Erfolg einer Kündigungsschutzklage nicht nur zur Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses führen kann, sondern auch die Möglichkeit einer Abfindung besteht, insbesondere wenn eine Weiterbeschäftigung für eine der Parteien unzumutbar ist.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass betriebsbedingte Kündigungen angefochten werden können und Arbeitnehmer das Recht haben, ihre Kündigung gerichtlich überprüfen zu lassen, um ihre Rechte zu wahren.
§ Relevante Rechtsgrundlagen des Urteils
- § 1 KSchG (Kündigungsschutzgesetz) – Sozial ungerechtfertigte Kündigungen: Dieser Paragraph legt die Grundlagen für den Kündigungsschutz im Arbeitsrecht fest, einschließlich der Bedingungen, unter denen Kündigungen als sozial ungerechtfertigt gelten. Im Kontext betriebsbedingter Kündigungen und der Sozialauswahl spielt er eine zentrale Rolle, da er die rechtliche Basis für die Überprüfung der Kündigungsgründe bietet.
- § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG – Vermutungswirkung des Interessenausgleichs mit Namensliste: Erklärt, dass eine Kündigung, die auf einem Interessenausgleich mit Namensliste beruht, gesetzlich vermutet wird, sozial gerechtfertigt zu sein. Dieser Aspekt ist entscheidend für die Bewertung der Rechtmäßigkeit einer betriebsbedingten Kündigung.
- AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) – Diskriminierungsverbote: Schützt vor Benachteiligungen aufgrund bestimmter Merkmale, wie Behinderung. Die Anwendung dieses Gesetzes im Kontext von Kündigungen, insbesondere bei der Berücksichtigung schwerbehinderter Menschen, ist von hoher Bedeutung.
- § 95 SGB IX – Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung: Regelung zur Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung bei Kündigungen schwerbehinderter Mitarbeiter. Dieser Paragraph unterstreicht die Wichtigkeit der frühzeitigen Einbindung der Schwerbehindertenvertretung in Kündigungsprozesse.
- § 84 SGB IX – Präventionspflicht: Fordert den Arbeitgeber auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die Kündigung schwerbehinderter Mitarbeiter zu vermeiden. Die Präventionspflicht ist insbesondere relevant, wenn es um die Diskussion geht, ob die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers als letztes Mittel erfolgt ist.
- § 17 KSchG – Massenentlassungsanzeige: Schreibt vor, dass der Arbeitgeber bei geplanten Massenentlassungen eine Anzeige bei der Agentur für Arbeit einreichen muss. Dies ist insbesondere relevant bei der Beurteilung der Formalien, die bei der Durchführung von Betriebsänderungen und damit verbundenen Kündigungen eingehalten werden müssen.
Das vorliegende Urteil
Hessisches Landesarbeitsgericht – Az.: 2 Sa 661/14 – Urteil vom 25.02.2015
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 1. April 2014 – Aktenzeichen 6 Ca 173/13 – wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten der Berufung zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten im Berufungsrechtszug weiter über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbedingten Kündigung auf Grundlage eines Interessenausgleichs mit Namensliste und einen Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung.
Die Beklagte ist ein Unternehmen des Druckgewerbes, das Anfang 2013 insgesamt 97 Arbeitnehmer beschäftigte, von denen 16 Arbeitnehmer anerkannt als schwerbehinderte Menschen oder schwerbehinderten Menschen gleichgestellt waren (= 16,49 %). Ein Betriebsrat ist gebildet.
Der XX-jährige (geboren am XX.XX.1967), verheiratete Kläger, Vater von drei Kindern, von denen eines anerkannt schwerbehindert ist mit einem Grad von 100, wurde bei der Beklagten ab dem 3. Juli 2000 aufgrund schriftlichen Arbeitsvertrages vom 13. Juni 2002 (Bl. 299 – 302) als Buchbinderei-Hilfskraft beschäftigt. Der Kläger ist gelernter Elektromechaniker.
Die Beklagte und der bei ihr gebildete Betriebsrat nahmen im Dezember 2012 Verhandlungen über eine geplante Betriebsänderung zur Optimierung der betrieblichen Bearbeitungsabläufe und eine Anpassung der Bearbeitungskapazitäten auf, die auch Personalanpassungen vorsah. Unter dem Datum des 25. Februar 2013 schlossen die Betriebsparteien einen Interessenausgleich und Sozialplan mit einer als Anlage 2 beigefügten Auswahlrichtlinie und einer als Anlage 3 beigefügten Namensliste ab, hinsichtlich deren nähere Einzelheiten auf Bl. 27 – 46 d. A. verwiesen wird. Danach entfielen bei der Beklagten letztlich 28 Arbeitsplätze ersatzlos, wobei 12 der gemäß Interessenausgleich vom 25. Februar 2013 in diesem Zusammenhang auszusprechenden Kündigungen als schwerbehindert anerkannte oder diesen gleichgestellte Menschen betrafen, darunter den in der als Anlage 3 dem Interessenausgleich vom 25. Februar 2013 beigefügten Namensliste genannten Kläger.
Auf Antrag der Beklagten vom 5. März 2013 erteilte das Integrationsamt mit nicht bestandskräftigem Bescheid vom 2. April 2013 – Zeichen xxx23 (Bl. 54 – 57 d. A.) – die Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung des Klägers. Zuvor hatte die Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen bei der Beklagten A mit Schreiben vom 17. März 2013 (Bl. 95 d. A.) gegenüber dem Integrationsamt erklärt, die Schwerbehindertenvertretung sei erstmals am 15. Februar 2013 über von der Beklagten beabsichtigte betriebsbedingte Kündigungen gegenüber schwerbehinderten Arbeitnehmern informiert worden.
Mit Schreiben vom 15. April 2013 (Bl. 8 d. A.) kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger ordentlich betriebsbedingt zum 30. September 2013, hilfsweise zum nächstmöglichen Zeitpunkt.
Der Kläger wurde mit Bescheid des Versorgungsamtes Fulda vom 7. Juni 2013 anerkannt als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad von 50.
Mit der bereits am 23. April 2013 bei dem Arbeitsgericht Offenbach am Main eingegangenen und der Beklagten am 2. Mai 2013 (Bl. 10 d. A.) zugestellten Klage hat sich der Kläger gegen die Wirksamkeit der ordentlichen betriebsbedingten Kündigung der Beklagten vom 15. April 2013 gewandt und seine Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits verlangt.
Wegen des weiteren unstreitigen Sachverhalts, des Vortrags der Parteien im ersten Rechtszug und der dort gestellten Anträge wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 1. April 2014 – 6 Ca 173/13 (Bl. 185 – 189 d. A.) – Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht Offenbach am Main hat durch vorgenanntes Urteil (Bl. 156 – 161 d. A.) die Klage nach Beweisaufnahme insgesamt abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Arbeitsverhältnis der Parteien sei durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 15. April 2013 rechtswirksam beendet worden. Die Vernehmung des Betriebsratsvorsitzenden B habe ergeben, dass der Betriebsrat vor Kündigungsausspruch mit Schreiben der Beklagten vom 25. Februar 2013 und 5. April 2013 über den kündigungsrelevanten Sachverhalt und die Person des Klägers ordnungsgemäß informiert und zur beabsichtigten Kündigung des Klägers angehört worden sei. Weiterhin habe die Vernehmung der Zeuginnen C und D ergeben, dass die Kündigung nicht gegen § 17 KSchG verstoße. Die erforderliche Massenentlassungsanzeige, deren Eingang die Agentur für Arbeit mit Schreiben vom 27. Februar 2013 bestätigt habe, sei ordnungsgemäß erstattet worden. Zuvor sei der Betriebsrat im Rahmen des Interessenausgleichs ordnungsgemäß iSd. § 17 Abs. 2 KSchG beteiligt worden, wie es sich aus Ziffer 6 Buchstabe d) des Interessenausgleichs und Sozialplans vom 25. Februar 2013 ergebe. Eine Kopie des vollständigen Interessenausgleichs und Sozialplans vom 25. Februar 2013 sei der Massenentlassungsanzeige beigefügt gewesen. Zudem verstoße die Kündigung weder gegen Vorschriften des AGG noch gegen §§ 242, 138, 134 BGB iVm. § 81 Abs. 2 Satz 1 SGB IX, 75 Abs. 1 BetrVG. Es liege keine zur Unwirksamkeit der Kündigung führende Benachteiligung von schwerbehinderten Menschen vor. Die verhältnismäßig stärkere Betroffenheit von schwerbehinderten Menschen folge allein aus der Anwendung der von den Betriebsparteien aufgestellten Gewichtung der Sozialkriterien. Anhaltspunkte dafür, dass gezielt Menschen mit Behinderungen benachteiligt werden sollten, habe der Kläger weder vorgetragen, noch seien solche ersichtlich. Dies gelte auch besonders vor dem Hintergrund, dass auch nach Umsetzung des Interessenausgleichs und Ausspruchs der darin vorgesehenen Kündigungen die Beklagte ihre Verpflichtungen aus § 71 SGB IX erfülle. Darüber hinaus sei die Kündigung der Beklagten vom 15. April 2013 sozial gerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG. Dies sei gemäß § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG jedenfalls zu vermuten, da die Kündigung auf einer Betriebsänderung iSd. § 111 Satz 1 BetrVG beruhe und ihr ein nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ordnungsgemäß zustande gekommener Interessenausgleich mit Namensliste zugrunde liege, in der der Kläger namentlich genannt werde. Weder habe der Kläger die Vermutungswirkung des Interessenausgleichs mit Namensliste widerlegen können, noch seien Umstände gegeben, aus denen geschlossen werden könne, die Betriebsparteien hätten schwerbehinderte Menschen benachteiligen wollen. Schließlich könne aufgrund der namentlichen Nennung des Klägers in der Namensliste des Interessenausgleichs die soziale Auswahl nach § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden, was auch für die Bildung auswahlrelevanter Arbeitnehmergruppen gelte. Angesichts dieses Maßstabes bestehe gegen die Definition der Betriebsparteien im Interessenausgleich, welches Anforderungsprofil ein Arbeitnehmer erfüllen müsse, damit er im Rahmen der Sozialauswahl als Facharbeiter einzustufen sei, keine Bedenken. Dieses Anforderungsprofil erfülle der Kläger nicht, weil er insbesondere nach eigener Erklärung Arbeiten an den Schneidemaschinen nicht vorgenommen habe. Auch in Bezug auf die Bestimmung der zu kündigenden Arbeitnehmer auf der Namensliste durch die Betriebsparteien sei keine grobe Fehlerhaftigkeit ersichtlich. Des Weiteren hätten laut der qualifizierten Namensliste vom 31. Januar 2013 mindestens 4 einfache Arbeitnehmer im Bereich der Buchbinderei zu Unrecht aus der Sozialauswahl herausgenommen worden sein müssen, damit der Kläger nicht gekündigt worden wäre. Da der Kläger mit seiner Kündigungsschutzklage unterlegen sei, fehle es an einer Anspruchsgrundlage für die vorläufige Weiterbeschäftigung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger innerhalb der zur Niederschrift über die Berufungsverhandlung am 25. Februar 2015 festgestellten und dort ersichtlichen Fristen Berufung eingelegt (Bl. 297 d. A.).
Der Kläger meint, die mit Schreiben der Beklagten vom 15. April 2013 ausgesprochene Kündigung sei unwirksam und habe das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht zum 30. September 2013 beendet. Daher sei der Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits zu den arbeitsvertraglichen Bedingungen weiter zu beschäftigen. Vor allem liege eine Diskriminierung gegenüber behinderten Menschen vor. Hierfür seien ausreichende Anhaltspunkte gegeben. Es habe bei der Beklagten im Zuge der Umsetzung des Interessenausgleichs mit Namensliste ungewöhnlich viele Kündigungen gegenüber schwerbehinderten und diesen gleichgestellten Arbeitnehmern gegeben, da von den 28 Kündigungen 12 auf schwerbehinderte oder diesen gleichgestellte Menschen entfallen seien. Dies entspreche einem Anteil von 42,86 %. Im Hinblick auf den Anteil der schwerbehinderten Menschen von zuvor 16,49 % an der Zahl der Arbeitnehmer bei der Beklagten insgesamt stelle dies zweifellos ein grobes Missverhältnis dar. Auch sei die Schwerbehindertenvertretung über die Vorgänge erst sehr spät, nämlich am 15. Februar 2013, unterrichtet worden und habe in ihrer Stellungnahme mit Schreiben vom 17. März 2013 angegeben, die hohe Zahl an Kündigungen, die auf schwerbehinderte Menschen entfalle, sei „nicht nachvollziehbar“. Durch dieses lange Zuwarten habe die Beklagte die ihr obliegende Präventionspflicht nach § 84 Abs. 1 SGB IX verletzt. Dass die Beklagte nach Umsetzung der Maßnahme noch die Mindestanzahl an schwerbehinderten Menschen beschäftige, spreche entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichts nicht gegen das Vorliegen einer Diskriminierung. Den unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung nach § 22 AGG ihr obliegenden Vollbeweis, dass die Kündigung nicht auf einer Diskriminierung beruhe, habe die Beklagte hingegen nicht erbracht. Aus dieser Diskriminierung folge auch die Widerlegung der Vermutung nach § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG. Eine Namensliste sei dann unwirksam, wenn eine einzelne Gruppe von Arbeitnehmern, wie etwa die Gruppe der schwerbehinderten Arbeitnehmer herausgenommen und ohne sachlichen Grund benachteiligt werde. Weiter sei der Interessenausgleich mit Namensliste auch deswegen materiell rechtswidrig und somit unwirksam, weil die Beklagte den Personenkreis der vergleichbaren Arbeitnehmer zu eng gezogen habe, indem sie bestimmte Arbeitnehmer als Fachkräfte aus der Vergleichsgruppe herausgenommen habe. Dies stelle eine grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl iSd. § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG dar. Weiterhin sei die Namensliste auch deshalb unwirksam, da sie augenscheinlich gar nicht das Ergebnis der festgelegten Sozialkriterien sei. So habe der Betriebsvorsitzende B anlässlich seiner Vernehmung bekundet, es habe ein „zähes Ringen“ um die Personalliste gegeben. Weiter habe er angegeben, die qualifizierte Namensliste (zumindest eine „Liste mit diesen Informationen“) habe ihm bereits Anfang Dezember vorgelegen. Offensichtlich hätten bei der Erstellung der Namensliste noch weitergehende Erwägungen der Betriebsparteien eine Rolle gespielt, die schließlich zur Benachteiligung schwerbehinderter Arbeitnehmer geführt hätten. Schließlich überwiege das Interesse des Klägers an der Weiterbeschäftigung das Interesse der Beklagten an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Die Kündigung der Beklagten entziehe dem Kläger die wirtschaftliche Grundlage. Ohnehin sei der Arbeitsplatz des Klägers auch nicht weggefallen, denn die Beklagte habe inzwischen neue Arbeitnehmer eingestellt und beschäftige Leiharbeitnehmer.
Der Kläger beantragt, das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 1. April 2014 – 6 Ca 173/13 – abzuändern und
1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung der Beklagten vom 15. April 2013 aufgelöst worden ist;
2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu den arbeitsvertraglichen Bedingungen als Arbeiter in der Buchbinderei weiter zu beschäftigen.
Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil unter Wiederholung ihres Vorbringens und Vertiefung ihrer Argumentation. Insbesondere verweist sie noch einmal darauf, dass sich die verhältnismäßig stärkere Betroffenheit von schwerbehinderten Menschen und diesen gleichgestellte Personen lediglich in Konsequenz der Anwendung des von den Betriebsparteien in Anlehnung an eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 15. Dezember 2011 – 2 AZR 42/10) beschlossenen Punkteschemas ergeben haben. Andere Anhaltspunkte habe es ersichtlich nicht gegeben. Sie behauptet, die Wahl der Schwerbehindertenvertretung habe erstmals bei der Beklagten am 11. Januar 2013 stattgefunden.
Wegen des weiteren Parteivorbringens im Berufungsrechtszug wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen vom 10. Juli 2014 (Bl. 227 – 197 d. A.), 2. Oktober 2014 (Bl. 252 – 260 d. A.), 12. Januar 2015 (Bl. 275 – 281 d. A.) und 10. Februar 2015 (Bl. 291 – 295 d. A.) sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2015 (Bl. 297 d. A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
I.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 1. April 2014 – 6 Ca 173/13 – ist gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 2 lit. b und c ArbGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden, §§ 66 Abs. 1 ArbGG; 519, 520 Abs. 1, 3 und 5 ZPO.
II.
In der Sache hat die Berufung keinen Erfolg, denn sie ist unbegründet. Das Arbeitsgericht Offenbach am Main hat die Klage gegen die Kündigung der Beklagten vom 15. April 2013 und auf vorläufige Weiterbeschäftigung mit zutreffender Begründung zu Recht abgewiesen. Die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 15. April 2013 ist unter keinem erkennbaren Gesichtspunkt unwirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 30. September 2013 beendet. Damit fehlt dem Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung die Grundlage. Das Berufungsgericht folgt dem angefochtenen Urteil uneingeschränkt, macht sich dessen Gründe zu Eigen und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf diese (Seiten 6 bis 14 des angefochtenen Urteils, Bl. 189 bis 197 d. A.), § 69 Abs. 2 ArbGG. Lediglich ergänzend führt das Berufungsgericht auf das Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz aus:
1. Die Kündigung der Beklagten vom 15. April 2013 ist nicht sozial ungerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 1 KSchG. Sie ist durch dringende betriebliche Erfordernisse iSd. § 1 Abs. 2 KSchG bedingt. Infolge namentlicher Bezeichnung des Klägers in einem formell ordnungsgemäß zustande gekommenen und aufgrund der Kündigung zugrunde liegender Betriebsänderung abgeschlossenen Interessenausgleich mit Namensliste wird dies gesetzlich vermutet, § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG. Diese Vermutung hat der Kläger nicht widerlegt, was das Arbeitsgericht zutreffend festgestellt hat. Hiergegen hat sich der Kläger in der Berufung auch nicht mehr gewandt. Diese Vermutung des § 1 Abs. 5 Satz 1 KSchG gilt auch bei einer Betriebsänderung durch bloßen Personalabbau iSd. §§ 111 Satz 2 Nr. 1 BetrVG, 17 Abs. 1 KSchG (BAG, Urteile vom 24. Oktober 2013 – 6 AZR 854/11 – und vom 19. Juli 2013 – 2 AZR 386/11, beide zitiert nach Juris).
Dem steht kein Verstoß gegen das Verbot der Benachteiligung behinderter Menschen des § 2 Abs. 1 Nr. 2 iVm. §§ 1, 7 AGG entgegen. Zwar kann ein Verstoß gegen Diskriminierungsverbote des AGG (§§ 1 – 10 AGG) zur Sozialwidrigkeit der Kündigung nach § 1 KSchG führen, denn § 2 Abs. 4 AGG schließt dies nicht aus (Grundlegend hierzu: BAG, Urteil vom 6. November 2008 – 2 AZR 523/07 – Rn. 28, zitiert nach Juris). Auch ist dem Kläger zuzugeben, dass von Kündigungen aufgrund des Interessenausgleichs mit Namensliste überproportional mehr Arbeitnehmer betroffen sind, die als schwerbehinderte Menschen anerkannt oder diesen gleichgestellt sind. Der Kläger hat jedoch keine Indizien dargetan und bewiesen, die iSd. § 22 AGG eine Benachteiligung wegen des in § 1 AGG genannten Merkmals Behinderung vermuten lassen. Soweit es allein die zahlenmäßig weit größere Betroffenheit schwerbehinderter oder diesen gleichgestellten Arbeitnehmern anbelangt, hat die Beklagte behauptet, diese beruhe allein und ausschließlich auf der Anwendung des von den Betriebsparteien in Anlehnung an die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 15. Dezember 2011 – 2 AZR 42/10 – beschlossenen Punkteschemas. Der Kläger hat entgegen § 138 Abs. 2 ZPO substantiiert hierauf nicht erwidert. Ergibt sich die Zahl der von einer Kündigung betroffenen schwerbehinderten oder diesen gleichgestellten Arbeitnehmern damit allein aufgrund Vollzugs des von den Betriebsparteien beschlossenen Punkteschemas, gegen das durchgreifende rechtliche Bedenken nicht bestehen (vgl. BAG, Urteil vom 15. Dezember 2011 – 2 AZR 42/10 – Rn. 46 ff., zitiert nach Juris), lässt dies entgegen der Ansicht des Klägers nicht die Benachteiligung von Arbeitnehmern wegen ihrer Behinderung vermuten. Ob im Fall anschließender Nichterfüllung der Verpflichtung zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nach § 71 SGB IX anders zu entscheiden wäre, muss an dieser Stelle nicht entschieden werden. Das Arbeitsgericht hat zutreffend festgestellt, dass die Beklagte ihre dahingehende Verpflichtung auch nach Umsetzung der betriebsändernden Maßnahme erfüllt. Die Beklagte hat auch nicht, wie der Kläger meint, die Schwerbehindertenvertretung erst sehr spät unterrichtet. Hierzu hat die Beklagte zunächst in der Berufungsverhandlung behauptet, die Wahl der Schwerbehindertenvertretung habe bei der Beklagten erstmals am 11. Januar 2013 stattgefunden. Der Kläger hat diese Behauptung nicht nach § 138 Abs. 4 ZPO mit Nichtwissen bestreiten können. Er hat nicht dargetan und es ist für das Berufungsgericht nicht ersichtlich, warum die behauptete Wahl der Schwerbehindertenvertretung bei der Beklagten nach § 94 SGB IX im Januar 2013 nicht Gegenstand seiner eigenen Wahrnehmung gewesen sein konnte. Prozessual gilt diese Behauptung insoweit als zugestanden, § 138 Abs. 3 ZPO. Hinzu kommt, dass für den Arbeitgeber nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX die Verpflichtung besteht, die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Das heißt, die Regelung unterscheidet zwischen Angelegenheiten, die die „spezifischen Belange“ der schwerbehinderten Menschen betreffen, und solchen Angelegenheiten, die alle Arbeitnehmer gleichermaßen betreffen. Bei der Beklagten stand eine größere Personalabbaumaßnahme an, von der alle Arbeitnehmer betroffen waren. Es ging (zunächst) gerade nicht um „spezifische Belange“ der schwerbehinderten oder diesen gleichgestellten Arbeitnehmer, sondern um Verhandlungen zwischen der beklagten Arbeitgeberin und dem bei ihr gebildeten Betriebsrat zum Abschluss eines nach § 111 BetrVG erforderlichen Interessenausgleichs. Dieser Abschluss erfolgte – unstreitig – am 25. Februar 2013. Sogar noch zuvor und damit keinesfalls spät, nämlich mit Schreiben vom 15. Februar 2013, informierte die Beklagte die bei ihr gebildete Schwerbehindertenvertretung über beabsichtigte betriebsbedingte Kündigungen schwerbehinderter Menschen. Schließlich folgt daraus weiter, dass die Beklagte entgegen der Ansicht des Klägers damit auch nicht die ihr nach § 84 Abs. 1 SGB IX obliegende Präventionspflicht verletzt hat. Es ging, wie ausgeführt, nicht um „spezifische Belange“ der schwerbehinderten Arbeitnehmer, sondern zunächst um eine gleichermaßen alle Arbeitnehmer betreffende Personalabbaumaßnahme. Nach alledem fehlen im Streitfall Indizien iSd. § 22 AGG, die für die Annahme einer gezielten und nicht zu rechtfertigenden Benachteiligung behinderter Arbeitnehmer nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 iVm. §§ 1, 7 AGG sprechen könnten.
2. Die Kündigung ist auch nicht wegen fehlerhafter Sozialauswahl gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG sozial ungerechtfertigt. Insbesondere hat die Beklagte entgegen der Ansicht des Klägers nicht bereits den Personenkreis der vergleichbaren Arbeitnehmer zu eng gezogen, in dem die Betriebsparteien in 3. f) der „Auswahlrichtlinie als Anlage 2 und Bestandteil zum Interessenausgleich vom 25.02.2013“ (Bl. 40 und 41 d. A.) festgelegt haben, dass unter anderem gelernte Buchbinder als Facharbeiter nicht vergleichbar sind mit den in diesem Bereich eingesetzten Arbeitern (= Hilfskräften). Infolge namentlicher Nennung des Klägers in dem Interessenausgleich mit Namensliste vom 25. Februar 2013 wird die soziale Auswahl nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft, § 1 Abs. 5 Satz 2 KSchG. Grobe Fehlerhaftigkeit der sozialen Auswahl liegt erst dann vor, wenn ein evidenter, ins Auge springender schwerer Fehler vorliegt und der Interessenausgleich jede Ausgewogenheit vermissen lässt (BAG, Urteil vom 10. Juni 2010 – 2 AZR 420/09, zitiert nach Juris), wobei nicht auf das Auswahlverfahren, sondern auf das Ergebnis im Hinblick auf den klagenden Arbeitnehmer abzustellen ist (BAG, Urteil vom 19. Juli 2012 – 2 AZR 386/11, zitiert nach Juris). Der Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit gilt hierbei nicht nur für die Auswahlkriterien und deren relative Gewichtung, sondern auch für die Bildung der auswahlrelevanten Gruppen (BAG, Urteil vom 19. Juli 2012 – 2 AZR 386/11, zitiert nach Juris). Solange gut nachvollziehbare und ersichtlich nicht auf Missbrauch zielende Überlegungen für die – etwa sogar fehlerhaft – getroffene Eingrenzung des auswahlrelevanten Personenkreises sprechen, ist die Grenze der groben Fehlerhaftigkeit nicht überschritten (BAG, Urteil vom 3. April 2008 – 2 AZR 879/06, zitiert nach Juris). Von daher ist es im Streitfalle nicht grob fehlerhaft, sondern im Gegenteil sachlich gut nachvollziehbar, die gelernten Buchbinder als Facharbeiter mit den in diesem Bereich eingesetzten Hilfskräften wie den Kläger als nicht vergleichbar anzusehen. Viel eher dürfte grobe Fehlerhaftigkeit anzunehmen sein, wenn dies vorliegend so nicht erfolgt wäre. Von daher kann es dahinstehen, ob der Kläger, wie von ihm behauptet, tatsächlich alle in der Buchbinderei anfallenden Arbeiten erledigen kann. Selbst wenn dies so wäre, bliebe es aufgrund der – rechtlich nicht zu beanstandenden – Festlegung der Betriebsparteien bei seiner fehlenden Vergleichbarkeit mit den gelernten Buchbindern als Facharbeitern. Ob gegenüber dem Kläger bei Annahme einer Vergleichbarkeit von Facharbeitern und Hilfskräften eine Kündigung hätte überhaupt unterbleiben müssen, bedarf demzufolge keiner Erörterung. Andere Aspekte für eine anzunehmende grobe Fehlerhaftigkeit der Sozialauswahl hat der insoweit darlegungs- und beweisbelastete Kläger nicht angeführt.
3. Dass die dem Interessenausgleich beigefügte Namensliste nicht das Ergebnis der festgelegten Sozialkriterien sei, vermag die Berufungskammer entgegen der Auffassung des Klägers nicht nachzuvollziehen. Konkret hat der Kläger hierzu nicht vorgetragen. Er meint, aus der Äußerung des Betriebsratsvorsitzenden B anlässlich seiner Vernehmung vor dem Arbeitsgericht, es habe um die Personalliste ein „zähes Ringen“ gegeben, darauf schließen zu können. Daran zeige sich für den Kläger, dass es erst ein Ringen um die Personalliste und anschließend eine nachträgliche Anpassung des Punkteschemas gegeben haben müsse. Das Gericht teilt diese Einschätzung des Klägers nicht. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte für ein willkürliches Vorgehen der Betriebsparteien. Vielmehr darf, so die Meinung des Berufungsgerichts, von einem verantwortungsbewussten Betriebsrat erwartet werden, dass er angesichts der weitreichenden kündigungsrechtlichen Folgen um eine Namensliste als Anlage zum Interessenausgleich mit dem Arbeitgeber „ringt“.
4. Die Berufungskammer verkennt weiterhin nicht, dass der Kläger angesichts seines Lebensalters, seiner Schwerbehinderung und seiner familiären Situation von der betriebsbedingten Kündigung der Beklagten sehr, sehr hart getroffen wird. Aber auch eine einzelfallbezogene Interessenabwägung führt nicht zur Unwirksamkeit der betriebsbedingten Kündigung der Beklagten vom 15. April 2013. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG, Urteil vom 16. Juni 2005 – 6 AZR 476/04, zitiert nach Juris) kann sich eine einzelfallbezogene Interessenabwägung bei betriebsbedingten Kündigungsgründen, wenn überhaupt, allenfalls in seltenen Ausnahmefällen zu Gunsten des Arbeitnehmers auswirken. Soweit die Rechtsprechung beim Vorliegen betriebsbedingter Kündigungsgründe und durchgeführter Sozialauswahl die Möglichkeit einer Interessenabwägung nicht völlig ausgeschlossen hat, muss hier nicht abschließend entschieden werden, ob daran festzuhalten ist. Jedenfalls sind die aufgestellten Voraussetzungen für eine derartige “Härtefallregelung” so hoch anzusetzen, dass kaum mehr Raum für eine praktische Anwendung einer solchen Interessenabwägung bleibt (BAG, Urteil vom 20. Januar 2005 – 2 AZR 500/03 – zu II 3 d aa der Gründe, zitiert nach Juris). Auch im Streitfall verbietet sich trotz der dargestellten evidenten Nachteile für den Kläger die Annahme eines „Härtefalls“, da der Vorteil in Zusammenhang mit der Kündigung des Klägers für die Beklagte im Hinblick auf die im Interessenausgleich vom 25. Februar 2013 beschriebene betriebsändernde Maßnahme und deren Anlass demgegenüber jedenfalls nicht gering erscheint.
5. Schließlich kann es dahinstehen, ob die Beklagte, wie der Kläger zuletzt behauptet hat, mittlerweile neu eingestellte Arbeitnehmer und Leiharbeitnehmer beschäftigt. Maßgeblich zur Beurteilung der Wirksamkeit der betriebsbedingten Kündigung der Beklagten vom 15. April 2013 ist allein der Zeitpunkt ihres Ausspruchs (vgl. bspw. BAG, Urteil vom 31. Juli 2014 – 2 AZR 422/13 – Rn. 31, zitiert nach Juris). Im Hinblick auf den danach maßgeblichen Zeitraum hat der Kläger aber nichts Dahingehendes behauptet.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO, da die Berufung des Klägers erfolglos bleibt.
Für die Zulassung der Revision ist kein Grund § 72 Abs. 2 ArbGG ersichtlich; insbesondere sind die maßgeblichen Rechtsfragen geklärt.